Deutsche Wohnen & Co enteignen: Radikales Ziel, realistischer Weg

Am 26. September wird in Berlin über die Vergesellschaftung von 240.000 Wohnungen abgestimmt. Wie wurde ein linkes Thema zur Massenkampagne?

Männliche und weibliche CheerleaderInnen tanzen vor dem Bundestag

So niedlich kann Enteignung aussehen: die Cheerleading-Gruppe der Kampagne Foto: Christian Mang

An einem trüben, regnerischen Nachmittag wenige Tage vor der Wahl stehen Kasper, Josi und Jonas vor dem „Langen Jammer“, einem 340 Meter langgezogenen Wohngebäude in der Ringsiedlung Siemensstadt in Berlin-Spandau. Die drei haben sich lilafarbene Westen übergestreift, auf Brust und Rücken ist der Aufdruck Deutsche Wohnen & Co enteignen zu lesen. Sie sind durch die halbe Stadt gefahren, um hier ganz im Nordwesten bei Haustürgesprächen für den Volksentscheid zu werben, der Berlin verändern und dessen Strahlkraft weit über die Stadt hinaus reichen soll.

Jonas Becker, ein 29-jähriger Volkswirt, der sich seit einem Jahr engagiert, hat stapelweise Flyer und Türanhänger mitgebracht und eine Karte, auf der all die Häuser markiert werden, die von den Ak­ti­vis­t*in­nen besucht werden. Mit 3.600 Wohnungen ist die Siemensstadt, die vor knapp einhundert Jahren im Stile der Moderne für die Ar­bei­te­r*in­nen der Siemenswerke errichtet wurde, die größte Siedlung der Deutschen Wohnen – des größten privaten Players auf Berlins Wohnungsmarkt.

Becker verteilt die Materialien und teilt die Gruppe auf, um sich das Haus von zwei Seiten vorzunehmen. Er selbst, der täglich für die Kampagne arbeitet, zieht alleine los. Spaß sei dabei nicht mehr sein erster Antrieb – „mittlerweile muss es sein“. Die Gespräche sind für Becker „demokratische Aufklärungsarbeit“, viele Wäh­le­r*in­nen wüssten noch immer nicht, dass sie am 26. September die Wahl haben zwischen „Ja“ und „Nein“, dass sie abstimmen können über die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Konzerne mit mehr als 3.000 Objekten in der Stadt – insgesamt etwa 240.000 Wohnungen von einem Dutzend Unternehmen. Dabei allerdings steht kein konkretes Gesetz zur Abstimmung, sondern ein Appell an den Senat, selbst ein Vergesellschaftungsgesetz auf den Weg zu bringen.

Dass es zu dem Volksentscheid kommt, geht auf die Arbeit von mehr als 2.000 Aktiven in 16 Kiezteams zurück, die im Frühjahr zu Pandemiezeiten über 350.000 Unterschriften gesammelt haben, mehr als doppelt so viele, wie benötigt wurden. Zugleich ist das die Unterstützung von mehr Menschen, als die SPD bei ihrem Wahlsieg in Berlin 2016 an Wäh­le­r*in­nen hatte. Dabei grenzt das Vorhaben an eine Revolution: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik soll der Grundgesetzartikel 15 zur Anwendung kommen, der die Vergesellschaftung von „Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln“ gegen Entschädigung regelt, auf dessen Grundlage also ganze Wirtschaftsbereiche in Gemeineigentum überführt werden können.

Ein Gesicht der Kampagne

Im Kampagnenbüro auf dem Dragonerareal in Kreuzberg, einem ehemaligen Kasernengelände, sitzt Rouzbeh Taheri zwischen Bergen von gelben Werbemitteln. Der 47-Jährige ist seit den ersten Überlegungen zu einem Enteignungsvolksbegehren vor vier Jahren eines der Gesichter der Kampagne. In diesen Wochen arbeitet er in Vollzeit auf einer aus Spenden finanzierten halben Stelle.

Er koordiniert, beantwortet Fragen am Telefon und in 18 Telegram-Gruppen, bestellt Materialien, macht Pressearbeit, nimmt an sechs Sitzungen pro Woche und mindestens einer öffentlichen Veranstaltung teil. Taheri weiß, wie Wahlkampf funktioniert. 2006 leitete er die Kampagne der Wahlalternative (WASG), die in Berlin trotz bundesweiter Kooperation gegen die damalige PDS antrat. Diese hatte zuvor in der rot-roten Regierung 65.000 Wohnungen verkauft, die später an die Deutsche Wohnen übergingen.

Taheri ist erschöpft, sehnt sich nach dem Wahlabend. Einerseits. Andererseits lodert es in ihm: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die großen Konzerne angegriffen werden und ihnen ihre wirtschaftliche Machtgrundlage genommen wird.“ Er sieht die Bedeutung weit über Berlin hinaus: „Wenn wir Erfolg haben, wird das weltweit Nachahmer finden.“ In Betracht kämen „alle Bereiche der öffentliche Daseinsvorsorge, alle Quellen, die Menschen brauchen, um würdig leben zu können“.

Wie aber konnte es so weit kommen? Wie wurde aus einer Idee, die in kleinen Zirkeln von Mieterinitiativen und linken Gruppen kursierte, die erfolgreichste Massenkampagne, die Berlin je gesehen hat? Taheri hat schon häufiger darüber nachgedacht und muss dennoch wieder ein paar Momente überlegen: „Unser Ziel ist radikal, aber unser Weg ist realistisch.“

Richtige Zeit, richtige Stadt

Mit einem Volksentscheid blieben sie streng auf dem legalistischen Weg; versetzen dem System einen Schlag mit seinen eigenen Mitteln. Taheri sagt: „Die objektive Grundlage war die Existenz einer starken Mieterbewegung und das schlechte Image der Deutschen Wohnen.“ Dazu kam der subjektive Faktor, „ein paar Leute, die gesagt haben, wir machen das jetzt, und das auch durchgezogen haben“. Für die Kampagne sei es „die richtige Zeit und die richtige Stadt“ gewesen.

Bei Jonas Becker in der Siemensstadt geht die erste Wohnungstür auf und nach einem knappen „Interessiert mich nicht“ gleich wieder zu. Becker aber lässt sich nicht entmutigen, geduldig und freundlich arbeitet er sich durch die teils renovierungsbedürftigen Treppenhäuser. Sobald eine Tür aufgeht, sagt er: „Hallo, ich bin Jonas und mache Wahlkampf für Deutsche Wohnen enteignen.“

Eine Frau mittleren Alters schaut erst skeptisch, dann greift sie nach dem Flyer: „Ick nehm dit erst mal.“ Becker fragt sie nach ihrer Wohnsituation: „Ganz okay“, antwortet sie, die Deutsche Wohnen habe alle bestehenden Strukturen mit Hausmeistern und Technikern übernommen; auch die Mieterhöhungen seien nicht dramatisch. Aber grundsätzlich seien die steigenden Mieten schon ein Problem. Dann sagt sie: „Aber Enteignungen kosten ja och.“ Becker entgegnet: „Wir kaufen ja nicht, wir enteignen. Und die Entschädigung zahlen wir aus den Mieteinnahmen.“

Jetzt ist seine anfangs skeptische Gesprächspartnerin dabei, erzählt, dass sie den Wahl-O-Mat gemacht habe mit dem Ergebnis: „Ick bin ja ne Linke, war janz überrascht.“ Zum Abschied wünscht sie viel Glück. Auch an den Nachbartüren darf Becker sich und die Kampagne vorstellen. In den kurzen Momenten wird dann aus einer für viele abstrakten Frage etwas Greifbares. Ein sympathisches Gespräch, eine Bitte um ein Ja – und ein Infoflyer obendrauf.

Knappe, aber stabile Mehrheit

Zwei aktuelle Umfragen aus dem August und aus dieser Woche sehen eine knappe, aber stabile Mehrheit für die Initiative, die auf Zustimmungswerte von 47 bis 50 Prozent kommt, während 43 Prozent das Vorhaben ablehnen. Taheri sagt: „Ich bin nicht mehr besorgt, dass wir haushoch verlieren.“ Er erzählt, wie erst in Gesprächen mit Menschen von außerhalb der Stadt auffällt, wie sehr sich „die Diskussion in Berlin bereits verschoben“ habe. Hier müsse selbst der CDU-Spitzenkandidat für eine schärfere Mietpreisbremse und Maßnahmen gegen Bodenspekulation plädieren.

Den Geg­ne­r*in­nen ist es nicht gelungen, eine schlagkräftige Strategie gegen das Volksbegehren zu entwickeln. „Erst haben sie uns ignoriert, dann unterschätzt, nun sind sie immer einen Schritt hinter uns“, sagt Taheri über die Immobilienlobby und deren Verbündete in der Politik. Zu schaffen macht der Kampagne jedoch ein absurder Vorwurf: Mit Unterstützung der CDU warnen Genossenschaften ihre Mieter*innen, dass auch sie von der Vergesellschaftung betroffen sein können.

Streitpunkt Entschädigungshöhe

Dabei kann ein Vergesellschaftungsgesetz nichtprofitorientierte Unternehmen ausnehmen – was die Initiative auch stets betont. Der zweite große Streitpunkt ist die Entschädigungshöhe. Die Geg­ne­r*in­nen versuchen zu vermitteln, dass das Vorhaben mehr als 30 Milliarden Euro koste – mehr, als Berlins Jahreshaushalt umfasst – und damit kein Geld mehr für anderes da wäre. Doch sicher ist nur: Die Entschädigungshöhe muss die Interessen der enteigneten Unternehmen sowie der Allgemeinheit berücksichtigen und wird damit in jedem Fall deutlich unter dem Marktwert liegen.

Die aufzunehmenden Schulden für die Entschädigung will die Initiative langfristig aus den Mieteinnahmen tilgen – genauso wird auch der Rückkauf von 15.000 Wohnungen durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften von Vonovia und der Deutschen Wohnen gestemmt, den Berlin in diesen Tagen abwickelt.

„Langen Atem haben“

Politisch unterstützt wird die Initiative nur von der Linken. Die Grünen wollen einen erfolgreichen Entscheid als Druckmittel für Gespräche mit den Immobilienfirmen nutzen; SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey schießt bei jeder Gelegenheit dagegen. Für Koalitionsverhandlungen erklärte sie Enteignungen gar zur „roten Linie“, inzwischen wolle sie den Auftrag, ein Gesetz zu erlassen, aber zumindest juristisch überprüfen lassen.

Viel spricht dafür, dass sie hofft, das Vorhaben in einer konservativen Koalition abräumen zu können. Taheri sagt, eine Regierung aus SPD, CDU und FDP würde „fünf Jahre lang die Hölle auf Erden erleben“. Die Initiativen der Stadt würden sich nicht mehr zurückziehen. In der Kampagne werden bereits die Möglichkeiten diskutiert, sollte der nächste Senat das Gesetz nicht auf den Weg bringen: ein neuer Volksentscheid, diesmal mit einem eigenen Gesetzentwurf, oder gar ein Abwahlvolksentscheid gegen die kommende Regierung. Taheri lehnt sich zurück und sagt: „Wir müssen einen langen Atem haben.“

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