Enteignungsvolksentscheid in Berlin: Eine Million gegen Deutsche Wohnen

Die Ber­li­ne­r:in­nen haben dafür gestimmt, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen. Doch setzt SPD-Wahlsiegerin Giffey die Forderung auch um?

Unterstützerinnen der Initiative Deutsche Wohnen enteignen feiern am Wahlabend

Jubel am Wahlabend: Mit dem überwältigenden Erfolg hat kaum jemand gerechnet Foto: Monika Skolimowska/dpa

Berlin taz | Hunderte Ak­ti­vis­t:in­nen ziehen in kleineren Gruppen feiernd durch Neukölln. „Deutsche Wohnen enteignen“ singen sie und schwenken die riesigen lila-gelben Fahnen der Bewegung. „Es ist einfach unglaublich“, sagt einer, der seit 2018 in der Initiative aktiv ist, die eine Vergesellschaftung von Wohneigentum aufrief. Er könne noch gar nicht fassen, dass das Volksbegehren tatsächlich erfolgreich war. Für ihn und viele andere ist heute der Zahltag für die nervenaufreibende und zeitintensive aktivistische Arbeit der vergangenen dreieinhalb Jahre.

Vorbeifahrende Autos hupen, als würde hier eine Hochzeitskolonne vorbeiziehen. Spä­ti­be­sit­ze­r:in­nen und Menschen an Imbissen jubeln den Ak­ti­vis­t:in­nen zu. „Scheiß auf die Deutsche Wohnen!“, ruft eine Gruppe Jugendlicher, die Ak­ti­vis­t:in­nen applaudieren. Die Stimmung ist aufgeladen mit revolutionärer Energie: Erstmals scheint das große Ziel, einen beachtlichen Teil des Berliner Wohnraums ein für alle Mal dem Markt zu entziehen, zum Greifen nahe.

Das Ergebnis des Volksentscheids kommt einem Erdrutsch gleich. Gingen Umfragen im Vorfeld nur von einem knappen Vorsprung aus, ist der Sieg jetzt ein großer. 56,4 Prozent der Wäh­le­r*in­nen haben für die Enteignung gestimmt, 39,0 Prozent dagegen. In zehn von zwölf Bezirken liegt die Initiative vorn, sowohl in der Innenstadt als auch den Außenbezirken.

Nur ganz im Westen, in Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf, hat es knapp nicht gereicht. Dagegen stimmten in Friedrichshain-Kreuzberg, jenem Ost-West-Bezirk, der von den Mietsteigerungen des letzten Jahrzehnts besonders betroffen ist, 72,4 Prozent für die Enteignung. Mit mehr als einer Million Wäh­le­r:in­nen­stim­men vereinigt DW enteignen fast dreimal so viel Stimmen auf sich wie die Wahlsiegerin SPD.

Andrej Holm, Stadtsoziologe

Die Mehrheit der Ber­li­ne­r:in­nen habe erkannt, „dass von der privaten und gewinnorientierten Wohnungswirtschaft keine Lösung für die soziale Wohnversorgung zu erwarten ist“

Der nächste Senat ist durch den Entscheid aufgefordert, alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Vergesellschaftung der Bestände von privaten Wohnungskonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen in der Stadt führen. Weil der Volksentscheid nicht selbst ein Gesetz zur Grundlage hat, soll dieses durch die Regierung erarbeitet werden. Bindend ist das allerdings nicht.

Laut Beschlusstext soll der Wohnraum künftig „von Belegschaft, Mie­te­r:in­nen und Stadtgesellschaft“ demokratisch selbstverwaltet werden. Eine spätere Reprivatisierung soll ausgeschlossen und eine Entschädigung „deutlich unter Verkehrswert“ gezahlt werden.

Am Montagmittag hat die Initiative in ein Geflüchtetencafé in Nord-Neukölln – in diesem Wahlbezirk haben 85 Prozent mit „Ja“ gestimmt – zur Pressekonferenz geladen. Die Namensschilder sind handgeschrieben, anfangs gibt es Technikprobleme, auf die Spre­che­r:in­nen Rouzbeh Taheri und Jenny Stupka sind mehrere Kameras gerichtet; Taheri setzt heiser an, auch für ihn war es eine lange Nacht – „schön, aber anstrengend“, wie er sagt.

Taheri, der schon vor vier Jahren an den ersten Überlegungen für eine Enteignungskampagne beteiligt war, spricht von einem „eindeutigen Auftrag“. Der nächste Senat müsse ein Gesetz zur Vergesellschaftung erarbeiten, es gebe „nichts daran zu deuteln“. Ebenso sei der Entscheid „nicht zu benutzen, um andere Maßnahmen einzuleiten“.

Giffey auf der Bremse

Die Initiative geht damit in die Offensive insbesondere gegen SPD und Grünen. Erstere Partei, zumindest ihre Spitzenkandidatin Franziska Giffey, hatte sich im Wahlkampf explizit gegen die Vergesellschaftung ausgesprochen – am Montag signalisierte sie erneut ihren Willen, den Volksentscheid zu torpedieren. Während einer Pressekonferenz erklärte sie zwar, man müsse „verantwortungsvoll und respektvoll“ mit dem Votum umgehen, sie finde aber, dass der Entscheid einer „sehr, sehr ernsthaften Prüfung“ hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit und Finanzierbarkeit unterzogen werden müsse. „In dieser Abwägung müssen wir am Ende entscheiden“, wie mit dem „Appell“ – wie Giffey den Volksentscheid nannte – umzugehen sei.

Die Grünen hatten vor der Wahl rumgeeiert. Einerseits hatte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch erklärt, sie werde mit „Ja“ stimmen, anderseits hatte sie Enteignungen als „Ultima Ratio“ bezeichnet und stattdessen einen „Mietenschutzschirm“ vorgeschlagen – eine Vereinbarung mit den Unternehmen, Mieten nicht zu stark zu erhöhen.

An dieser Position hat offenbar auch das deutliche Ergebnis nichts geändert. Am Montag erklärte der Landesvorsitzende der Grünen, Werner Graf, er freue sich über den Erfolg, es gebe aber noch „viele rechtliche und praktische Fragen zu klären“. Faktenwidrig sagte er, das Ziel des Volksentscheids sei lediglich ein gemeinwohlorientierter Wohnungsmarkt. Für dieses Ziel habe die Partei bereits ein Konzept entwickelt, auf deren Basis man in Koalitionsverhandlungen treten werde.

Rückendeckung erhält die Kampagne von der Linken. Deren Landesvorsitzende, Katina Schubert, sagte der taz, der Volksentscheid habe dem kommenden Senat „die klare Hausaufgabe auf den Weg gegeben, die Sozialisierung vorzunehmen“. Unter den Wäh­le­r*in­nen müssten auch viele So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen gewesen sein. „Wenn die SPD versucht, die Umsetzung zu torpedieren, werden wir dagegenhalten“, so Schubert. „Wir können und dürfen das Votum von einer Million Ber­li­ne­r:in­nen nicht ignorieren.“

Rechtliches Neuland

Die Initiative kündigte an, Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen eng begleiten zu wollen. Auch einen Gesetzentwurf hat sie mittlerweile erarbeitet. Bei Einleitung des Volksbegehrens hätte das noch ihre Kapazitäten gesprengt. Taheri sagt, den Entwurf werde man „der neuen Regierung zur Verfügung stellen“. Dann könne man gemeinsam „durchgehen, was man ändern, präzisieren oder ergänzen muss“. Ein Gesetz könnte in vier, fünf Monaten ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden, so Taheri.

Wahrscheinlich ist es allerdings nicht, dass es so schnell geht. Immerhin soll rechtliches Neuland betreten werden. Grundlage für das Vorhaben ist der Artikel 15 des Grundgesetzes, der damit erstmals zur Anwendung kommen würde. Während Enteignungen einzelner Grundstücke – etwa für den Ausbau von Kohlekraftwerken oder Autobahnen – in Artikel 14 geregelt sind, können durch Artikel 15 „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“.

Schon wegen der Bezugnahme auf diesen Artikel ist der Sieg des Volksentscheids historisch. Zwar war eine gemeinwirtschaftliche Verwaltung von Wohnraum in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu den neoliberalen Reformen der 1990er Jahre eher die Regel als die Ausnahme. Dass eine Regierung Teile des Marktes durch großangelegte Vergesellschaftung beenden soll, ist dennoch ein Novum.

Gut möglich, dass eine Gutachtenschlacht darüber folgt, ob eine Vergesellschaftung rechtmäßig und verhältnismäßig ist. Schon jetzt gibt es sieben Gutachten, die das bejahen, etwa der wissenschaftliche Dienst des Abgeordnetenhauses, des Bundestags und drei vom Senat beauftragte Gutachten. Dagegen stehen drei Gutachten – allesamt von der Immobilienlobby beauftragt –, die zu einem gegenteiligen Schluss kommen. Womöglich wird die Debatte über den Umgang mit dem Entscheid und das juristische Gezerre Berlin die nächsten Jahre beschäftigen.

Die Initiative gibt sich angriffslustig

Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm, ein bisschen Spiritus Rector der Mieter:innenbewegung, wertete den Entscheid gegenüber der taz als ein „Statement für einen grundlegenden Wechsel der Wohnungspolitik“. Die Mehrheit der Ber­li­ne­r:in­nen habe erkannt, „dass von der privaten und gewinnorientierten Wohnungswirtschaft keine Lösung für die soziale Wohnversorgung zu erwarten ist“.

Bereits am Montag kündigte der Initiativkreis „Hamburg – wann enteignen wir?“ für den 10. Oktober eine „Enteignungsversammlung“ an. „Wir wollen den Erfolg der Berliner Kampagne feiern und die Signalwirkung mitnehmen“, sagte Maria Bronner von der Initiative der taz. Sie ist sich sicher: Für die Immobilienkonzerne seien „die guten Zeiten vorbei“. Nun gelte es, gemeinsam an die Arbeit zu gehen, um auch in Hamburg einen Volksentscheid umzusetzen. 10. Oktober, 15 Uhr, Kölibri, Hein-Köllisch-Platz.

Ebenso machte Holm einen Vorschlag, wie es nun weitergehen könnte: „Da fast alle Parteien die Forderung ablehnen oder mit ihr fremdeln, wäre es ein demokratisches Bekenntnis, eine überparteiliche Sozialisierungskommission unter Einbeziehung der Initiative einzusetzen, die von der Regierung beauftragt wird, ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten.“

Die Initiative gab sich derweil angriffslustig. Sprecherin Jenny Stupka betonte, man sei „kampferprobt“. Ein Ass im Ärmel gebe es auch: Die Initiative könne jederzeit ein neues Volksbegehren, dann mit ihrem konkreten Gesetzestext, auf den Weg bringen. Gleichwohl betonte sie, schon jetzt habe man „die großen Wohnungskonzerne ein Stück weit gezähmt“. Dies beobachte man in ihrer Kommunikation mit den Mie­te­r:in­nen und ihrer Akzeptanz bestimmter Bedingungen der Politik.

Doch die Spekulation auf Berlins Wohnungsmarkt geht weiter. So versucht sich Vonovia weiter an der Übernahme der Deutschen Wohnen. Noch während der Stimmauszählung am Sonntag wurde bekannt, dass der schwedische Immobilienkonzern Heimstaden 17.600 Wohnungen des Immobiliengiganten Akelius in Berlin und Hamburg kaufen will. Taheri kommentierte den Deal: „Die haben ihr Geschäft gemacht mit unseren Wohnungen, jetzt kommt der nächste Spekulant.“ Mit dem Volksentscheid aber habe man nun endlich das Mittel, diese Spekulation zu beenden.

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