Demo gegen Coronamaßnahmen: Muss man das aushalten?
Die Proteste vom Wochenende müsse eine Demokratie wegstecken, behaupten manche. Das ist zynisch, wo sich doch Risikogruppen seit Monaten isolieren.
Der bequemste Satz dieser Tage ist wohl: „Das wird eine Demokratie aushalten müssen.“ Er fiel sehr oft im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen vom vergangenen Wochenende. Das sei zwar alles ärgerlich und störend und bizarr, aber auch legitim. Wer aber sind die Leute, die diesen Satz sagen? Nach meiner Privatempirie sind das in erster Linie Menschen, die selbst nicht allzu viel auszuhalten haben. Für sie bleibt die Gewalt, die von diesen Demonstrant'innen ausgeht, eine abstrakte, theoretische Frage.
Die Demonstrant’innen vom Wochenende sind Teil dessen, was der Historiker und Publizist Volker Weiß „die autoritäre Revolte“ genannt hat. Die sich liberal gebende Gegenrede, dass man diese Revolte eben aushalten müsse, ist in sich allerdings auch autoritär: Sie nimmt die Demonstrant’innen nicht ernst, glaubt ihnen kein Wort, behandelt sie wie verwirrte Kinder oder abstruse Gestalten. Die Verniedlichung und Verkindlichung der Proteste geht mit einer paternalistischen Draufsicht einher, die immer behauptet, die Demokratie als Ganzes im Blick zu haben. Als wäre man als Kommentator’in nicht Teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern Bundesverfassungsrichter’in in spe.
Die Demonstrationen haben Bilder geliefert, die je nach Disposition Besorgnis, Faszination oder sogar Amüsement ausgelöst haben. Die Zusammenschnitte von Interviews mit Teilnehmer’innen, mit brüllenden Hools, erleuchteten Christ’innen und singenden Hippies, sind zigtausendfach geteilt worden. Sie waren eben auch Entertaining: sehr viel interessanter und kurzweiliger jedenfalls als die Situation der sogenannten Risikogruppen, die sich schon seit Monaten so weit es geht isolieren. Noch immer halten viele Heime Kontaktbeschränkungen aufrecht, die einem Lockdown sehr nahe kommen.
Es stellen viel zu wenige Leute die Frage, was ein Demonstrationsrecht in Zeiten einer Pandemie bedeutet, wenn die Leute, die aus Eigeninteresse zu einer Gegendemo oder Blockade gehen würden, nicht hinauskönnen, ohne um ihre Gesundheit fürchten zu müssen. Sei es, weil sie Opfer rassistischer, antisemitischer oder LGBTQI-feindlicher Übergriffe werden können. Sei es, weil sie die Ansteckung mit dem Virus fürchten müssen.
Relevant fürs System
Die mahnenden Stimmen, jetzt bloß nicht überzudramatisieren, denn im Grunde sei auch nicht groß etwas passiert, schließen sich sehr gut an den populären Hashtag #covidioten, der so tut, als wären diese Menschen unzurechnungsfähig und nicht ernst zu nehmen. Dabei ist viel naheliegender, dass den Demonstrant’innen einfach alles egal ist außer ihnen selbst. Es ist nicht so kompliziert: Sie stehen für das Recht ein, das Virus verbreiten zu dürfen. Egoman und privilegiert zu sein, ist aber keine psychische Erkrankung. Es ist nur eine Zumutung für alle, die mit ihnen notgedrungen zu tun haben müssen. Am Samstag machen sie einen Ausflug auf einen potenziellen Superspreading-Event, am Montag schicken sie ihre Kinder wieder fröhlich in die Schule.
Währenddessen hat der Impfstoffexperte Dr. Tobias Witte am Wochenende bei Radio eins darauf gepocht, dass, wenn es einen Impfstoff geben werde, zunächst die sogenannten Systemrelevanten davon profitieren sollten und danach dann die Multiplikatoren. Erst dann wären die Risikogruppen an der Reihe. Jene, die auch jetzt schon den größten Preis bezahlen, sollen sich also wieder hinten anstellen.
Von der universalistischen Linken ist bei diesen Verteilungskämpfen wenig Unterstützung zu erwarten, weil sie sich Betroffenenperspektiven verschließt. Ihre Kritik an Identitätspolitik immunisiert sie, deswegen nehmen sie sich auch nicht mehr als Teil von politischen Kämpfen wahr, sondern kommentieren sie bloß noch. Der Satz „Das wird eine Demokratie aushalten müssen“ ist der Sesselfurz im Diskurstheater. Die Frage ist nur: Wie viel passive Draufsicht verträgt so eine Demokratie eigentlich?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles