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Debattenkultur in DeutschlandGefangen im Diskursteufelskreis

Schuld sind wieder mal Ausländer, Fleisch ist Leitkultur, Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen sind respektlos. In Deutschland dominieren die fauligen Debatten.

Die Lage ist ernst und wir befinden uns in einer Achterbahn der unangenehmen Gefühle Foto: Manfred Segerer/imago

S ehr geehrte Lesende, liebe Mit­bür­ge­r*in­nen der First, Business und Economy Class, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir nach langjähriger Beobachtung zu dem Ergebnis gekommen sind, dass Deutschland sich selbst gefangen hält.

Die Lage ist ernst. Wir sind eingesperrt im Diskursteufelskreis. Eine Achterbahn der unangenehmen Gefühle. Ist Ihnen schon übel? Brauchen Sie eine Kotztüte? Sind Sie eingeschlafen vor Langeweile? Zur Fütterungszeit wirft ein Dompteur das rohe Fleisch aufs Klicklaminat.

Der Wecker piepst im Takt der fauligen Debatten. 00:15 Uhr: Ausländer raus. 6:45 Uhr: Die Freiheit Deutschlands wird auf der Karnevalsparty verteidigt. 11:20 Uhr: Grillfleisch ist Leitkultur. 14:03 Uhr: Verdammt, wer wird unseren Spargel stechen? 16:30 Uhr: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen – aber bitte nicht auf Arabisch. 20:15 Uhr: Respektlose Kli­ma­k­le­be­r*in­nen als Bedrohung des Rechtsstaats. Dann von vorn, etwaige Lücken stopft „Identitätspolitik“. Und Fakten? Lieber nicht.

Ich habe mir mal vorgenommen, nicht auf diese Köder zu reagieren. Leider klappt das nicht immer. Rassistische und faktisch falsche Aussagen sollten nicht unwidersprochen bleiben, schon gar nicht, wenn sie von Staatsverwaltern getätigt werden, und von Leuten, die öffentliche Wahrnehmung formen. Es hilft nicht, das todlangweilig zu finden. Sich darüber zu belustigen. Zu glauben, man müsse es nur ignorieren, dann ginge es von alleine weg. Also: Gegenrede. Dagegen, dagegen, dagegen. Und doch ist mir mit jedem Satz, mit jedem Nachdenken über die Provokation, als ginge etwas Wichtiges verloren. Die Chance, herauszufinden, worüber man eigentlich nachdenken will. Die Möglichkeit, zu wachsen. Und das ist nicht nur mein persönliches Problem.

Gedankliches Auswandern

Demokratie braucht Widerstand, wenn der sich aber auf Abwehr beschränkt, kostet das: Energie, Lust am Mitmachen, und Raum für Ideen und für den Mut, über das Etablierte hinauszudenken. Es gibt viel Potenzial in Deutschland für diesen Mut – ganz besonders auch bei denen, die der CDU-Vorsitzende „kleine Paschas“ nennt und die Innenministerin „junge Männer mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten“.

Bei denen, die Jahrzehnte geschuftet haben, um dann abgeschoben zu werden oder altersarm zu sein. Bei denen, die Lützerath verteidigt haben und für eine radikale Wende in der Klimapolitik kämpfen. So viel Potenzial, aber so wenig Boden, auf dem es wachsen kann.

Der „lebendigen Streitkultur“ sind Lebendigkeit und Kultur abhandengekommen. Im Diskursteufelskreis schaltet man die Nachrichten aus, redet nicht mehr mit, wandert gedanklich aus. Innerlicher Braindrain, nicht als Entgiftungskur, sondern für immer. Das ist der zerstörerische Nebeneffekt unterirdischer Debatten. Er führt dazu, dass dieses Land ständig scheitert an dringend notwendigem Wandel, Moderne und Fortschrittlichkeit. Muss das sein?

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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