Debatte um Ostidentität: Haste was, biste was
Zur Identität Ostdeutscher gehört, weitgehend besitzlos zu sein. Eine Ergänzung zum Essay über Ostidentität von taz-Redakteurin Simone Schmollack.
D ie taz-Redakteurin Simone Schmollack hat in der wochentaz vom 10. August über Ostidentität nachgedacht und dabei zwei Feststellungen getroffen: Herkunft und Sozialisierung im Osten können auf Dauer nicht alleiniges Merkmal für eine Ostidentität sein, sondern Identitäten bestehen aus vielen Bausteinen. Wo sie als Ostidentität von Ostdeutschen auf Grund verschiedener Lebenserfahrungen – meist auch schmerzlichen – gelebt wird, ist sie sicher nicht so leicht abzustreifen. Ich stimme ihr zu, möchte aber gern einen Gedanken hinzufügen.
Ich folge dem nachdenklichen Ton der Autorin lieber als dem schneidigen von Ilko-Sascha Kowalczuk, der jetzt wieder stärker zu vernehmen ist, seit sein neues Buch auf dem Markt ist. Betroffen machte mich eine Einlassung, die er nach dem AfD-Wahlsieg in Sonneberg im Juli 2023 hier in der taz geäußert hat: „Aber auch hier wird so getan, als wenn AfD-Wähler arme, verirrte Bürger sind. Aber das stimmt nicht: Wer Nazis wählt, ist ein Nazi.“ Ich bin mir nicht sicher, ob diese Denunzierung etwas nutzt, wenn wir am kommenden Sonntagabend die Wahlergebnisse der AfD analysieren. Stimmt sein Nazivergleich, könnte man nur noch aus Deutschland auswandern.
Ich bin die Debatte über ostdeutsche Identität und Störungen der deutschen Einheit seit 1990 mit wachsendem Abstand zur Wende ohnehin leid. Auch weil Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ dazu viel Richtiges gesagt hat. Kowalczuk kommt den Lesern in seinem neuen Buch mit einem neuen Deutungsschlüssel: Der Freiheitsschock, den die Ostdeutschen in der Wendezeit erlitten hätten, habe dazu geführt, dass sie sich in der Rolle der Opfer eingerichtet hätten. Sie seien transformationsmüde, blickten zurück und da stünde die AfD mit offenen Armen. Das bringt mich auf die Frage: War denn die Anerkennung der Ostdeutschen, die sich mit der friedlichen Revolution ihre Freiheit erkämpft haben, nur Gerede? Mit dem Ziel, dass sich die westdeutsche Elite bei ihrem Sprung in den Osten auch diesen Sieg aneignen kann?
Der Osten gehört dem Westen
Die Ostidentität ist keine Erscheinung, die demnächst abzustreifen ist. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass an dem Tag im fernen Jahr 2029, an dem die Bundesrepublik in Halle an der Saale ihr Zukunftszentrum Deutsche Einheit eröffnet, die Ostidentität ins Museum kommt. Nein, Ostidentität wächst nach, zumindest so lange, wie die soziale Frage falsch oder nicht beantwortet ist. Sie ist nämlich kein Ausdruck einer Opferrolle, sondern Realität. Und die Realität heißt: Der Osten gehört dem Westen, im Sinne von: Er ist sein Eigentum. Es gibt keine Region in Westeuropa, wo den Menschen, die dort wohnen, so wenig Grund und Boden und Immobilien gehören wie in Ostdeutschland. Die Erfahrung, im eigenen Haus nur Mieter zu sein, lässt die, denen aus welchen Gründen auch immer eine Kündigung droht, immerhin Schutz im Mieterverein zu suchen. Der Mieterverein als eine Art Schutz ist in meinem metaphorischen Denken Teil der Ostidentität.
Dazu folgende kleine Geschichte. Ein Mann, ein Westdeutscher, sympathisch, sozial, Kulturmäzen, aber auch ein wenig einäugig, denn er übersieht bis heute etwas Entscheidendes: Eigentumsverhältnisse. 1990 besuchte ein Mann aus Westdeutschland das sächsische Chemnitz – und verliebte sich bei seinen Streifzügen durch die Stadt in eine der schönsten Villen dort. Dazu muss man wissen, dass in den 1920er Jahren in Chemnitz große Architekten gewirkt haben. Chemnitz, Deutschlands Stadt mit dem größten Bruttosozialprodukt in der Zwischenkriegszeit, konnte sich damals die besten Architekten leisten. Jedenfalls sah der Mann eine Villa und erkundigte sich, wie sie zu erwerben sei.
Aber da gab es schon jemanden mit einem ebenso heftigen Kaufwunsch. Der war nicht nur der Altmieter, sondern auch ein alter Mieter. Er hatte sich auf die Möglichkeit, das Haus zu kaufen, eingestellt und etwas Geld zur Seite gelegt, zehn- oder zwanzigtausend Mark. Ostmark. Damit war im Sommer 1990, kurz vor der Währungsunion, kein Haus mehr zu kaufen. Also war der Altmieter raus aus dem Spiel, das für ihn keines war. Gekauft hatte der Haus der Westdeutsche, der viel mehr und in D-Mark zahlen konnte.
Besitzlos zu sein, gehört zur Ostidentität
Als 1990 und in den nächsten Jahren nach dem Gesetz Rückgabe vor Entschädigung gehandelt wurde und die Treuhand Tausende Klein-, Mittel- und Großbetriebe zum Verkauf ausschrieb, reichte bei Ostdeutschen das Geld zum Kauf nicht. Zwar war der Umtausch von Ostmark in Westmark mit 2:1 durchaus fair, aber das Geld war vierzig Jahre lang woandershin gewandert. So kam es – sicher nicht einmal mit Vorsatz –, dass der Osten bald komplett dem Westen gehörte. Und irgendwann reimte sich Miete auf Profite.
In der Erfahrung, Besitzloser zu sein, steckt ein großes Stück Ostidentität. Sie klebte nicht nur hartnäckig an den Fersen der Wendegeneration, sondern hängte sich auch an ihre Kinder und vermutlich demnächst an ihre Enkel.
In derselben Ausgabe der taz, in der Simone Schmollack über die Ostidentität schrieb, las ich einen Artikel einer Theaterfrau über ihre Erfahrungen in der sächsischen Provinz. Immer öfter erlebt sie, wovor ich mich auch fürchte: dass die AfD ihre neuen Mehrheiten in den Kommunen dazu nutzt, die Förderung von Kulturprojekten, die ihr nicht passen, runterzufahren oder zu stoppen. Sie wünscht sich „eine Umverteilung von westdeutschem Kapital aus Erbschaften, um für Zukünfte einzustehen und progressive Kräfte zu unterstützen“.
Ich bekenne meine Sympathie für die Worte der Theatermacherin Anna Stiede, die diesen Wunsch formuliert hat. Ich glaube aber auch, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ihren Worten folgt. Es gibt nur eine Marlene Engelhorn, jene Millionenerbin, die ihr Geld verschenken will. Solange die Nicht-Reichen im Osten unter sich bleiben, trägt die Ostidentität resiliente Züge.
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