Debatte um „Cancel Culture“: Diskursive Sackgassen
Bei der Diskussion um „Cancel Culture“ scheinen die Fronten klar. Um über Aufgeregtheiten hinauszukommen, müssen wir die Macht der Sprache bedenken.
Was passiert eigentlich, wenn eine Debatte darüber ausbricht, dass Debatten nicht mehr funktionieren? Die Debatte über die Debatte scheitert, und am Ende werden altbekannte Standpunkte in die Welt getwittert. Es wird sich seiner selbst vergewissert. Hat man dann noch Realitätsbezug genug übrig, findet man sich in einer Sackgasse wieder, aus der auch nicht Reden raushilft. Und alle fragen sich: Wie konnte es nur so weit kommen?
Für die einen ist die Antwort klar: „Cancel Culture“, ein digitaler Mob von moralisch sich auf der richtigen Seite wähnenden Accounts, die sich auf eine Person stürzen, die irgendetwas gesagt oder getan hat. Der Begriff ist ein transatlantischer Import wie viele andere Trendbegriffe der intellektuell-tagespolitischen Auseinandersetzung. Die Geschichte des Phänomens haben die Journalisten Michael Barbaro und Jonah Bromwich kürzlich im NYT-Podcast The Daily nachgezeichnet.
Seinen Ursprung habe der Begriff in einer Folge der Webserie „Joanne the Scammer“ vom Jahr 2016, in der die Titelfigur vergeblich versucht, einen Espressokocher zu bedienen und dass Vorhaben dann „canceled“; im Frühling 2018 nutzt Rapper Kanye West die Bezeichnung, um seine Befürchtung auszudrücken, dass er „canceled“ werden könnte, weil er Trump nicht „canceled“; im Herbst 2019 macht sich Barack Obama vor Aktivist:innen kritische Gedanken über eine „Call-out-Culture“, die man synonym zu „Cancel Culture“ verstehen kann; wenige Monate später greift Trump die Bezeichnung in einer Kampfansage gegen die „politisch Korrekten“ im Land auf; und Anfang Juli 2020 veröffentlichen Intellektuelle wie J. K Rowling, Noam Chomsky und Francis Fukuyama einen „Letter on Justice and Open Debate“, in dem sie ihre Sorge um die offene Debatte und die Meinungsfreiheit kundtun, ohne das Reizwort selbst zu benutzen.
In Deutschland verhilft dem Konzept daraufhin die Kontroverse um die Kabarettistin Lisa Eckhart zum Durchbruch. Nun freuen sich die einen, ein inländisches Beispiel für den Sittenwächtervorwurf gefunden zu haben. Die anderen weisen den Vorwurf zurück und enttarnen ihn als rechte Strategie, um berechtigte Kritik zu delegitimieren.
Wer immer gehört wird
„Cancel Culture“ ist sehr wohl eine liberale Denkfigur, ein Kampfkonzept. Eines das blind ist für Machtverhältnisse, weil es davon ausgeht, dass sich Menschen im Debattenring mit gleichen Voraussetzungen gegenüberstehen. Dabei bleibt vielen Menschen der Eintritt in den Ring überhaupt erst verwehrt. Das liberale Weltverständnis verwechselt den gesellschaftlichen Ist-Zustand mit dem von der Aufklärung formulierten Idealzustand. Es geht davon aus, dass alle Menschen grundsätzlich gleiche Lebenschancen hätten. Der moderne Staat stellt tatsächlich alle Staatsbürger:innen juristisch-formal gleich, die rechtliche Gleichheit bedeutet aber nicht, dass die Menschen auch gleiche Lebenschancen haben.
Weil Liberale stur an diesem Dogma festhalten, verstehen sie das Unbehagen jener nicht, denen ökonomische, politische und kulturelle Ressourcen versagt bleiben. Die Erfahrung von Widerspruch fühlt sich für sie dann an, als käme die Freiheit an sich in Gefahr, wobei nur ihre Freiheit, die sie den anderen vorenthalten, infrage gestellt wird. Francis Fukuyama, J. K. Rowling oder Lisa Eckhart müssen nicht fürchten, dass sie nicht gehört werden. Sie brauchen nicht zu schreien, um gehört zu werden. Sie werden selbst dann gehört, wenn sie flüstern. Bestimmten Personen Öffentlichkeit entziehen oder sie unter Druck setzen können effektiv nur jene, die mächtig sind.
Der Comedian Aurel Mertz hat im öffentlich-rechtlichen Jugendangebot „Funk“ ein Satirevideo zum Thema Racial Profilig veröffentlicht, in dem ein schwarzer Mann von Polizisten verdächtigt und erschossen wird, als er sein Fahrrad aufschließen möchte. Die Innenminister von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen kritisierten die Satire daraufhin scharf, ein Innenpolitiker der CDU nannte sie „staatszersetzenden Schund“. Auch die Debatte um die sogenannte Polizei-Kolumne der taz ließe sich als Beispiel nennen. Es macht einen Unterschied, ob Satire Mächtige oder Marginalisierte bearbeitet, und es macht auch einen Unterschied, ob sie Innenminister zum Gegner hat oder ein paar Twitter-Accounts.
Selbstjustiz ist gefährlich
Der Begriff „Cancel Culture“ sei nur eine neue Bezeichnung für „Identity Politics“ oder „Political Correctness“, hieß es in der Diskussion um Eckhart immer wieder. Für manche Hysterische scheint sich tatsächlich der Begriff, aber nicht die Funktion geändert zu haben: Schaut her, diese Redeverbote, diese totalitäre Stimmung, diese Gefahr für unsere Demokratie. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied, eine Entwicklung, die sich auch sprachlich niederschlägt: Die sozial und politisch Ausgeschlossenen kämpfen heute so selbstbewusst wie noch nie um genannte Ressourcen. Während „Political Correctness“ und „Identity Politics“ noch auf Betroffenheit hinweisen, geht das Phänomen, das unter „Cancel Culture“ subsumiert wird, einen Schritt weiter: Diejenigen, die Ungerechtigkeit beklagen, fordern nicht mehr Gerechtigkeit, sie holen sich Gerechtigkeit.
Weil der Glaube an universelle Justiz verbraucht ist, greifen sie kommunikativ zu Selbstjustiz: Wer sich rassistisch und misogyn äußert oder soziale Ausbeutung zum Normalzustand erklärt, soll nicht einfach damit weitermachen. Aber Selbstjustiz ist gefährlich. Sie kann ein Zurückfallen hinter Rechtsstaatlichkeit bedeuten, Willkür ermöglichen.
Zugleich wird Selbstjustiz aber zur Notwehr, wenn die bestehende Ordnung nicht alle Menschen gleich behandelt. Wenn die etablierte Vernunft immerzu ausgrenzt und diese Ausgrenzung auch noch permanent leugnet, also sozusagen den Diskurs darüber „canceled“, dann kann sich bei den Ausgegrenzten die Wut gegen diese Vernunft durchsetzen.
Adorno und die Ambivalenz der Sprache
Die Debatte um „Cancel Culture“ zeigt aber auch, dass ein modernes Dilemma eine neue Qualität erreicht hat: die Beschränktheit der Sprache, die sich in den sozialen Medien noch mal potenziert, weil hier Kommunikation knapper, schneller, unmittelbarer stattfindet. Sprache ist Voraussetzung für zivilisatorischen Fortschritt und komplexe gesellschaftliche Arbeitsteilung. Sprache ist aber auch Gewalt, weil sie menschliche und gesellschaftliche Realität nie ganz erfassen kann, immer einen Teil dieser abschneidet.
Immer wenn Sprache diese Realität in ihre Form zwängt, tut sie ihr Gewalt an, auch indem sie sich der Uneindeutigkeiten und Widersprüche der Realität entledigt. Sprache ermöglicht deshalb Fortschritt und Herrschaft zugleich. Diese Ambivalenz hat Theodor W. Adorno als fundamentales Dilemma der Aufklärung beschrieben.
Mediale Revolutionen verschärfen dieses Dilemma nun, weil sie die Form der Kommunikation ändern und die Grenzen der Sprache noch enger ziehen. Die egalitären Effekte der soziale Medien sind unbestreitbar: Arabischer Frühling, Gezi, Hongkong, #MeToo. Die kontraproduktiven Tendenzen sind aber ebenso bekannt: der Zwang zur Zuspitzung, Verkürzung, bedingt durch eine Aufmerksamkeitsökonomie, die eher den größten Reiz belohnt als den Gehalt und sozialen Effekt des Kommunizierten.
Destruktive Tendenzen bei Twitter
Auf Twitter und Co. kommunizieren wir nicht mehr, um uns zu verstehen. Wir verstehen uns falsch, um nicht mehr kommunizieren zu müssen. Sprache verkommt zum Taler auf dem digitalen Aufmerksamkeitsmarkt, verliert zunehmend ihren aufklärerischen Kern. Soziale Medien haben zwar weniger hierarchische Räume der Kommunikation geschaffen, der gegenwärtige Modus der Kommunikation erschwert aber Differenzierung. Weil sie sich auf eine allgemeine Tendenz bezieht, die über politische Lager hinausgeht, hat die Debatte über „Cancel Culture“ einen wahren Kern – obwohl der Begriff mit rechtsliberalen Motiven in Umlauf gebracht wurde. Es wäre kindisch, diese destruktive Tendenz zu ignorieren, nur weil politisch Andersdenkende eine Debatte eskaliert haben.
Soll die Frustration und Resignation an diesem Problem nicht in Ressentiment und Isolation münden, dann muss die digitale Sprache über sich selbst hinauswachsen. Es braucht Wege des Ausdrucks, die engagiert genug sind, um auch ein andersdenkendes oder unentschiedenes Gegenüber davon zu überzeugen, sich darauf einzulassen.
Adorno möchte die Aufklärung retten, indem er „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“, also die Grenzen des Begriffs mit dem Begriff selbst zu überwinden versucht. Auf soziale Medien bezogen könnte das auch bedeuten, dass man ihre aufklärerischen Möglichkeiten weiter bemüht, ihren gegenaufklärerischen Versuchungen aber widersteht. Differenzierte Kommunikation bedeutet nicht Kuscheln mit den Mächtigen. Sie glaubt aber weiterhin an die Macht des Arguments trotz ungleicher Machtverhältnisse.
Revolutionen ohne „Cancel Culture“ gab es in der Geschichte sicherlich keine. Aber eine Revolution ist nichts wert, wenn sie nicht genügend Menschen von sich überzeugt.
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