Offener Brief gegen „Cancel Culture“: Die Vielfalt im Diskurs

In einem offenen Brief monieren rund 150 Prominente eine „Atmosphäre der Zensur“ in öffentlichen Debatten. Doch ist Widerspruch schon Zensur?

Bunte Pixel bilden einen Regenbogen Verlauf

Debatten werden lauter, wenn mehr Stimmern teilnehmen Foto: Sergej Razvodovskij/YAY/imago

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass „Joanne K. Rowling“ unter den trendenden Themen bei Twitter auftaucht. Auslöser sind meist die wiederholt transfeindlichen Äußerungen der „Harry Potter“-Autorin. Rowling deutet etwa an, dass Transfrauen keine Frauen seien und dass Transaktivismus dem Feminismus schade. Hormontherapien setzte sie mit den in Deutschland für Minderjährige seit diesem Jahr verbotenen Konversionstherapien gleich, die dazu dienen sollten, homosexuelle Menschen von ihrer Sexualität zu „heilen“.

Für derlei Tweets und Texte bekommt Rowling regelmäßig deutliche Kritik aus der LGBTQI-Community und von Feminist:innen. Sie wird als TERF bezeichnet, also als „Trans-Exclusionary Radical Feminist“. Und Rowling? Sie sieht sich als Opfer eines Shitstorms.

Deswegen verwundert es nicht, dass auch sie den offenen Brief „A Letter on Justice and Open Debate“, veröffentlicht von dem US-amerikanischen Harper’s Magazine, unterzeichnet hat. Rund 150 Personen, ein Who’s who der Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsszene, bemängeln darin ein „Klima der Intoleranz“ und fordern mehr Liberalismus in Debatten. Sie seien zwar für Gleichstellung und Inklusion, sehen aber eine Einengung von „freiem Austausch von Informationen und Ideen“.

Und dann holen sie zum Schlag mit dem Hufeisen aus: Wie bei „radikalen Rechten“ konstatieren sie auch in „unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre von Zensur“. Unterschrieben haben den Brief, den die Zeit in deutscher Sprache veröffentlichte, unter anderen der Linguist Noam Chomsky, die Frauenrechtlerin Gloria Steinem und der Jazztrompeter Wynton Marsalis, Schriftsteller:innen wie Margaret Atwood, Daniel Kehlmann oder Salman Rushdie sowie Journalist:innen wie Fareed Zakaria und Bari Weiss.

Das Ausmaß überschätzt

Der Brief polarisiert. Neben Beifall aus der „Endlich sagt’s mal einer“-Fraktion gibt es auch harsche Kritik. Die New-York-Times-Kolumnistin Jenny Boylan und die Historikerin Kerri Greenidge zogen ihre Unterschriften bereits zurück. Andere haben trotz Anfrage gar nicht erst mitgemacht. Etwa der Historiker Benjamin E. Park. Er schrieb bei Twitter „Meine unmittelbare Reaktion auf den Harper’s-Brief war, mich an die vielen Studien zu erinnern, die darlegen, wie privilegierte Stimmen immer das Ausmaß überschätzen, in dem marginalisierte Stimmen einen Diskurs dominieren.“

Auch Richard Kim von der HuffPost wollte den Brief nicht unterzeichnen: „Weil ich in 90 Sekunden erkennen konnte, dass es sich um albernes, selbstgefälliges Gefasel handelte.“ Selbstgefällig vermutlich, weil ein Teil der Unterzeichnenden sich von „Zensur“ betroffen fühlt und als Opfer „illiberaler“ Debatten sieht; und das, obwohl die meisten von ihnen über eine enorme Reichweite, genügend Habitus und Vermögen verfügen, um sich in dieser Gesellschaft Gehör zu verschaffen.

Auch Ian Buruma hat unterzeichnet. Der bekannte Autor und Journalist wurde von New York Review of Books gekündigt, nachdem er einen Essay des Musikers Jian Ghomeshi veröffentlicht hatte – diesem wird von mehr als zwanzig Frauen sexuelle Belästigung vorgeworfen. Und eine andere Unterzeichnerin, Bari Weiss, Meinungsredakteurin der New York Times, meldete angeblich eine Schwarze Redakteurin bei ihrem Vorgesetzten, weil diese keinen Kaffee mit ihr trinken wollte – und wurde dafür öffentlich kritisiert. Es gibt noch viele weitere dieser Beispiele.

In der Argumentation bleibt der Brief jedoch unspezifisch: „Redakteur_innen werden entlassen, weil sie umstrittene Beiträge gebracht haben; Bücher werden wegen angeblichen Mangels an Authenti­zität zurückgezogen; Journa­list_in­nen dürfen über bestimmte Themen nicht schreiben; gegen Pro­fes­­so­r_innen wird ermittelt, weil sie im Unterricht gewisse literarische Werke zitiert haben“, heißt es da. Namen und Kontexte werden ausgelassen, doch gerade der Kontext ist in der Debatte entscheidend.

Keine Gesprächseinladung

Mit entlassenen Redakteu­r:in­nen beziehen sich die Brief­schrei­ber:innen vermutlich auf die Kontroverse, die es kürzlich um den ehemaligen Meinungschef der New York Times, James Bennett, gab. Dieser war für ein Stück des republikanischen Senators Tom Cotton verant­wortlich, das unter der Überschrift „Send In the Troops“ für den Einsatz des Militärs gegen die Black-Lives-Matter-Proteste warb.

Nach scharfer Kritik daran wurde Bennett jedoch nicht gefeuert, sondern er trat zurück. Der Artikel wurde nicht nur wegen seiner Bedrohlichkeit für die Schwarze Bevölkerung kritisiert, sondern auch wegen sachlicher Fehler, was später von der New York Times eingeräumt wurde. Zudem gab James Bennett zu, dass er den Beitrag vor der Veröffentlichung nicht gelesen habe.

Dieser offene Promi-Brief ist mit seiner verkürzten Argumentation keine Gesprächs­einladung, sondern er belässt es bei Geraune. Man könnte ihn also schlicht ignorieren, doch reiht er sich ein in eine seit Jahren andauernde Debatte über vermeintliche Sprechverbote, „Cancel Culture“ (ein Begriff aus den USA für einen vermeintlichen Onlineboykott von Personen oder Unternehmen, dessen Konsequenzen ins Analoge reichen), „Political Correctness“ und „Identitätspolitik“, in der die immer gleichen Argumente neu aufgelegt werden.

Denn – hier muss man dem Brief zustimmen – die Debattenkultur hat sich in den letzten Jahren verändert. Auch dank sozialer Medien haben sich Reichweiten verschoben. Die Teilnehmer:innen an den Debatten sind vielfältiger geworden. Die Stimmen marginalisierter Menschen können stärker wahrgenommen werden. Die Intellektuellen sehen sich nun offenbar mit Stimmen konfrontiert, denen sie vorher schlicht und ergreifend nicht zugehört haben, nicht zuhören mussten.

Es geht um die Deutungshoheit

Darin, dass sich mehr Stimmen am öffentlichen Gespräch beteiligen, „Sprechverbote“ oder „Klima der Intoleranz“ sehen zu wollen, ist einigermaßen absurd. So wies der US-amerikanische Autor Ta-Nehisi Coates 2019 in einem Essay in der New York Times da­rauf hin, dass „Cancel Culture“ schon immer existiere, allerdings als Privileg der Mächtigen. Durch soziale Medien sei die Kultur demokratisiert worden. Die Unterzeichneten reagieren also wohl eher auf den Verlust der eigenen Deutungshoheit als auf ein „Redeverbot“.

Das Narrativ, aus Angst vor Rassismusvorwürfen nichts mehr sagen zu können, wird nicht nur in den USA, sondern auch in deutschen Feuilletons immer wieder bedient. Doch ist es nicht etwas Positives, wenn rassistische Äußerungen nicht (mehr) unwidersprochen in die Welt hinausposaunt werden können? Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Gut in einer Demokratie, doch Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht, keinen Widerspruch aushalten zu müssen.

Zugegeben, der Ton in sozialen Medien kann hart sein, und ein Shitstorm, der sich erst durch seine eher explosive Form definiert, ist keine angenehme Form des Diskurses. Doch erstens ist nicht jede geäußerte Kritik gleich ein Shitstorm, und zweitens bleibt marginalisierten Menschen häufig kein anderer Weg, außer sich als Masse Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist eine Selbstermächtigungsstrategie, die Machtunterschiede deutlich machen will. Kritik hat selbstverständlich ihre Grenzen, etwa wenn es um Drohungen geht.

Wut und Schmerz

Robert E. Reich, US-amerikanischer Jurist und Professor an der University of California, Berkeley, fasst es so zusammen: „Ich habe abgelehnt, den Harpers Brief zu unterschreiben, weil „Trumpism“, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus solch einen freien Lauf und unheilvollen Einfluss hatten in den letzten Jahren, dass wir den Ausdruck von Wut und Schmerz, der endlich gehört wird, ehren und respektieren sollten.“

Denn was die Unterzeich­ne­r:in­nen des offenen Briefes in ihrer Argumentation vollkommen außer Acht lassen, sind bestehende Machtverhältnisse und wer in der Realität ein „Klima der Intoleranz“ erlebt. Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen eigenen Privilegien wäre jedoch die Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Debatten auf Augenhöhe.

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