Debatte Linkssein: Der Geist der Utopie steckt immer drin
Es gibt vier Formen des Linksseins. Das Ideal wäre eine Verschmelzung davon. Man darf jedenfalls keine Angst vor dem Pathos haben.
W enn die Kolumne der kleine Bruder des Essays ist, dann kann man sich nicht wundern, dass sie, wie kleine Geschwister eben so sind, zugleich ehrfurchtsvoll und aufmüpfig ist. Puah! 5.900 Zeichen. Mehr gibt’s für mich nicht. Kolumnen sind was Unmögliches. Nur zum Beispiel: In 5.900 Zeichen erklären, was es mit dem Linkssein auf sich hat. Also keine Zeichen mehr verschenken, mittenrein, zack, zack!
Offensichtlich gibt es vier Formen des Linksseins. Die eine ist die, die aus dem Empfinden kommt, aus Impulsen wie Gerechtigkeitsgefühl, Nächstenliebe, Solidarität, Gemeinschaftsempfinden oder ganz einfach: Menschlichkeit. Eine franziskanische Art des Linksseins, aus dem Herzen kommend. Die Lust an einem geteilten und mitgeteilten Glück am Leben. Die Unfähigkeit, einen vollen Teller von Herzen zu genießen, wenn andere Hunger leiden. Diese Art des Linksseins kommt aus denselben Quellen wie die Versprechung der Religionen auf Nächstenliebe und Glück. Und oh, wie sie verraten wurden von den Kirchen dieser Welt! Und von Organisationen des Linksseins nicht minder.
Die zweite Linie ist die der Vernunft und des Denkens. Sie entstammt den Hoffnungen der Aufklärung. Wenn die Zukunft vernünftig ist, dann ist sie links. Aber die Linke hat sich immer auch kritisch mit den Folgen der Aufklärung auseinandergesetzt, in einer Beziehung von technischer und sozialer Vernunft zum Beispiel. Dieses linke Denken und das denkende Linkssein kommen nicht ohne Dialektik aus. Dialektisches Denken aber widerspricht im Allgemeinen den einfachen Lösungen ebenso wie den „großen Erzählungen“. Es hat, Teufel auch, immer zugleich mit der Kritik von Macht und Ökonomie kritische Auswirkungen auf sich selbst. So wenig wie vor dem Gefühl darf man als linker Mensch Angst vor den Anstrengungen des Denkens haben.
Erfahrung und Verzweiflung
Die dritte Form des Linksseins ist so etwas wie eine soziobiografische Konsequenz. Jemand wird links, weil er seine Situation und die ihm zugewiesene Rolle erkannt hat, die Notwendigkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen, und ebenso, dass er sie nur mit Hilfe jener lösen wird können, die in denselben Situationen und denselben Rollen befangen sind und denselben Wunsch nach Befreiung haben. Es ist ein Linkssein aus Interesse, Erfahrung – und Verzweiflung. Solch eine Bestimmung des Linksseins gibt es in einer individuellen wie in einer kollektiven Weise. Manch jemandem hat die Familie, das Viertel, die Klasse das Linkssein vorgezeichnet, manch anderer kommt auf seltsamen Wegen dazu. Wie vor dem Gefühl und dem Gedanken darf man vor der Erfahrung keine Angst haben.
Die vierte Form des Linksseins entstammt dem, was man das Prinzip Hoffnung oder den Geist der Utopie nennen könnte. Man kann sich eine Welt vorstellen, in der es Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe gibt, und das in einer Weise, auf die man auch genug zu essen, zu tanzen und zu denken herstellen kann. Nach dem Herzen, dem Verstand und der Wahrnehmung ist nun die Fantasie in ihr Recht gesetzt. Das Linkssein, das daran arbeitet, was Ernst Bloch uns als Mühe für manche Arbeit und, wer weiß, ein wenig Tapferkeit hier und da versprach: Heimat. Nach Gefühl, Gedanken und Erfahrung muss auch das linke Träumen ermöglicht werden.
Das große Ideal, das sich in manchen historischen Momenten abzuzeichnen schien, war, dass sich diese vier Bestimmungen des Linksseins begegnen und ergänzen, dass sie miteinander verschmelzen zu einer Idee in Bewegung und einer Bewegung in Ideen. Das Gefühl, die Gedanken, die Erfahrung und die Fantasie. Man darf am Ende keine Angst vor dem Pathos haben, wenn man das alles zusammendenkt. Und braucht einen Sinn für das Komische in der langen Geschichte des Scheiterns.
Aber man kann auch nicht glauben, dass damit alles schon erreicht ist. Es wäre ja, wie Ludwig Wittgenstein erklärte, noch keines der Menschenprobleme gelöst, wenn alle wissenschaftliche Probleme gelöst wären, und genauso wären die Menschenprobleme nicht gelöst, wenn sich die Menschheit nach links bewegen würde und dabei alle Widersprüche des Linksseins, die schönen und die weniger schönen, gedanklich aufgelöst hätte. Aber in die Reichweite, in die menschliche Wirklichkeit wären die Lösungen gerückt, was schon einiges ist, wenn das Linkssein sich zusammen denken, fühlen, träumen, erzählen – und wenn es zusammen handeln ließe.
Das verlorene Subjekt
Im Normalfall, wie zum Beispiel in unserer Gegenwart, tendiert das alles allerdings dazu, auseinanderzubrechen, und mehr noch, wenn es auseinandergebrochen ist, dann pervertieren auch die einzelnen Elemente. Das Denken wird zum Dogma, die Utopie zum Traumkitsch, die Erfahrung zum blinden Zorn und die Gefühle werden zur Sentimentalität oder Nostalgie.
Ganz ähnlich verhalten sich die Bezugswesen, auf die sich das Linkssein beziehen kann: Das „Volk“ (die Massen, die Arbeit und die Arbeitenden, die Ausgebeuteten, die Unterdrückten, kurzum jene Mehrheit der Menschen, die weder über Kapital verfügen noch kapitalförmig über die Welt verfügen und die, da wird es mit der Mehrheit schon wieder so eine Sache, das auch weder wünschen noch akzeptieren), die Idee, die Geschichte, und nicht zuletzt: das Individuum selber.
Immer wieder verliert die Linke das eine oder das andere: Das historische Subjekt, den Traum, die Idee, die Methode, das Gefühl. Und dann scheint sie – die Häme im Gesicht der Rechten! – „vorwiegend mit sich selbst beschäftigt“. Und die Linke betrauert ihre Irrwege, ihre Ohnmacht, ihre Fehler.
Aber wie man es dreht oder wendet, im gedachten und geträumten, im empfundenen und im praktischen Linkssein steckt immer der Geist der Utopie, der stärker ist als das taktische und strategische Überlegen. Es war Karl Marx, der gesagt hat, dass niemals die Zwecke die Mittel heiligen. Schon deswegen gibt es im Linkssein viele Widersprüche, aber keinen zwischen Theorie und Praxis.
Und damit sind meine 5.900 Zeichen verbraucht. Mit einem guten Mittel – der Sprache – zu einem guten Zweck – der Erinnerung an den Geist der Utopie im Linkssein. Oder?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Wirtschaft im Wahlkampf
Friedrich Merz und die Quadratur des Kuchens
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?