Dr. Gerald Goesche im Kirchengang

Foto: Paul Zinken/picture alliance

Corona und die katholische Kirche:Kein guter Hirte

Der Berliner Priester Gerald Goesche widersetzt sich den Coronaregeln. Besuch in einer erzkatholischen Kirche, in die auch Beatrix von Storch geht.

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24.12.2021, 08:31  Uhr

Zweihundert Lungen holen Luft, das erste Lied beginnt. “Asperges me, Domine…“ Besprühe mich, oh Herr. Und mit Weihwasser und Weihrauch verbreiten sich die Aerosole. Denn niemand in der kleinen neugotischen Kirche in Berlin-Mitte trägt eine Maske.

In der hintersten Bank sitzt Gerald Goesche, er zelebriert heute nicht selbst. Schwarze Kutte, weißer Pagenschnitt, der Hirte inmitten seiner erzkatholischen Herde. Niemand weiß, wie immun sie ist. Denn Goesche kümmert es nicht.

Der Priester widersetzt sich den Reformschritten der katholischen Kirche – und ihren Coronaregeln. Für sein Recht auf Gottesdienst in der Pandemie rief er schon das Bundesverfassungsgericht an, die geltenden Verordnungen des Berliner Senats ignoriert er. Die Ausübung der Religion ist in der Pandemie keine Privatsache mehr.

Konservative Chris­t*in­nen können in Goesches “Institut St. Philipp Neri“ die Messe auf Latein hören und die Hostie direkt auf die Zunge gelegt bekommen. „Zeitgemäße Pastoral in einer neuheidnischen Großstadt, in der man öfter eine Muslima in Burka als einen Priester in der Soutane sieht“, so das Selbstverständnis auf der Website der Gemeinde.

Eine Burka wird man auf den Berliner Straßen nicht finden, doch während viele gemäßigte Kirchen leer bleiben, kommen mehr und mehr Menschen zu den Soutanepriestern am Mauerpark. Viele von ihnen fliehen vor den Coronaregeln in den anderen Gemeinden.

Unter den Gläubigen, die sich im Institut tummeln, sind auch AfD-Spitzenfrau Beatrix von Storch und ihr Mann. Das zumindest schreibt ein Anwohner der Gemeinde in einer Email. Als die Recherche zu diesem Text beginnt, kann niemand ahnen, dass von Storch wenige Tage später aufgrund einer Coronainfektion in Quarantäne muss.

Ausnahmsweise scheint an diesem Adventssonntag die Sonne. Aus dem armen Wedding im Westen, aus dem schicken Prenzlauer Berg im Osten Berlins, kommen Menschen zum Hochamt in die Graunstraße.

Die Abstandmarkierungen beachtet niemand

Sankt Afra, eine kleine Burg aus Backstein, verschwindet fast in der Häuserzeile – wie viele katholische Kirchen in der Hauptstadt. Glauben durfte die katholische Minderheit im protestantischen Preußen. Bauen sollte sie nicht zu sichtbar.

Die Gläubigen treten durch das grüne Portal in einen Kreuzgang, links fällt der Blick auf einen Hof mit Buchsbäumen. Zum Gottesdienstraum selbst muss man eine Treppe hinauf in den ersten Stock, “Bitte nur auf den markierten Plätzen sitzen“ steht an der Tür. Getestet, geimpft oder genesen? Das wird hier nicht kontrolliert. Auch nicht, wer sich via SMS zum Gottesdienst angemeldet hat und wer nicht.

Im Kirchenschiff Gemurmel. Vor der Messe wird der Rosenkranz gebetet, die Beichtstuhltür fliegt auf und zu. Die Zahl der Beichten in Sankt Afra steigt rapide an, heißt es freudig im Gemeindebrief, der am Eingang ausliegt. Daneben kleine Heiligenbildchen, die eine Frau mit zwei Palmen zeigen. “Hl. Corona, bitte für uns!“, steht auf der Rückseite. Die Abstandmarkierungen beachtet niemand.

Gerald Goesche in der römisch-katholischen St.-Afra-Kirche

Coronamaßnahmen interessieren ihn nicht: Gerald Goesche in der römisch-katholischen St.-Afra-Kirche Foto: Paul Zinken/picture alliacne

Die Mäntel der Sonntagsgemeinde sind modisch geschnitten. Die Haarschnitte der teils sehr jungen Männer reichen von Havard Clip bis Man Bun. Die Frauen tragen Baskenmützen, Tücher aus weißer oder schwarzer Spitze. Zwei Schwarze Frauen haben ihr Haar mit blauem Baumwollstoff bedeckt.

Links vorne hört man ein mechanisches Saugen. Eine betagte Frau im Rollstuhl hat unter ihrer Nase einen dünnen Plastikschlauch. Sie atmet Sauerstoff aus einem tragbaren Gerät. Niemand in der vollen Kirche trägt einen Mund-Nasenschutz, als der füllige Priester mit seinen Messdienern einzieht und der Gottesdienst beginnt.

Asperges, Oratio, Credo. Ein Männerchor auf der Empore singt im Wechsel mit Gemeinde und Priester die alte lateinische Messe. Ein feierliches Ritual, das in der katholischen Kirche nur ausnahmsweise gestattet wird. Seit das Zweite Vatikanische Konzil die katholische Kirche in den 1960er Jahren grundlegend reformierte, soll der Inhalt der Gebete verstanden werden. Die Priester zelebrieren heute nicht mehr mit dem Rücken zu den Gläubigen.

An stille Agreements hält sich das Virus nicht

Eigentlich. Gerald Goesche, der früher bei den Piusbrüdern in Kreuzberg Messe feierte, bezeichnet sein 2003 gegründetes Institut St. Philipp Neri als “katholisches Startup“. Hier wird die katholische Ästhetik des 19. Jahrhunderts gefeiert. Fernab von chaotisch-bunten Familiengottesdiensten, von zeitgenössischer Theologie und der allgegenwärtigen Naturwissenschaft. Das schätzen auch Intellektuelle wie Sybille Lewitscharoff, zumindest ist sie im Gemeindeblatt an einer Festtafel von Propst Goesche zu sehen.

Kirchenrechtlich gesehen ist das Institut eine Gesellschaft apostolischen Lebens, eine Art Orden, unabhängig von Kirchensteuer und dem Erzbistum Berlin, direkt dem Papst unterstellt. Doch es knirscht nicht mehr nur zwischen dem coronakonformen Berliner Bischof und Goesches Splittergruppe. Auch das Verhältnis zu Rom hat in der Pandemie gelitten. In der Predigt – sie könnte so in jeder anderen katholischen Kirche gehalten werden – ist heute von dieser Spannung jedoch nichts zu hören. Es geht um “grenzenloses Vertrauen in Gott und die Lehre der katholischen Kirche“.

Agnus Dei, Lamm Gottes. Nach etwa einer Stunde stellt sich die Gemeinde in Reihen auf. Sechs, sieben Gläubige knien auf den Altarstufen nieder. Von zwei Ministranten begleitet tritt der Priester, adventlich-violett ist sein Gewand, zu den Einzelnen und legt ihnen mit bloßen Händen die Hostie auf die Zunge. Eine Maske müssen sie dazu nicht abnehmen, sie tragen keine. Es folgen die nächsten sieben, von einer Zunge zur anderen. Nur das Saugen des Sauerstoffgeräts durchbricht die Stille.

Die Impffrage beendet das Gespräch

Ite missa est. Gehet hin, ihr seid entlassen. Im Kreuzgang ist zum Austausch bei heißen Getränken und Gebäck eingeladen. Einige Mitzwanziger mit glänzenden Schuhen stehen zusammen. Verbindungsstudenten, so das Vorurteil. Eine Gruppe seien sie nicht, wollen auch nicht ihre Namen nennen, sprechen eigentlich auch nicht. Sie besuchten “nicht exklusiv“ die lateinische Messe und sagen, dass sie auch in andere Gemeinden gehen. Am Institut schätzten sie die “Ernsthaftigkeit“.

Ein Rollstuhl bahnt sich durch die plauschende Gemeinde. Die Familie der Greisin am Sauerstoffgerät macht sich keine Sorgen. Viren seien etwas Natürliches. Der Sohn spricht von “Plandemie“, von Globalisierung und Doktor Wodarg. Davon, dass er in den Achtzigerjahren in Polen schon erlebt habe, wie sich Regierungen der Angst als Instrument bedienten. Die Impffrage beendet das Gespräch. “Zu persönlich“, sagt der Mann und schiebt seine Mutter aus dem Kreuzgang.

Goesche legt einer Frau eine Hostie auf die Zunge, daneben ein weiterer Mann

Einmal Mund auf, Hostie auf die Zunge, ohne Maske Foto: Jannis Chavakis/KNA

Gerald Goesche ist beim Empfang nicht zu sehen. Am folgenden Nachmittag aber nimmt der Propst sich Zeit. Ein Sekretär führt schweigend ins Innenleben des klösterlichen Baus, entstanden als Mädchenheim der Elisabethschwestern. Spitzbögen, Ikonen an den Wänden. Goesche und der Sprecher seines Instituts, Bernhard Schodrowski, warten in einem kleinen Wohnzimmer mit Sesseln, einem Likörwagen und einer Espressomaschine.

Alle willkommen: grün, rechts, geschieden

Schodrowski, grauer Anzug, kantiges Gesicht, ist bekannt in Berlin. Von 2012 bis 2017 war er stellvertretender Sprecher des Senats, davor auch schon Vize-Polizeisprecher. Heute arbeitet der CDU-Mann hauptberuflich für einen Wirtschaftsverband. Seit mehr als 20 Jahren ist der Katholik mit Gerald Goesche verbunden und hilft ehrenamtlich dem Institut. “Hier darf man sein, wie man ist“, sagt Schodrowski. Er meint damit: man darf im Institut geschieden sein, wie er selbst.

Man darf grün sein, wie Schodrowskis frühere Partnerin, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop. Die Lottostiftung, in deren Stiftungsrat Pop sitzt, förderte 2013 die Orgel in Sankt Afra mit 160.800 Euro. Man darf auch rechts und evangelisch sein, wie Beatrix und Sven von Storch, der die “Initiative Christenschutz“ betreibt. Die von Storchs würden dem Institut keine nennenswerten Summen spenden, aber tatsächlich im Institut die Messe besuchen. “Nicht die Gesunden brauchen den Arzt“, zitiert Gerald Goesche dazu das Matthäusevangelium.

Fünf Tage später geht Beatrix von Storch nach einem positiven PCR-Test in Quarantäne. Ihre Partei und darin insbesondere von Storchs Landesverband sehen sich als politische Partner der Querdenken-Proteste. Auf eine Anfrage antwortet die Bundestagsabgeordnete nicht. Zeitgleich wettert sie auf dem Webportal freiewelt ihres Mannes gegen das “öko-sozialistische Gruselkabinett“ und die Impfpflicht für Pflegeberufe.

Andere Texte der Webseite sind überschrieben mit “Weiteres Puzzle-Stück vom Gates-Netzwerk veröffentlicht“ oder “Papst Franziskus macht sich zum Sprachrohr der Globalisten“. Den Verschwörungs-Kardinal Gerhard Müller lobt Sven von Storch auf seinem Portal, Reinhardt Kardinal Marx nennt er einen “Impfpropagandisten“.

Beatrix von Storch hat sich nicht bei der Adventsmesse infiziert, sie war an diesem Sonntag zumindest nicht zu sehen. Das wäre aber durchaus möglich gewesen, denn: im Institut St. Philipp Neri darf man auch ungeimpft sein und muss keine Maske tragen. Inmitten der vollen Gottesdienste, die Goesche verantwortet, könnten Menschen mit voller Viruslast singen. Von einem “stillen Agreement“ unter den Gläubigen spricht Bernhard Schodrowski.

Bundesverfassungsgerichtantrag scheitert

An stille Agreements hält sich das Virus jedoch nicht. Die Menschen, die am Sonntag in Sankt Afra zur Messe gehen, sitzen am Montag in der U-Bahn, in einem Großraumbüro oder an der Supermarktkasse. “Vom Fensterputzer bis zum Verlagsleiter“ sei alles dabei in seiner Gemeinde, sagt Propst Goesche, und: „Ich bin nicht die Kindergärtnerin derer, die zu uns kommen.“ Er sei mit Gottesdiensten und Gebet für die Gesellschaft da, das sei seine Verantwortung als Hirte.

„Für uns ist Jesus das Medikament des Heils und der Arzt unserer Seelen“, so hatte Goesche im April 2020 der Süddeutschen Zeitung gesagt, als sein Institut beim Berliner Verwaltungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das damalige Gottesdienstverbot beantragt hat. Auch vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte er schließlich mit einem solchen Antrag. Das hohe Gut der positiven Religionsfreiheit hatten die Gerichte freilich gewürdigt und geschrieben, dass die Einschränkungen ständig auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft werden müssten.

Schon damals kam aus dem Kreis der Deutschen Bischofskonferenz Kritik an Goesches Alleingang. Dem Propst ist bewusst, dass er jetzt wieder gegen bischöflichen Entschluss handelt. “Grundsätzlich unter 2G-Bedingungen“ sind die Gottesdienste in der diesjährigen Advents- und Weihnachtszeit zu feiern, sagt das Erzbistum Berlin. Ein Gottesdienst pro Sonntag soll allen angeboten werden, die nicht 2G, aber getestet sind. “Die Maskenpflicht beim Gemeindegesang gilt im Freien genauso wie in der Kirche“, steht im Beschluss des Bistums vom 27. November.

“Ich bin enttäuscht von den Bischöfen, auch vom Bischof von Rom“, sagt Goesche in der Klosterstube. Letzteres bezieht sich auf Papst Franziskus, der im August die Covid-19-Impfung als einen “Akt der Liebe“ bezeichnete. Goesche hingegen spricht von notwendiger Skepsis der Impfung gegenüber. Der Propst geht so weit, dabei den Contergan-Skandal aus den 1960er Jahren aufzubringen. Einen faktischen Zusammenhang zwischen der Impfung und den durch das Beruhigungsmittel Contergan verursachten Fehlbildungen gibt es nicht.

Goesche fühlt sich inmitten seiner Burg sichtlich wohl in der Rolle des Revoluzzers in Soutane. Der kirchliche Regelbruch ist ihm bewusst. Dass er gegen geltendes Recht, die aktuellen Auflagen des Berliner Senats von 27. November, verstößt, nicht. Sagt er. Hektisch beginnt Bernhard Schodrowski zu googeln, liest die ersten zwei Sätze der Verordnung für religiöse Versammlungen vor. Die Mindestabstände, die Pflicht zum Tragen eines Mundnasenschutzes abseits des Sitzplatzes verschweigt er.

Drei Kerzen brennen mittlerweile auf dem Adventskranz in Sankt Afra. Zwei Wochen sind vergangen, das alte Ritual ist gleichgeblieben: Asperges, Credo, Agnus Dei. Wieder ist der Gottesdienst gut besucht, Abstand wird noch immer nicht gehalten. Eine einzelne Frau in der Menge trägt eine Maske. Beatrix von Storch ist wieder nicht gekommen, sie ist noch isoliert.

Ein Ehepaar, Anfang Dreißig, Mäntel aus guter Wolle, lässt sich nach der Messe widerwillig auf ein Gespräch ein. Mit bayrischem Akzent erklären sie, dass ihnen der alte Ritus die zehn Kilometer Anfahrt aus Charlottenburg wert sei. Sie schätzen den “festen Ablauf“, die Mundkommunion, die würdige Ästhetik. “Wir sind genesen“, kann die junge Frau noch sagen, bevor ihr blond gelockter Ehemann das Gespräch beendet. “Es gibt ein Hygienekonzept“, sagt er.

Einige Tage nach dem dritten Besuch in der Kirche schickt Bernhard Schodrowski das neue Hygienekonzept der Gemeinde. “Die Anzahl der Gottesdienstbesucher ist in St. Afra auf 50 begrenzt“, steht darin. Ein solches Dokument mit Regeln hatte es tatsächlich schon zuvor gegeben. Eingehalten, kontrolliert wurden sie nicht. Propst Goesche spricht viel von Wahrheit. Die irdische Wahrheit, die Wirklichkeit, ist damit nicht gemeint. Die großen Weihnachtsfesttage, die Omikronwelle: sie stehen erst an.

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