Bundestagswahl 2021: Die Ausgeschlossenen
Millionen Menschen dürfen am kommenden Sonntag nicht wählen – weil sie keinen deutschen Pass haben. Was bedeutet das für sie?
Inhaltsverzeichnis
- Birol Koca: „Ich engagiere mich, aber mitwählen darf ich am Ende nicht“
- May Zeidani Yufanyi: „Ich halte nicht viel von Nationalstaaten, aber von Teilhabe“
- Serges Guilaince Takeng: „Ich darf nirgendwo wählen. Auch wir haben Rechte!“
- Rachel Clarke: „Ich fühle mich von der Demokratie ausgeschlossen“
- Giuseppe Silveira: „Ich darf nur bei Kommunalwahlen mitmachen“
D ie erste Wahl, an der ich nicht teilhaben durfte, war eine parteiinterne Abstimmung bei meinem damaligen SPD-Ortsverein. Ich war etwa neunzehn Jahre alt und es ging darum, Delegierte zu wählen. Ich war Klassensprecher und Schulsprecher gewesen – alles war gut. In meiner Welt habe ich gewählt und ich wurde gewählt. Aber dann erklärte man mir, dass ich gemäß der Satzung der SPD bei dieser Wahl nicht mit abstimmen darf. Nur deutsche Staatsbürger durften teilnehmen. Das war echt hart für mich.
Birol Koca: „Ich engagiere mich, aber mitwählen darf ich am Ende nicht“
Ich bin in Hessen geboren und aufgewachsen, aber habe die türkische Staatsbürgerschaft. Es gab ja eine Zeit, in der die doppelte Staatsbürgerschaft möglich war, aber ich habe mich nicht rechtzeitig darum gekümmert. Dann wurde diese Möglichkeit abgeschafft. Den deutschen Pass bekam nur, wer die türkische Staatsbürgerschaft abgab. Dafür musste man damals in der Türkei aber einen verkürzten Wehrdienst leisten und 10.000 Euro zahlen. Ich habe mit einundzwanzig geheiratet und eine Familie gegründet – und hatte die 10.000 Euro nicht.
Hinzu kam: Ich bin ja irgendwie beides. Ich bin sehr stark von meiner Familie geprägt, einer klassischen Gastarbeiterfamilie. Mein Vater ist Anfang der Siebziger nach Deutschland gekommen, meine Mutter wenige Jahre später. Ich habe beide Kulturen in mir. Mir war das immer ein bisschen zu banal zu sagen, du musst jetzt den Pass abgeben und dann den nehmen, dann darfst du hier auch mitmachen. Damit bin ich nicht klargekommen. Und so blieb ich erst einmal türkischer Staatsbürger.
Wer darf wählen? Wahlberechtigt bei einer Bundestagswahl ist, wer eine deutsche Staatsbürgerschaft hat, spätestens am Wahltag volljährig ist, seit mindestens drei Monaten in Deutschland wohnt und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Zu Letzteren gehören zum Beispiel schuldunfähige Straftäter, die in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden. Lange schloss das Wahlrecht auch Menschen aus, denen Betreuer*innen für alle ihre Angelegenheiten zur Seite gestellt sind – bis das Bundesverfassungsgericht die Regelung 2019 für verfassungswidrig befand. Mit Hürden bei der Ausübung ihres Wahlrechts sind vor allem obdachlose Menschen konfrontiert, weil sie häufig nicht im Wähler*innenverzeichnis eingetragen sind und deswegen keinen Wahlschein erhalten.
Was heißt das in Zahlen? Von 83,1 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, dürfen laut Bundeswahlleiter rund 60,4 Millionen wählen. Neben 13 Millionen Kindern und Jugendlichen sind 9,7 Millionen Erwachsene ohne deutschen Pass die größte Gruppe derer, die bei der Bundestagswahl nicht mitwählen dürfen.
Wie ist es anderswo? Nicht überall ist das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft. In Neuseeland darf wählen, wer über einen unbegrenzten Aufenthaltstitel verfügt und seit mindestens einem Jahr ohne Unterbrechung im Land lebt. In Chile hat das Wahlrecht, wer seit mindestens fünf Jahren seinen legalen Wohnsitz im Andenstaat hat. Schottland reformierte sein Wahlrecht im Februar 2020. Wahlberechtigt sind nun auch alle ausländischen Staatsangehörigen mit befristetem oder unbefristetem Aufenthaltstitel – einschließlich aller Personen mit Flüchtlingsstatus. (taz)
Nach der Realschule habe ich eine Berufsausbildung bei dem Industrieunternehmen John Deere in Mannheim gemacht. Währenddessen habe ich mit der Gewerkschaftsarbeit angefangen, war erst Vertrauensmann der IG Metall, dann Betriebsrat. Seit vier Jahren bin ich stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats, außerdem Gewerkschaftskoordinator der IG Metall am Standort, Ortsvorstand der IG Metall in Mannheim und ich sitze in der großen Tarifkommission in Baden-Württemberg der Metall- und Elektroindustrie. Ich engagiere mich auch im Migrationsbeirat in Mannheim und bin Mitglied der SPD. Da gibt es gerade besonders viel zu tun, viele Infostände. Aber mitwählen darf ich am Ende nicht.
Ich verstehe, dass meine Vorstellung – das Wahlrecht von der Staatsbürgschaft zu entkoppeln – politisch keine Mehrheiten findet, wenn man nicht zusätzliche Regularien schafft. Die könnten sein, dass man hier geboren ist und in Deutschland seinen Lebensmittelpunkt hat, oder schon sehr lange in Deutschland lebt. Da muss die Politik ran. SPD, Linke und Grüne haben das Thema zwar in ihrem Programm stehen, aber man muss schon sehr lange suchen, bis man an der Stelle ankommt, und in den Koalitionsverhandlungen kippt es dann schnell hinten runter.
Wir diskutieren ja sehr oft darüber, warum Parallelgesellschaften entstehen. Und da spielt natürlich mit hinein, dass es die Menschen an einen Staat bindet, wenn sie wählen dürfen. Ich habe das bei meiner Familie erlebt: Es war bei uns zwar immer wichtig, politisch informiert zu sein – da mussten abends die Nachrichten geschaut werden und die Kinder still sein, während Helmut Kohl sprach. Aber wählen war Sache der Deutschen und der Anspruch auf politische Teilhabe nicht so groß. Das hat sich geändert, als meine Eltern Mitte der Neunziger die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen haben. Ab diesem Moment sind sie Infostände abgelaufen, plötzlich lagen bei uns zu Hause Flyer der Spitzenkandidaten herum.
Inzwischen habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und bekomme dann so eine Art türkischen Pass light. Ich gehe davon aus, dass ich Ende dieses Jahres eingebürgert werde.
Birol Koca, 45, ist Betriebsrat. Er lebt in Mannheim und hat die türkische Staatsbürgerschaft
Hasan Ze Alnoon: „Eine Wahl hatte ich nie. Ich durfte immer nur Baschar al-Assad wählen“
Seit ich wählen darf, gibt es auf unseren Stimmzetteln immer nur einen Namen: Baschar al-Assad. Eine Wahl hatten wir nicht. In Syrien ist es verboten, zu Hause zu bleiben. Jeder muss seine Stimme abgeben. Wenn du mit einer Nadel in die Haut stichst und mit deinem blutigen Daumen wählst, bist du ein besonders guter Bürger. Das ist nicht verpflichtend, aber du bist dann ganz toll. Seit zwanzig Jahren müssen wir diesen Mörder wählen, und die dreißig Jahre davor seinen Vater Hafis al-Assad. Also haben wir insgesamt fünfzig Jahre nur für einen Mann und seinen Sohn gestimmt.
Ich habe mich am Wahltag immer versteckt. Aber als ich in die Universität kam, wurde das schwierig, weil die Türen verriegelt wurden und man nicht rausdurfte, bevor man gewählt hatte. Deswegen bin ich an diesem Tag zu Hause geblieben. Aber am nächsten Tag gab es viele Probleme: Warum bist du nicht gekommen? Wo warst du? Von der Demokratie habe ich nur in Büchern gelesen und im Fernsehen gesehen. Ausprobieren durfte ich sie nicht.
Ich habe in Damaskus gelebt und Jura studiert, aber ich bin auch Dichter. Vorgetragen habe ich meine Gedichte nie, denn über Freiheit und Politik durften keine Texte veröffentlicht werden. Nur Gedichte über Liebe oder Romantik hätte ich vortragen dürfen. Als ich meine Heimat verlassen habe, war mein Traum, dass ich endlich das demokratische Leben ausprobieren kann. Ich hoffte, endlich das Gefühl von Freiheit zu spüren, wählen zu dürfen, wen ich möchte. Aber leider habe ich auch in Deutschland keine Wahl.
Deutschland hat mir viele Rechte gegeben, aber immer noch fehlen mir auch viele. Ich weiß, dass ich in einer Demokratie lebe, aber teilhaben kann ich daran nicht. Ich kann verstehen, warum ich nicht wählen darf. Aber wenn alle ausländischen Bürger und auch Kinder ab sechzehn Jahren das Wahlrecht hätten, würden die Entscheidungen ehrlicher, gerechter und freier sein. Und die Wahlen würden abbilden, wie vielfältig die Gesellschaft ist.
Ich bin ein Mensch, mit oder ohne deutschen Pass. Ich habe großes Interesse an Politik. Ich schaue jeden Tag Nachrichten und gehe zu Veranstaltungen. Ich lese jeden Tag in Zeitungen darüber, was die einzelnen Parteien machen. Wenn ich wählen dürfte, wüsste ich ganz genau, wen.
Hasan Ze Alnoon, 35, ist Jurist und Lyriker. Seine Gedichte hat er in Deutschland zum ersten Mal veröffentlicht. Er wohnt in Berlin und hat einen syrischen Pass
May Zeidani Yufanyi: „Ich halte nicht viel von Nationalstaaten, aber von Teilhabe“
Es gibt mehr als 10 Millionen Erwachsene in Deutschland, die von den Basics der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind. Dazu gehöre auch ich. Ich bin seit 18 Jahren in Deutschland, mit 19 bin ich hier angekommen. Ich habe noch nie anderswo Steuern gezahlt oder eine Wohnung angemietet. Berlin ist die einzige Heimat, die ich kenne. Ich verbringe die meiste Zeit damit, mich für die deutsche Gesellschaft zu engagieren. Ich protestiere auf der Straße, arbeite in einem Antidiskriminierungsprojekt gegen Islamfeindlichkeit, bin im Vorstand des postmigrantischen Netzwerks neue deutschen organisationen aktiv, aber am Ende des Tages gehöre ich zu keiner Zielgruppe der Politiker*innen. Es gibt keine Anreize, mich anzusprechen. Mein Vater ist Palästinenser, meine Mutter Israelin, ich habe einen israelischen Pass – bin also keine EU-Bürgerin und habe damit nicht einmal ein kommunales Wahlrecht.
Praktisch gibt es eine Einteilung in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse – deutsche Staatsangehörige, EU-Bürger*innen und zuletzt alle anderen. Das ist ein enormes Demokratiedefizit und auch nicht zeitgemäß. Die Nationalidentität des deutschen Volks ist nicht mal 150 Jahre alt. Die Teilung zwischen denen, die danach gekommen sind, und denen, die davor schon da waren, ist sehr willkürlich. Migration gab es schon immer, Menschen haben sich schon immer bewegt – nicht erst seit dem Abkommen mit der Türkei, nicht erst seit dem zweiten oder dem ersten Weltkrieg. Deswegen ist es wichtig, dass wir aktuell bleiben, und dass die Menschen, die hier leben, sich regieren, wie es sich in einer echten Demokratie gehört.
Ich halte nicht viel von Nationalstaaten, aber von Teilhabe. Demokratie heißt nicht nur, alle vier Jahre zu wählen. Demokratie ist viel mehr als das. Es heißt, Minderheiten zu schützen und Demokratie zu schützen. Die Wahlen sind aber ein entscheidendes Element für Demokratie. Und da ausgeschlossen zu werden, ist sehr schwer. Wir von den neuen deutschen organisationen fordern das Wahlrecht für alle: das Kommunalrecht für alle, die mehr als drei Jahre in Deutschland sind und das Bundeswahlrecht für alle, die seit mehr als fünf Jahren hier leben.
Die Frage ist nicht, ob wir Migration wollen oder nicht, sondern wie wir leben wollen. Und wenn ich und alle anderen eine Stimme haben, müssten die Parteien viel repräsentativer sein. Weiße Heterofrauen in den Institutionen sind nur ein sehr kleiner Schritt dahin.
May Zeidani Yufanyi, 37, lebt in Berlin und hat die israelische Staatsbürgerschaft
Serges Guilaince Takeng: „Ich darf nirgendwo wählen. Auch wir haben Rechte!“
Praktisch darf ich gerade nirgendwo wählen. Ich bin 2015 aus Kamerun nach Deutschland gekommen. Nach gut sieben Jahren im Ausland müsste ich mich wieder in Kamerun niederlassen und erneut als Wähler registrieren lassen. In Deutschland darf ich auch nicht wählen. Aber ich betrachte Deutschland als mein eigenes Land. Ich habe keinen anderen Ort.
Als jemand, der schon so lange hier ist, denke ich, dass ich das Recht haben sollte, zu wählen. Auch weil die Politik hier einen großen Einfluss auf mein Leben hat: Ich habe eine Duldung, die ich alle drei bis vier Wochen erneuern muss. Ich darf nicht arbeiten, obwohl ich in Kamerun Mechatronik gelernt habe und hierhergekommen bin, um zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Und ich wohne in einem Heim, wo wir zu dritt in einem Raum sind. Während der Pandemie war das sehr schwer.
Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch, der zwei Jahre in Deutschland ist, bleiben will und volljährig ist, das Wahlrecht haben sollte. Denn es sind Menschen, die es gewohnt sind, in ihrem Land zu wählen und die Kompetenz haben! Und wenn ihr Leben sie dazu zwingt, in einem anderen Land zu leben, warum sollte man ihnen dann auch noch das Wahlrecht vorenthalten?
In der Politik werden die Flüchtlinge nicht wirklich gehört. Es gibt eine Grenze zwischen Flüchtlingen und Deutschen. Das bedeutet auch, dass wir unsere Stimme im deutschen Parlament nicht erheben können. Aber auch wenn sich die meisten Politiker*innen nicht für uns interessieren – auch wir haben Rechte! Aber während unserer Zeit in den Heimen haben wir festgestellt, dass es an Menschenrechten mangelt und viele Flüchtlinge ihre Rechte nicht kennen. Mit We’ll come united touren wir jetzt durch die Heime und veranstalten Workshops, um das Bewusstsein zu schärfen und den Menschen klarzumachen, dass sie ihre Rechte verteidigen müssen.
Serges Guilaince Takeng, 37, ist Mechatroniker und hat eine kamerunische Staatsbürgerschaft. Er lebt in Brandenburg an der Havel
Rachel Clarke: „Ich fühle mich von der Demokratie ausgeschlossen“
Wenn ich am Wahltag sehe, wie alle zur Wahl gehen, fühle ich mich von der Demokratie ausgeschlossen. Es ist so, als ob jemand durch eine Menge an Menschen gegangen wäre und sagt: Du darfst, du darfst nicht. Klar beinhalten demokratische Rechte viel mehr als das Wahlrecht, aber es ist eben doch ein wichtiger Teil.
Ich bin vor über zwanzig Jahren hierhergekommen, um Theaterregie zu studieren – und geblieben. Nach fünfzehn Jahren in Deutschland habe ich das Wahlrecht in meiner Heimat Schottland verloren. Weil Großbritannien Teil der EU war, blieb mir das kommunale Wahlrecht. Das ist nicht unwichtig, aber ich war immer traurig, dass ich in meiner Wahlheimat Berlin nicht auf Landesebene mit abstimmen durfte. Dann kam der Brexit, und mit dem Kommunalwahlrecht war es vorbei.
Warum ich keine deutsche Staatsbürgerin bin, hat drei Gründe: Die bürokratischen Hürden sind extrem hoch, sie müssten gesenkt werden. Ich habe als Selbstständige und Künstlerin alle Hände voll zu tun, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe die Staatsbürgerschaft beantragt, alles eingereicht, was man einreichen muss, und bekam dann trotzdem einen zwei Seiten langen Brief mit Kleingedrucktem über alles, was ich noch zusätzlich einreichen sollte. Ich wusste, dass ich das neben der Arbeit einfach nicht schaffe, und habe den Antrag in die Ecke gelegt. Da liegt er noch immer.
Und das zweite: Die Hürden, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, sind für viele noch viel höher als für mich. Ich leite ein Erzählkunstensemble, gerade sind wir mit einer bundesweiten Reihe zum Wahlrecht für alle auf Tour. Für meine Kolleg*innen ist es schwer, einen deutschen Pass zu bekommen, zum Beispiel, weil die Dokumente aus ihrem Heimatland nicht anerkannt werden. Das ist nicht gerecht. Auch diese Leute leben und arbeiten hier.
Außerdem finde ich, dass das Wahlrecht nicht von der Staatsangehörigkeit abhängen sollte. Ich lebe hier, ich arbeite und zahle Steuern hier, ich habe die Sprache gelernt und engagiere mich demokratisch. Ich denke, damit habe ich mehr als genug Kriterien für eine Einbürgerung erfüllt.
Anfang 2020 wurde in Schottland das Wahlrecht für alle eingeführt, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, darunter auch Geflüchtete. Das Gesetz wurde mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet. Was war die Begründung der Regierung? Schottland sollte seiner Verpflichtung in Bezug auf die Menschenrechte nachkommen und das Wahlrecht die Realität der modernen schottischen Demokratie widerspiegeln. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass auch das Wahlrecht in Deutschland modernisiert wird.
Manchmal während des Wahlkampfs gehe ich zu einem Stand einer Partei und frage: Wollen Sie mit mir reden, auch wenn ich nicht wählen darf? Neulich hat mich daraufhin eine Partei zu einer Veranstaltung für Menschen ohne Wahlrecht eingeladen und gesagt, dass sie das universale kommunale Wahlrecht einführen wollen, wenn sie an die Macht kommen. Da dachte ich: Endlich. Ich will nicht sagen, wem ich meine Stimme geben würde, aber für mich sind Klima und soziale Gerechtigkeit ganz wichtig.
Rachel Clarke ist Erzählkünstlerin in Berlin
Giuseppe Silveira: „Ich darf nur bei Kommunalwahlen mitmachen“
Mein Name ist Giuseppe Silveira und ich wohne seit fast fünf Jahren in Berlin. Nach Deutschland bin ich für meine Doktorarbeit im Ingenieurbereich gekommen. Jetzt arbeite ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität.
Ich bin in Brasilien aufgewachsen, habe aber auch die italienische Staatsbürger*innenschaft. In Deutschland werde ich deshalb formell als EU-Bürger wahrgenommen. Aber da ich kein deutscher Staatsbürger bin, darf ich nur bei Kommunalwahlen wählen – in Berlin für die Bezirksverordnetenversammlung. Es ist frustrierend, kein Wahlrecht zu haben, weil ich mich als sehr politische Person wahrnehme. Es ist so eine Art Gegenschlag, der mir zeigt, dass ich eben doch nicht wie alle bin, die hier geboren sind.
Ich bin überzeugt, dass politische Entscheidungen nicht nur in formellen Räumen und Institutionen getroffen werden. Deswegen engagiere ich mich in verschiedenen politischen Gruppen, die mit verschiedene Strategien arbeiten, unter anderem auch mit zivilem Ungehorsam. Aber die parlamentarischen Institutionen sind trotzdem ein wichtiger Ort, von denen ich mich ausgeschlossen fühle. Zum Beispiel habe ich mich bei Deutsche Wohnen & Co enteignen engagiert – aber wie viele andere Menschen in Berlin darf ich mein Kreuz am Ende beim Volksentscheid doch nicht setzen. Das trifft mich schon.
Die Wahlkampagnen und die Politik zielen auf die Menschen ab, die wahlberechtigt sind. Aber jede*r dritte Berliner*in darf nicht wählen – und da sind die illegalisierten Menschen noch nicht einmal dabei. Sie werden einfach vergessen. Das muss sich ändern.
Aber der Ausschluss geht über die Institutionen hinaus. In vielen politischen Gruppen, in denen ich mich bewege, habe ich das Gefühl, dass ich ein bisschen auffalle. Nicht nur, weil ich als Migrant wahrgenommen werde, sondern auch, weil viele Menschen mich als Person of Colour oder nicht zugehörig sehen. Gruppen, in denen ich mich nicht so wohl fühle, sind solche, die ausschließlich deutsch oder weiß sind und wo man sich nicht so viele Gedanken darüber macht, wie es anderen Menschen dabei geht. Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist so ein Kontext, die zwar einige meiner Anliegen verkörpert, in der ich mich aber gleichzeitig nicht immer zugehörig fühle.
Gleichzeitig habe ich viele Privilegien, zum Beispiel, dass ich nicht illegalisiert bin, einen Job habe und meine Miete zahlen kann. Und somit auch ein Stück weit im Parlament repräsentiert bin. Wenn ich wählen dürfte, würde ich wahrscheinlich für die Linken oder die Grünen stimmen. Hier in Tempelhof, wo ich wohne, war die CDU in den letzten Jahren immer vorne und die AfD hat auch viele Stimmen bekommen. Gegen die konservativen Kräfte müssen wir Druck machen. Sowohl an der Wahlurne als auch auf der Straße!
Giuseppe Silveira, 29, möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Der Ingenieur lebt in Berlin und hat die italienische Staatsbürgerschaft
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen