Aufwachsen in Ostdeutschland: Wir Wendekinder
Die Schriftstellerin Paula Irmschler ist 1989 in Dresden geboren. Angesichts der Landtagswahlen reflektiert sie, wann sie zur Ostdeutschen wurde.
I n meinem Kopf ist ein Podium. Darauf sitzen Dirk Oschmann, Ilko-Sascha Kowalczuk und der andere, jemand von der Zeit im Osten, jemand von der Zeit im Westen und eine Schriftstellerin, sie ist Wendekind. Eva Schulz moderiert. Sie diskutieren, was mit dem Osten los ist, mit unserer Demokratie, wie wir wieder miteinander reden können. Wieder. Miteinander. Reden. Das ist das Ziel. Auch das Publikum soll dazu mal was sagen. Das Podium in meinem Kopf soll nur ein Anfang sein, ein Gesprächsangebot. Wir müssen miteinander reden, und zwar wieder. Alle. Wie früher oder wie später.
Ich bin total leer und voll, voll mit Ost, West, Ostwestostwest, aber eigentlich sind es nur diese beiden Wörter, die kleben bleiben, sie sind leer an Inhalten oder zu voll, sodass man nicht mehr durchsieht. Umso mehr ich mich mit dem Thema (oder dem Mythos? oder dem Klischee? oder dem Problem?) „Ost“ beschäftige, umso mehr zerfällt es zu Staub. Es wurde bis zur Unkenntlichkeit zerlabert. Was ist Osten, was ist Westen, wo ist oben und wo unten? Wer sind wir, und wer seid ihr, und warum?
ist bekannt für den Chemnitzroman „Superbusen“ (2020). Ihr neues Buch „Alles immer wegen damals“ (dtv) spielt zwischen Leipzig, Köln und Hamburg.
Wir hießen damals einfach nur Kinder
Als wir Wendekinder aufgewachsen sind, hießen wir einfach nur Kinder, ganz langweilig. Vor unserer Geburt soll irgendwas gewesen sein, worüber keiner viel gesprochen hat: die DDR. Wir hatten noch ihre Eierbecher und ihre Liegen im Hort und ihren Gerhard Schöne – für uns waren es normale Becher und Liegen und Lieder, auch alles langweilig. Alles, was man über die DDR hörte, war raunen, irgendwas daran war traurig und schlecht, aber das war früher. Dabei war es ja eigentlich nur ein, zwei, drei, vier, fünf und dann 15 und schließlich 20 Jahre her.
2014 ist zum Beispiel zehn Jahre her, und ich weiß noch genau, welches Getränk ich in dem Jahr gern gesüppelt habe: Booster Energy. Die DDR aber war schon immer ewig lang her, und das war gut. Wie unsere Eltern drauf waren, ob besonders traurig, erleichtert, einsam, frei, arbeitslos, profitierend, dafür, dagegen, das sollen wir heute gewusst oder gespürt haben, aber hat es uns interessiert? Es war alles normal.
In den Nullern war die DDR hundert Jahre her. Wir rasierten uns, schmierten Labellos auf unsere Münder, wollten berühmt werden, träumten von der Ferne. Der Ort, an dem unsere Eltern lebten: ein Witz. Viele Witze.
Olli Geißen, Henry Maske, die Prinzen, Nena, alle sagten vor der Kamera was über diesen Tag, an dem die Mauer fiel. Plakate, Trabis, Jubeln, endlich war’s vorbei, küssende Pärchen in Jeans, immer wieder. Das Land, in dem wir jetzt lebten, war unseres, sollte, durfte unseres sein, wir mussten uns nur mehr Mühe geben. Der Westen war das Geilste für uns, da wollten wir hin. Der Westen war: Comedy aus Köln, Musik aus London und Filme aus New York. Mühe geben!
Aus dem Fernsehen erfuhren wir, dass unser Dialekt peinlich, unsexy und dumm ist, wir hässliche Frisuren und bescheuerte Namen haben, dass wir arm und dick, dass wir Müll sind, aber immerhin im Fernsehen. Mühe geben, es winkt die Einheit. De Randfichten aus dem Erzgebirge und Tokio Hotel aus Magdeburg waren gerade weit oben in den Charts, als Hartz IV anlief.
In den Zehnern war die DDR dann aber gerade erst gewesen. Jetzt waren im Westen alle frustriert und traurig, mit der Geduld war es vorbei. Hat es immer noch nicht geklappt, sind wir immer noch nicht ein Land? Was ist denn jetzt noch? Ossibücher, Ossibücher, Ossibücher, Talkshows, Podien, Dokus, Konzerte. Es wurde sogar mal hingefahren. Was ist der Osten, was hat der Westen verpasst, ignoriert? Jetzt nach dem 20-jährigen Jubiläum, jetzt zum 25-jährigen, jetzt zum 30-jährigen noch mal die Jeans-Knutschenden.
Die 2020er: Wir sind erwachsen und ab und an im Westen, wir kennen Menschen dort, es durchmischt sich. Leute haben Berufe hüben wie drüben, studieren, oder man kennt sich aus dem Internet. Wir fahren meistens hin, sie lassen sich besuchen, wir haben ja was aufzuholen. Wir stellen im Westen fest, dass wir Ossis sind. Dass was anders ist. Aber was? Dass die Menschen in der Heimat griesgrämiger sind. Aber wir sagen: ehrlicher. Und: Die Hamburger sind ja auch nicht gerade zugänglich.
Du bist wie die Menschen bei mir zu Hause, sagen wir zu einer Liebe, die einfach macht, statt zu labern, und normal vulgär spricht – wie man selbst. Du wirst mich nie verstehen, zu einer anderen, die unfreundlich zu Dienstleister*innen ist und sich ständig Geld von den Eltern pumpt. Wir versuchen auszuloten, was wirklich als ostdeutsch und westdeutsch gelten kann, kommen immer wieder an Grenzen, treffen auf Widersprüche, verwerfen Gewissheiten.
Wir erarbeiten uns das Land der Eltern
Wir sind 30, 40 Jahre alt und erarbeiten uns das Land unserer Eltern, das es nicht mehr gibt, hören das meiste zum ersten Mal. Wir finden manches gut, Ostalgie nennt man das, anderes sehr schlecht. Es war schließlich ein Unrechtsstaat. Wir erfahren Sachen über den Rest Ostdeutschlands, den wir zum großen Teil genauso wenig kennen wie Westdeutsche. Wir staunen über Dörfer im Erzgebirge, über das Thüringer Hinterland, den Alltag in Rostock und Brandenburg. In den kultigen und sepiafarbenen Filmen über den Osten geht es immer um Ostberlin.
Wir streiten mit Freunden und Genoss*innen. Wir sind mittlerweile links und wissen: So hätte es nie gewesen sein dürfen, aber so wie im Westen doch bitte auch nicht, im verschissenen Kapitalismus. So nicht und so nicht und so nicht. Aber wie denn?
Mal wieder Wahlen, mal wieder Podien. Wie es sein soll, darum geht es nicht. Es geht um Mentalität, Freiheit, Meinung, all die großen Begriffe. Dann wieder das Kleine. Klöße, Simson, Frauen durften arbeiten. In Dokus werden Städte erklärt, als lägen sie in einem fernen Land: Jena liegt dort rechts, in Chemnitz steht der Nischel, Görlitz ist an der Grenze. Wann sind wir endlich geeint? Wenn wir wissen, wo was liegt? Ein Volk, ob Eisenach oder Wuppertal.
Die Mauer dazwischen, die in den Köpfen, muss weg. Debattenwahnsinn. Ostdeutsche können mit der Freiheit nicht umgehen, Ostdeutsche sehnen sich nach Autorität, Ostdeutsche werden „geothert“, Ostdeutsche sind wieder stolz, noch ein Aspekt und noch einer. Redaktionen aus Westdeutschland suchen händeringend nach Ostdeutschen, die die rechte Wahl der Ostdeutschen kommentieren. Kennt ihr einen?, fragen sie in der Redaktionschatgruppe – Ja, ich kenne einen, ich schick dir den Kontakt.
Alles soll ein großes Geheimnis, ein Gefühl und ganz kompliziert bleiben – um sich ja nicht mit dem Wesentlichen beschäftigen zu müssen. Am Rande, aber nur da, geht es mal darum: um Ungleichheiten in Bezug auf Wohnen, Arbeit, Einkommen, Gesundheit, Verkehr, Teilhabe – sprich um die im Osten stärker, aber nicht nur exklusiv dort vorhandene Strukturarmut, in der rechte Ideologien am besten gedeihen können
Themen, über die Westdeutsche und Londoner und New Yorker auch reden können, über die man Verbindungen herstellen und solidarisch sein kann, über die man gemeinsame Kämpfe ableiten kann. Gerade mit Menschen, denen viel zu lange jeder Organisationsversuch kaputt gemacht wurde. Das geht alles ohne das aufgeblasene Gerede, das sich nur noch um sich selbst dreht.
Und natürlich muss man die Sorgen armer Leute ernst nehmen. Aber Leute, die rechts wählen, ebenso – und zwar als das, was sie sind: rechts. Der dumme Ossi rafft’s nur wieder nicht, ihm muss irgendwas beigebracht werden? Nein. Es ist völlig klar, wofür die AfD steht und dass sie nicht an der Seite von Ausgebeuteten steht. Wer sie wählt, will auf ihrer Seite sein und nach unten treten.
Das ist eine Entscheidung, die man trifft (und beim nächsten Mal auch wieder anders treffen kann). Es ist einfach so: Menschen sind arm und abgehängt, und manche von ihnen sind rechts. Gegen beides hilft linke, antikapitalistische, antifaschistische Politik.
Das aber wie gesagt nur mal so am Rande. In der Mitte geht es weiter mit den Podien, den großen Begriffen und Köpfen, den Reportagen in den Mediatheken und den Erklärtexten, schließlich gibt es eine neue Generation – sie fährt gern Simse, hört Techno und steht auf ostdeutsche Rezepte. Wie ticken die denn nun wieder?
Wir sind noch lange nicht fertig, es ist noch lange nicht alles erzählt, und der Westen kann nur versuchen zu verstehen. Viel Glück dabei. Im Anschluss spielen noch BAP und Krumbiegel ein Konzert für die Demokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis