7. Oktober – ein Jahr danach: Einbürgerung wegen Likes gefährdet
Palästinenser:innen in Deutschland werden seit Jahren kriminalisiert. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Situation noch verschärft.
Demo-Verbote und willkürliche Festnahmen, Razzien nur wegen Social Media-Posts, Strafanzeigen und brutale Polizeigewalt: Menschen, die in Deutschland gegen den Krieg in Gaza protestieren, werden auf vielfältige Weise drangsaliert. Palästinenser:innen und ihre Freunde sind den Behörden schon lange ein Dorn im Auge: Bereits 2022 und 2023 wurden in Berlin über Wochen hinweg sämtliche Versammlungen, bei denen Menschen öffentlich der „Nakba“ – der Flucht und Vertreibung der Palästinenser aus dem heutigen Israel vor 76 Jahren – gedenken wollten, verboten.
Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Lage verschärft: Innenministerin Nancy Faeser ließ Vereine und die Parole „From the River to the Sea“ verbieten. Propalästinensische Proteste wurden noch stärker kriminalisiert, die Polizei griff noch härter durch.
Bilder von deutschen Polizisten, die Menschen verfolgen und verprügeln, sorgen in den sozialen Medien immer wieder für Aufsehen. Vor zwei Wochen ging ein Video um die Welt, das zeigte, wie mehrere Polizisten mitten in Berlin ein zehnjähriges Kind jagten, das eine Palästina-Flagge trug, und es dann in Gewahrsam nahmen.
Die Fäuste der Polizei sitzen locker
Vor einer Woche, beim Champions-League Spiel in Dortmund, wurde ein Fan des Celtic Glasgow, der eine Palästina-Flagge getragen hatte, in den Katakomben des Stadions von der Polizei verprügelt. Diese Szenen verbreiten sich weltweit im Netz.
„Beim Thema Palästina sitzen bei der Polizei die Fäuste besonders locker“, sagt der Anwalt Andreas Gorski. Und er findet: „Der Aufwand, den der Staat betreibt, um propalästinensische Proteste zu verfolgen, ist teilweise absurd.“ Er geht von tausenden Strafverfahren allein wegen „Äußerungsdelikten“ aus. Behörden und Gerichte seien überlastet. „Der Staat mobilisiert all seine Kräfte“, sagt Alexander Gorski. „Das ist völlig unverhältnismäßig.“
Gorski vertritt mit seinem Anwaltskollektiv fünf Mitglieder der Frauengruppe Zora aus Berlin. Weil diese auf einem Flugblatt in einem Halbsatz die PFLP als „fortschrittliche Kraft“ bezeichnet hatten, stürmte die Polizei ihre Wohnungen. Die PFLP steht seit 2023 auf der Terrorliste der EU. Den Frauen wird „Verbreitung von Propaganda einer terroristischen Organisation“ vorgeworfen. Dass die Polizei ihre Wohnung stürmte „ist für Ermittlungen nicht zwingend“, sagt Gorski. „Aber Politiker können damit medienwirksam Stärke zeigen: wir tun was.“ Das diene auch der Einschüchterung.
Vor zwei Wochen veröffentlichte das ARD-Politikmagazin „Panorama“ eine Recherche. Wenn jemand im Netz die Parole „From the River to the Sea“ postet, kann ihm jetzt die Einbürgerung verweigert werden. So hat es das Bundesinnenministerium in seinen „Anwendungshinweisen“ zum neuen Staatsbürgerschaftsrecht verfügt, das Ende Juni in Kraft trat. Wenn es nach Innenministerin Nancy Faeser geht, sollen Menschen künftig auch schon wegen eines falschen „Like“ abgeschoben werden dürfen.
Bagatellen oder ernstzunehmende Vorwürfe?
Auch die Razzien vom Montag in Berlin wirken überzogen, denn manche der Vorwürfe klingen wie Bagatellen: Ein 25-jähriger Israeli, bei dem die Polizei vor der Tür stand, soll im April auf Instagram den Slogan „From the river to the sea“ und ein Video, in dem Demonstranten diese Parole skandierten, gepostet haben. Einem 18-Jährigen Jugendlichen aus Gaza wird vorgeworfen, „Teil einer Gruppe“ gewesen zu sein, die einen Monat zuvor bei einer Veranstaltung gegen den dort anwesenden Kultursenator Joe Chialo (CDU) protestiert hatte. Dabei soll ein Mikrofonständer in Richtung des Senators geworfen worden sein.
Andere Vorwürfe wiegen schwerer. Ein 40-Jähriger soll vor einem Jahr, am 9. Oktober 2023, den Angriff der Hamas auf Tiktok als „Sieg auf dem Weg hin zu einer islamischen Welt“ bezeichnet haben. Ein 31-jähriger Berliner mit türkischem Pass soll im Dezember 2023 auf Instagram den „Wunsch eines erneuten Holocaust“ geäußert haben, so die Polizei. Ein 20-jähriger, gebürtiger Berliner wiederum wird verdächtigt, Teil einer Gruppe gewesen zu sein, die im Juli in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln mehrere Brände gelegt und Gegenstände zerstört haben soll.
Dennoch stellt sich die Frage, ob das schon eine Hausdurchsuchung rechtfertigt.
Daniel Bax ist im taz-Regieressort. Seit dem 7. Oktober ist ihm Deutschland fremder geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels