Ampel, tritt ab!: Sich ein letztes Mal geil finden
Mit hehren Zielen ist die Koalition in die Legislatur gestartet. Will sie ihrem Anspruch noch gerecht werden, sollte sie geschlossen zurücktreten.
Am Tag der Deutschen Einheit ist Deutschland uneins. Die Ampelregierung ist wie Joe Biden: schnell alt geworden. Das Aufbruchsgefühl mit Selfie von 2021 ist längst verflogen. Und bevor jetzt gleich alle schreien: „Das kann man doch nicht vergleichen!“, doch, kann man. Denn noch eins hat das Ampeltrio Scholz, Habeck und Lindner mit dem Nochpräsidenten Biden gemeinsam: Nur mit ihrem Rücktritt können sie noch gestalten. Biden hat diese Weisheit – wenn auch widerwillig – bewiesen. Das Ampeltrio sollte das auch.
Aktuell behakeln sich SPD, Grüne und FDP, wo immer es geht. Jeder scheint nur darauf zu warten, dass ein Koalitionspartner hinschmeißt. Die Grünen haben gerade ihre Ambitionen für die Legislaturperiode mit dem Rücktritt der Parteiführung über Bord geworfen und drehen auf Wahlkampfkurs. Scholz stimmt einem Bürger zu, der die Ampel als Kindergarten bezeichnet. Und Lindner und die SPD zerlegen sich über die Rente. So lange nerven, bis jemand sie rauswirft, das scheint die Devise der FDP zu sein.
Denn Lindner selbst will die Ampel offenbar nicht aufkündigen, wohl auch wegen seiner Erfahrungen aus den Jamaika-Verhandlungen 2017, die er abbrach und dafür heftige Kritik einsteckte. Lindner will nicht noch mal der Verantwortliche für ein Koalitions-Aus sein. Er ahnt wohl: Wenn jetzt eine Partei hinschmeißt, wird ein Hauen und Durchstechen zwischen den Ampelparteien beginnen: Wer ließ die Regierung platzen? Wer forderte Unrealistisches? Wer ließ es an Regierungsverantwortung mangeln? Die Ampel würde sich nach ihrem Scheitern gegenseitig abwärts zerren. AfD, BSW und Union müssten nur wenig nachtreten und würden massiv profitieren.
Da wäre es noch besser, die Ampel rettete sich streitend über den Rest ihrer Regierungszeit. Doch auch das wäre wohl gefundenes Fressen für CDU, AfD und BSW. Bleibt ein letzter Weg: Loslassen und das eigene Scheitern eingestehen. Es braucht einen finalen gemeinschaftlichen Moment. Lindner, Scholz und Habeck müssen sich öffentlich eingestehen: Wir haben es nicht geschafft. Meinetwegen auch noch einmal mit Selfie.
Neuer Schwung
Das wäre risikoreich. Es könnte passieren, dass die übrigen Parteien noch mehr auf der Ampel rumhacken; dass die Bevölkerung das Eingeständnis als letzten Beweis der Unfähigkeit von SPD, Grünen und FDP sieht. Es wäre aber auch mutig und könnte neuen Schwung geben.
Die anderen Wege stärken fast sicher die Reaktionären des BSW und die Rechtsextremen der AfD. Ein gemeinsamer Rücktritt hingegen wäre eine Chance. Die Parteien würden sich lernbereit zeigen und deutlich machen, dass sie den Unmut der Bevölkerung gehört haben; dass sie nicht um der Macht willen an ihren Ämtern kleben. Der Rücktritt der Grünen-Spitze und die wohlwollenden Reaktionen darauf sind ein Hinweis, dass solch ein Schritt vielen auch Respekt abringen könnte.
Ein Nebeneffekt der Neuaufstellung wäre zudem – und ja, auch hier vergleiche ich wieder mit den USA –, dass es für AfD und BSW schwerer würde durchzudringen. Die Kampagnen von AfD und BSW würden in den Hintergrund treten. Das Ringen um Personal und Positionen in der Ampel würde zum Topthema.
Klar, neue Gesichter sind nicht alles, Rücktritte noch keine Politik. Es braucht auch inhaltliche Neuaufstellungen. Das aktuelle Personal kann das jedoch offenkundig nicht mehr leisten. Ricarda Lang und Omid Nouripour haben das verstanden. Nun muss es auch die Regierung verstehen. Nur wenn sie gemeinsam mit dem Ampeldesaster abschließen, können SPD, FDP und Grüne einen fairen Wahlkampf unter Demokrat*innen führen, der AfD und BSW möglichst klein hält. Dass das dann auch passiert, dafür gibt es keine Garantie. Es wäre aber immerhin eine Möglichkeit. Würden sie gemeinsam ihr Scheitern eingestehen, könnte die Ampel noch einmal Fortschrittskoalition sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Humanitäre Lage im Gazastreifen
Neue Straßen für Gaza – aber kaum humanitäre Güter