Wohnungsknappheit: Opa hat Platz
Wohnraum gibt es genug. Er sei aber schlecht verteilt, sagt Forscherin Anja Bierwirth. Drei Initiativen zeigen, wie man ihn besser nutzen könnte.
Inhaltsverzeichnis
w ochentaz: Frau Bierwirth, müssen wir lernen, anders auf Wohnen und Wohnkultur zu schauen?
Anja Bierwirth: Die Wohnkultur hat sich schon immer sehr verändert. Die Konzentration auf die Kernfamilie bis hin zu Singlewohnungen im urbanen Raum ist nicht immer schon dagewesen. Wohnen unterliegt einem kulturellen Wandlungsprozess, der Zeit braucht. Wenn man die Infrastruktur und die Wohnangebote schafft, die es den Menschen ermöglichen, sich zu verändern, werden sie das auch tun.
Besonders älteren Menschen wird oft nachgesagt, dass es ihnen schwer fällt, sich wohnlich zu verändern.
Die Frage nach dem Wohnen im Alter hat heute eine ganz andere Dringlichkeit und Qualität bekommen, als in früheren Generationen. Es wird gepredigt: „Alte Menschen verpflanzt man nicht.“ Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass das nicht stimmt.
ist Leiterin des Forschungsbereichs „Stadtwandel“ in der Abteilung Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.
Sie setzen sich in Ihrer Forschung viel damit auseinander, wie bestehender Wohnraum anders genutzt werden kann.
Wie will ich wohnen, ist eine große Frage. Dahinter stehen sehr persönliche Geschichten. Wir wissen seit Jahren, dass sich immer mehr, vor allem ältere Menschen in großen Wohnungen überfordert fühlen. Über alternative Angebote für diese Gruppe nachzudenken, ist ein wichtiger erster Schritt. Das bedarf Beratung und Förderung und auch eine Kommune, die überhaupt mal auf die Menschen zugeht und fragt: „Geht es euch noch gut, so wie ihr wohnt?“
Wie könnte ein Alternativangebot aussehen?
Dafür muss man wissen, was die Menschen im Einzelfall wollen. Wollen sie ihre Wohnung gegen eine kleinere tauschen? Wollen sie gemeinschaftlicher wohnen? Oder können sie sich vielleicht vorstellen, Leute ins Haus zu holen und so ihre eigene Wohnfläche zu verkleinern? Damit sich die Menschen für eine Veränderung entscheiden, muss etwas angeboten werden, was zu ihren Wünschen und ihrer Lebenssituation passt. Und sie müssen sich die Veränderung leisten können.
Derzeit ist häufig von Wohnraummangel die Rede, vor allem Familien klagen darüber, dass sie insbesondere in Großstädten keine passenden Wohnungen mehr finden.
Schaut man sich den Wohnungsbestand an, stellt man fest, dass es eigentlich keinen Mangel gibt. Der Bestand ist zu einem großen Teil in einer Zeit gebaut worden, in der es noch selbstverständlich war, in Familien zu leben und nicht überwiegend in Ein- und Zweipersonenhaushalten. Familienfreundlicher Wohnraum ist also eigentlich ausreichend vorhanden, er wird nur oft nicht von Familien genutzt. Tatsächlich werden Einfamilienhäuser in Deutschland im Schnitt von etwas mehr als zwei Personen bewohnt. Der Wohnraum existiert also, er ist nur schlecht verteilt. Einen echten Mangel gibt es bei barrierefreien und altersgerechten Wohnungen.
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Viele neue Genossenschaften versuchen mittlerweile, alternative Wohnmodelle zu etablieren. Ist das eine Lösung?
Es gab in den letzten Jahren eine unglaubliche Gründungswelle. Vor ein paar Jahren war das Thema noch konservativ und verstaubt, da gab es überwiegend alteingesessene, teils über 100 Jahre bestehende Wohngenossenschaften. Das hat sich geändert. Das ist toll. Aber es reicht nicht aus, denn nicht alle Leute können sich privat engagieren.
Sprechen wir über die systemische Ebene. Was muss in Politik und Verwaltung passieren, damit der vorhandene Wohnraum anders genutzt wird?
Nachverdichtungs- oder Umnutzungsprojekte scheitern häufig an Bauplänen und Flächennutzungsplänen. Da geht es um technische Normen, die sich etabliert haben. Schallschutz, Energieeffizienz, Brandschutz – da gibt es im Wohnbau ganz andere Anforderungen als im Nicht-Wohnbau. Wenn ich zum Beispiel nachverdichten will, scheitert das oft an der Stellplatzsatzung, die vorschreibt, wie viele Pkw-Stellplätze pro Wohneinheit gebaut werden müssen. Es gibt Kommunen im ländlichen Raum in Bayern, die weisen mehr als zwei Stellplätze pro Wohneinheit aus. Das ist absurd. Die Frage für Politik und Verwaltung ist also: Wie kommen wir zu flexibleren, individuellen Gestaltungen und Verfahren? Da muss auf Bundesebene, vielleicht sogar auf EU-Ebene etwas passieren.
Das klingt sehr umständlich. Dann doch lieber neu bauen?
Egal ob wir über Städte mit angeblichem Wohnraummangel reden oder über ländliche Gebiete, die unter Schrumpfung leiden – alle weisen Neubau aus. Die Städter sagen, hier wird das Wohnen zu teuer, wir müssen mehr Angebote schaffen, damit die Preise wieder sinken. Die Gemeinden auf dem Land meinen, sie müssten schicke neue Einfamilienhäuser bauen, damit die jungen Familien herkommen. Neubau scheint immer die Antwort zu sein, für alle Fragen von Stadt- und Kommunalentwicklung. Das kann gar nicht sein. Deutschland hat ein Flächenziel von netto null Neuinanspruchnahme von Flächen im Jahr 2050. Wir sind weit davon entfernt, es zu erreichen.
Unsere Neubaupolitik steht also im Konflikt mit unseren Flächenzielen?
Ja. Flächenschutz ist ein bundespolitisches Ziel, aber wenn man den Bund oder die Länder fragt, heißt es dort, Stadtentwicklung sei kommunale Hoheitsaufgabe und da mischen wir uns nicht ein. Ich finde das eine Zumutung für die Kommunen. Sie müssen sich da komplett selbst durchkämpfen. Es wäre viel einfacher, gäbe es von Bundes- oder EU-Ebene so etwas wie einen Leitfaden zur Flächenneutralität. Der kommunale Neubau frisst neue Flächen, aber Bund und Länder helfen auch nicht dabei, das Problem zu lösen.
Die Nutzung von Wohnfläche ist also auch eine Frage der Nachhaltigkeit.
In der Stadt- und Raumplanung wird der Begriff Suffizienz verwendet. Bei Suffizienz geht es zwar um Reduktion, aber das Ziel ist nicht der Verzicht, sondern ein Qualitätsgewinn. Es gibt in Deutschland viele Menschen, die nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung haben. Wenn man diese Menschen angemessen mit Wohnraum versorgen will, ohne alle Nachhaltigkeitsziele zu reißen, braucht man auch Menschen, die Wohnraum abgeben. In der Gruppe der Abgebenden gäbe es viele, viele Menschen, für die das kein Verzicht wäre, sondern ein Qualitätsgewinn.
Drei Lösungsideen
Ein Recht auf Wohnungstausch
Der Mietwohnungsmarkt in den Ballungsräumen ist angespannt. Längst geht es nicht mehr nur darum, eine bezahlbare Wohnung zu finden, sondern überhaupt eine Wohnung zu finden. Auf Wohnungssuchportalen stehen deshalb nicht nur bezugsfertige Mietwohnungen, sondern auch eine Vielzahl von Tauschangeboten. Die Idee: Zwei Parteien, die jeweils einen Mietvertrag haben und sich verkleinern, vergrößern oder anderweitig verändern wollen, stellen ihr Gesuch online und finden eine passende Tauschwohnung. Wenn die Vermieter*innen mitspielen und die Miete nicht erhöhen, ist das oft eine Win-win-Situation.
In Österreich gibt es sogar ein gesetzlich verankertes Recht auf Wohnungstausch. Dort ist im Mietrechtsgesetz geregelt, dass zwei Mieter*innen gegenseitig den Vertrag der anderen übernehmen können, wenn es dafür wichtige Gründe gibt – Familienzuwachs, gesundheitliche Anforderungen oder berufliche Veränderungen zum Beispiel. Auch in der DDR gab es in den 1980er Jahren ein solches Recht. Vergleichbares wird auch für Deutschland immer wieder gefordert. Im September 2023 fand auf Initiative der Linken eine Expert*innenanhörung im Bundestag statt. Doch der Wille zur Umsetzung fehlt bisher, vor allem bei FDP, CDU und AfD ist der Widerstand groß.
Immer mehr kommunale Wohnungsunternehmen ermöglichen jedoch freiwillig den Tausch innerhalb ihres Bestandes. Mieter*innen der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin – ihr Bestand umfasst insgesamt 360.000 Wohnungen – können ihre Wohnung bei gleichbleibender Kaltmiete tauschen. In Potsdam versucht die Wohnungsbaugesellschaft Pro Potsdam den Umzug in eine kleinere Wohnung durch einen Mietnachlass attraktiv zu machen. Radikal gegen Unterbelegung wird dagegen in der Schweiz vorgegangen: Dort haben die Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften und Mietende städtischer Anbieter nicht nur das Recht, sondern meist die Pflicht, ihre Wohnung zu tauschen. Es gilt die sogenannte „Plus 1,5 Regel“. Die besagt, dass eine Wohnung nur 1,5 Zimmer größer sein darf als die Haushaltsgröße. Verkleinert oder vergrößert sich der jeweilige Haushalt, bekommen die Bewohner*innen innerhalb eines Jahres zwei neue, passende Wohnungen vorgeschlagen.
Unterstützung statt Miete
Ältere Dame bietet Studentin gemütliches Zimmer (15 m²) und freut sich über Unterstützung im Alltag und ein bisschen Gesellschaft.“ Solche Anzeigen findet man häufig unter dem Stichwort: „Wohnen für Hilfe“. Jung zieht zu Alt, und die zu groß gewordene Wohnung wird so zur generationsübergreifenden Wohngemeinschaft. Meist gilt die Regel: Pro Quadratmeter des Zimmers fällt eine Stunde Arbeit im Monat an. Mit Geld bezahlen die Untermieter*innen nur Nebenkosten wie Gas, Strom und Wasser. Dafür helfen sie beim Einkaufen, gehen im Garten zur Hand oder leisten Gesellschaft. Pflegeleistungen sind von der Vereinbarung grundsätzlich ausgenommen. Die genaue Abmachung wird in einem Kooperationsvertrag festgehalten.
44 Prozent mehr Wohnfläche haben Senior*innen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in Deutschland.
Vor allem in Ballungsräumen leben viele junge Familien beengt und finden keine passende Wohnung. Erklärt wird das auch mit dem Lock-in-Effekt: Ältere Menschen leben oft in geräumigen Wohnungen mit ungenutzten Zimmern. Weil der Vertrag alt und die Miete günstig ist, lohnt sich ein Umzug in eine kleinere, oft teurere Wohnung nicht.
In Ostdeutschland wohnen Senior*innen auf 15,94 m² mehr als der Durchschnitt, in Westdeutschland sind es 24,89 m² mehr. Im Osten wird generell kleiner gewohnt.
Die Daten stammen aus der Zensusbefragung 2022 vom Statistischen Bundesamt. Darin wird unterschieden zwischen Haushalten mit nur Senior*innen, Haushalten mit Senior*innen und Jüngeren, sowie Haushalten ohne Senior*innen.
In Kiel gibt es das Modell seit 2012. „Die Nachfrage besteht kontinuierlich, häufig auch von internationalen Studierenden“, sagt Kerstin Klostermann vom Studentenwerk Schleswig-Holstein. Die richtige Wohnpartnerschaft zu finden ist dabei nicht immer leicht: Sprachbarrieren können die Vermittlung erschweren. Um derartige Startschwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, begleitet die Wohnvermittlerin des Studentenwerks die Beteiligten von der Suche über das Kennenlernen bis hin zum Einzug. In 29 Städten bieten Studierendenwerke, kommunale Einrichtungen oder Wohlfahrtsverbände derzeit „Wohnen für Hilfe“ an.
Laut Einsamkeitsbarometer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fühlen sich Menschen über 75 besonders häufig einsam. Eine generationenübergreifende Wohngemeinschaft kann durch Gesellschaft, gemeinsamen Alltag und Aktivitäten gegensteuern. Die Jüngeren profitieren andersherum von der Lebenserfahrung der Älteren, sie engagieren sich sozial und können günstig wohnen. Das Prinzip „Wohnen für Hilfe“ nutzt also nicht nur den vorhandenen Wohnraum effizienter, sondern hat zugleich positive soziale Effekte. Inzwischen nutzen auch immer mehr Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen und Familien solche Angebote.
Umbau statt Neubau
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Eigentumswohnung ist zu groß geworden, der Dachstuhl könnte noch ausgebaut werden, oder das Einfamilienhaus ließe sich mit einem zweiten Eingang leicht in zwei Wohnungen aufteilen? Es gibt viele Senior*innen, die nicht gerne aus ihrem Zuhause und der vertrauten Umgebung ausziehen möchten, aber auch viel ungenutzten Platz haben.
Im schwäbischen Tübingen gibt es seit 2020 ein Angebot, das ihnen dabei helfen soll, die private und individuelle Umnutzung im Bestand zu erleichtern. Die Stadt will auf diese Weise bezahlbaren, mietgebundenen Wohnraum schaffen. Unter dem Titel „Haben Sie noch Platz?“ wird eine kostenlose architektonische Erstberatung angeboten, die Einstiegshürden beim Umbau senken soll. „Oft geht es erst einmal darum zu klären, ob eine Umnutzung überhaupt möglich ist und wenn ja, wie sie finanziert werden kann“, sagt Julia Hartmann, Wohnraumbeauftragte der Stadt Tübingen. Die Bürger*innen kommen mit ihren Bauplänen in die Beratungsstelle, die mit den Baurechtsbehörden zusammenarbeitet, und deshalb die baurechtliche Situation schnell und unkompliziert abklären kann.
So ein Umbau dauert seine Zeit. Von der Erstberatung bis zum Einzug in das umgebaute Haus vergehen mindestens ein bis eineinhalb Jahre. 30 größere Beratungen hat die Beratungsstelle bis 2024 durchgeführt, drei Umbauten wurden umgesetzt. Zuletzt wurde das Dachgeschoss eines Reihenhauses ausgebaut und das Haus in zwei Wohnungen geteilt. Oben wohnt eine junge Familie, unten die Hausbesitzer in der barrierearmen Wohnung. Dass bisher nur zehn Prozent der Beratungen tatsächlich umgesetzt wurden, liegt laut Hartmann auch an der Coronapandemie, auf deren Höhepunkt die Kampagne startete. Außerdem gebe es viele Hürden: „Das Baugesetzbuch und die Förderlandschaft sind extrem auf den Neubau ausgerichtet. Der Umbau im Bestand wird stiefmütterlich behandelt“, sagt Hartmann.
Inzwischen interessieren sich aber auch andere Kommunen für das Tübinger Projekt.
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