Antizionismus und Antisemitismus: „Wir müssen einen Konsens finden“
Die Deutschen reden viel über Israel, aber wenig von Antisemitismus. Meron Mendel und Anna Staroselski im Gespräch über Grenzen der Kritik.
literataz: Frau Staroselski, in Berlin und anderen deutschen Städten wurde kürzlich mal wieder der „Kampf auf Leben oder Tod“ gegen das „zionistische Unterdrückungssystem“ gefordert und „Tod Israel! Tod den Juden!“ skandiert. Warum ist das immer noch möglich?
Anna Staroselski ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Als Tochter jüdischer Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine ist sie 1996 in Stuttgart geboren. Sie studiert Geschichte an der Humboldt Universität in Berlin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.
Anna Staroselski: Man muss im Detail schauen, wer zu diesen Demonstrationen mit welcher Absicht aufruft. In Berlin handelte es sich zuletzt um eine Organisation, die als Vorfeldorganisation der Terrorvereinigung PFLP einzustufen ist und die auch in ihren öffentlichen Statements ganz klar das Existenzrecht Israels aberkennt und zu einem gewaltbereiten Widerstand aufruft. Sie verharmlosen und legitimieren Terror gegen Israel. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es zu Ausrufen wie „Tod den Juden und Tod Israels“ kommt. Warum das noch immer passiert, konnte man sehr gut an Ostersamstag in Berlin sehen, nämlich auch, weil die Polizei nicht eingeschritten ist, obwohl sogar Übersetzer vor Ort waren. Grundsätzlich finde ich, dass das palästinensische Samidoun-Netzwerk und die PFLP, die ja bereits auf der EU-Terrorliste steht, in Deutschland ein Betätigungsverbot erhalten müssen.
Das träfe auch etwa auf das dem Iran nahestehende Islamische Zentrum in Hamburg und den Al-Kuds-Marsch, auf dem zur Zerstörung Israels aufgerufen wird, zu?
Meron Mendel wurde 1976 in Ramat Gan (Tel Aviv) geboren. Er ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor für Soziale Arbeit in Frankfurt/Main. Im Streit um die documenta fifteen wurde er als externer Experte hinzugezogen, stieg jedoch nach zwei Wochen wegen mangelnder Bereitschaft zur Aufarbeitung seitens der Leitung wieder aus. Sein Buch „Über Israel reden“ (Kiepenheuer & Witsch) ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert.
Meron Mendel: Generell stimme ich zu. Man muss im Detail schauen, wie die Organisationen strukturiert sind und welche Gefahr sie darstellen. Wenn juristisch nichts gegen ein Verbot spricht, bin ich klar dafür.
Herr Mendel, dennoch hat man Ihnen vorgeworfen, den muslimischen Antisemitismus zu bagatellisieren.
Mendel: Gut, diejenigen, die das behaupten, müssen das auch beweisen.
Staroselski: Ich habe mich schon gewundert, warum Sie sich zum Beispiel gar nicht geäußert haben zu den Geschehnissen von Ostersamstag, wo zu direkter Gewalt gegen Juden aufgerufen wurde.
Mendel: Ja, das ist genau, was ich problematisch finde in der Debatte, dass man nicht gemessen wird an dem, was man sagt, sondern an dem, was man nicht gesagt hat. Es ist doch selbstverständlich, dass, wenn jemand zu Gewalt gegen Juden aufruft, ich das alles andere als gut finde. Es ist nicht meine Aufgabe, jedes Verbrechen, das in diesem Land passiert, zu verurteilen, und ich finde, wir haben genug andere Probleme, als mit der Lupe zu schauen, wer was nicht kommentiert hat. Wenn etwas ausreichend kommentiert und verurteilt wird, bin ich glücklich darüber, dass ich nicht in die Debatte intervenieren muss.
Frau Staroselski schrieb „Antizionismus ist Antisemitismus“. Stimmen Sie dem zu?
Mendel: Ja und nein. Es ist doch immer die Frage, woher der Antizionismus kommt und in welchem Kontext. Die ultraorthodoxen Juden in Me’a Sche’arim werden sich als dezidierte Antizionisten definieren. Das macht sie natürlich nicht zu Antisemiten. Zionismus war nie ein Konsens unter Juden. Der erste zionistische Kongress sollte in München stattfinden, damals hat die Jüdische Gemeinde in München, die antizionistisch war, dagegen protestiert und der Kongress wurde nach Basel verlegt. Ich will damit sagen, wir müssen immer genau schauen, wie Antizionismus begründet wird. Es gibt Formen des Antizionismus, die auch antisemitisch sind. Genauso gibt es nicht-antisemitischen Antizionismus.
Staroselski: Es ist aber ein Unterschied, ob Juden sich dazu verhalten oder nicht, und es ist auch ein Unterschied, ob das Juden in Israel tun oder in Deutschland. Hierzulande spielt der Antizionismus von Juden beziehungsweise genauer, der Satmar-Chassidim, nun wirklich keine Rolle. Darüber hinaus: Den Gedanken eines Nationalstaats abzulehnen, ist in jeder Gesellschaft möglich. Ich finde aber, wenn wir in Deutschland über Antizionismus sprechen, ist das eine andere Debatte, weil wir uns in einer Gesellschaft befinden, die antisemitische Kontinuitäten aufweist, und weil wir schon immer auch israelbezogenen Antisemitismus hatten. Auch bevor der Staat überhaupt existiert hat.
Der dann Israel etwa auch völlig unabhängig von der jeweiligen Regierungspolitik ablehnt?
Staroselski: Ja, das sind Akteure, die Israel sogar unter Jitzhak Rabin abgelehnt haben. Wir wissen auch, dass in der DDR der Antizionismus zur Staatsdoktrin dazugehörte. Und in der BRD der 1970er Jahre hat sich in linksradikalen Gruppierungen wie der RAF etc. der Antisemitismus auf Israel übertragen. Es ist sehr wichtig, zu schauen, wie der Antizionismus in Deutschland formuliert wird, und da kann man die Debatte über Antisemitismus einfach nicht außer Acht lassen. Außerdem muss man über die Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in Deutschland sprechen. Und wenn die Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland eine andere Haltung zu Antizionismus hat und sagt, dass Antizionismus sehr wohl antisemitisch ist, dann muss man das ernst nehmen.
Mendel: Das ist analytisch unscharf. Ob etwas in Israel oder in Deutschland formuliert wird, ist noch kein Argument. Wir müssen uns auf den Gegenstand beziehen. Wer was sagt, spielt zwar eine Rolle, aber wichtiger ist, was das Argument ist. Die Ablehnung des Prinzips Nationalstaat kann ich zwar in der Sache nicht gut finden, ist aber an sich noch nicht antisemitisch. Und zu Ihrer Aussage: wenn eine Vorstellung innerhalb der Mehrheit der jüdischen Community verbreitet ist, würde sie zwangsläufig wahr sein. Das ist kein Argument. Wie soll man diese Mehrheit überhaupt rausfinden?
Aber dass der „Antizionismus ein Vehikel geworden ist, um antisemitischen Ressentiments in einer sozial akzeptierten Form Ausdruck zu verleihen“, steht für Sie außer Zweifel, Herr Mendel, so steht es ja auch in Ihrem Buch.
Mendel: Ja. Das können wir nur an konkreten Äußerungen belegen und schauen, wer den Antizionismus als Vorwand nutzt, um Antisemitismus zu legitimieren. Das muss dann auch ganz klar benannt werden, da bin ich ganz auf der Seite von Frau Staroselski. Aber wenn Menschen jede Form des Nationalstaats ablehnen oder aus theologischen Gründen einen Nationalstaat ablehnen oder sich eine friedlichere Zukunft für den Staat Israel wünschen, indem sich der Staat nicht als jüdisch, sondern nur als demokratisch definiert, tun wir uns keinen Gefallen, diese durchaus legitimen Positionen so pauschal mit dem Antisemitismusvorwurf zu brandmarken.
Staroselski: Aber Antizionismus bedeutet die Ablehnung des Zionismus und das bezieht sich auf das Selbstbestimmungsrecht von Juden und letztlich auf Israels Existenzrecht.
Mendel: Warum? Das bezieht sich auf Israel als zionistischen Staat, aber nicht auf das Existenzrecht. Israel kann auch rein theoretisch als nicht zionistischer Staat mit oder ohne jüdischer Mehrheit existieren.
Staroselski: Zionismus bedeutete in seinem Ursprung, einen jüdischen Staat zu errichten. Wenn man ablehnt, dass ein jüdischer Staat existieren soll, ist das für mich antisemitisch.
Mendel: Was meinen Sie mit ablehnen?
Staroselski: Antizionismus bedeutet, dass ein jüdischer Staat in seiner Form nicht existieren darf. Das, finde ich, ist antisemitisch, und da ist es aus meiner Sicht erst mal egal, wer diesen Gedanken formuliert. Es gibt ja auch Arbeitsdefinitionen, beispielsweise von der International Holocaust Remembrance Alliance, die eine definitorische Übersetzung der Erfahrungen von Jüdinnen und Juden ist. Das Besondere an dieser Definition ist, dass sie eine Reihe von Beispielen gibt, die sich insbesondere auf israelbezogenen Antisemitismus beziehen. Das macht sie so besonders wichtig, weil gerade bei israelbezogenem Antisemitismus sehr häufig nicht klar ist, ob eine Aussage antisemitisch ist oder Entscheidungen der israelischen Regierung kritisiert werden. Aber wenn Israel dämonisiert oder das Existenzrecht Israels abgelehnt wird, ist das auch laut dieser Arbeitsdefinition antisemitisch.
Mendel: Ich definiere mich als Zionist. Nichtdestotrotz müssen wir das Ganze analytisch scharf stellen. Einige, die antizionistische Positionen vertreten, vertreten auch israelbezogenen Antisemitismus. Aber es gibt eben auch in der jüdischen Diaspora viele Bewegungen, auch historische, die antizionistisch sind. Es ist falsch, diese ganze Vielfalt an antizionistischen Positionen nachträglich und in der Gegenwart als antisemitisch darzustellen. Das ist paradox. Ein Großteil der Juden, die außerhalb von Israel leben, ist antizionistisch, und auch ein beträchtlicher Anteil der Juden, die in Israel leben, ist antizionistisch. Sind die alle Antisemiten?
Aber es gibt eine Schnittmenge zwischen Antizionismus und israelbezogenem Antisemitismus.
Mendel: Ja. Da geht mit der Ablehnung der jüdischen Komponente des Staates Israel der Wunsch einher, die Juden loszuwerden aus der Region. Das ist antisemitisch. Aber es gibt auch Positionen, die ich zwar nicht teile, die aber eine andere, vielleicht utopische Vorstellung haben von der Organisation des gemeinsamen Staatswesens nicht nach Religion, sondern nach Staatsbürgerschaft.
Staroselski: Wir reden ja über heute und nicht über einen utopischen Moment. Und wir reden darüber, welche Gefahr Antizionismus für Jüdinnen und Juden in der Diaspora bedeuten kann. Es geht darum, welche Gefahr die antizionistische Propaganda mit sich bringt. Ich habe nicht gesagt, dass alle Juden Zionisten wären, und der Zionismus ist auch keine monolithische Ideologie. Aber es geht doch darum, dass es heute de facto einen jüdischen Staat Israel gibt und dass es Personen gibt, die sagen, dass dieses Land in seiner Form nicht existieren darf und was daraus folgt.
Mendel: Wenn Leute sagen, Israel darf nicht als jüdischer Staat existieren, ist das sicherlich antisemitisch, da würde ich zustimmen. Aber wenn es heißt, Israel soll nicht als jüdischer Staat existieren, ist das vielleicht nicht richtig, aber keinesfalls antisemitisch.
Aber wie geht man mit einem antisemitischen Antizionismus um? Wir führen bei all den Skandalen von Mbembe bis documenta immer wieder dieselbe Diskussion.
Mendel: Genau deswegen brauchen wir Definitionsschärfe. Einige sehen überall Antisemitismus und andere sind blind dafür oder leugnen ihn per se. Wir müssen Werkzeuge erarbeiten, um den Antisemitismus – aber auch falsche Antisemitismusvorwürfe – zu entlarven, und ich denke, an dem Punkt sind wir jetzt: Wir sind uns einig, dass es Formen der Israelkritik gibt, die klar antisemitisch sind.
Aber das Problem ist häufig, dass es nicht um Inhalte, sondern um Sprecherpositionen geht. Wenn etwa auf der documenta in einem Kunstwerk Gaza mit Guernica gleichgesetzt wird, geht es in der Diskussion nicht darum, aus welchen Gründen das eine falsche Parallelisierung ist, sondern es geht um die Herkunft der Künstler:innen.
Staroselski: Ja. Für mich ist außerdem als in Deutschland lebende Jüdin das Problem mit Antisemitismus kein analytisches, sondern ein gesellschaftliches Problem, was auf dem Rücken von Jüdinnen und Juden ausgetragen wird. Wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht sicher fühlen, wenn sie nicht sicher auf die Straße gehen können, wenn sie Sorge haben, als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden, ihre jüdischen Symbole verstecken müssen, dann geht es nicht um analytische Diskussion, sondern darum, dass der Rechtsstaat Jüdinnen und Juden schützen muss, und es bedeutet, dass man sich auseinandersetzen muss mit Antisemitismus und mit Kontinuitäten des Antisemitismus in der Gesellschaft.
Das heißt, die Beschäftigung mit Antisemitismus findet eigentlich gar nicht statt? Sie haben einmal geschrieben: „Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt schwerer als der Antisemitismus selbst“.
Staroselski: Man muss die Sprecherposition von Jüdinnen und Juden ernst nehmen und ich finde, dass das Beispiel documenta, das Sie angebracht haben, ein sehr passendes dazu ist, weil es bereits vor der Eröffnung der documenta jüdische Stimmen gab, die gewarnt haben, dass diese Ausstellung Antisemitismus öffentlich zur Schau stelle. Darauf wurde kaum bis gar nicht reagiert. Die documenta wurde ausgesessen, es gab dann eine Untersuchungskommission und Debatten in Feuilletons über Ausstellungsstücke und am Ende ist nichts passiert. Stattdessen ist man genau in die Situation geraten, zu debattieren, ob jetzt die Künstler, die diese Kunstwerke ausgestellt haben, Antisemiten sind oder nicht. Mir geht es nicht um pauschale Antisemitismusstempel, sondern um die Auseinandersetzung mit antisemitischen Verschwörungserzählungen, mit reproduzierten antisemitischen Inhalten, weil sie eine konkrete Auswirkung auf das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland haben.
Mir scheint, der Zeitgeist ist hier ein anderer.
Staroselski: Es gibt Umfragen, die zeigen, dass heute etwa 70 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre Vorfahren keine Täter waren. Im letzten Herbst ist eine Studie herausgekommen, die besagt, dass knapp über die Hälfte der Deutschen eine Schlussstrichdebatte fordert. Wir hatten bis in die 1980er Jahre personelle Kontinuitäten von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in Verantwortungspositionen und wir sind noch immer nicht an einem Punkt angelangt, wo man sagen kann, dass Antisemitismus keine reale Existenz mehr in der deutschen Gesellschaft hat. Auch vor diesem Hintergrund müssen die Debatten geführt werden, und das ist nicht ausschließlich eine akademisch-analytische Debatte von Wissenschaftlern im Elfenbeinturm, sondern das ist eine Debatte, die in erster Linie Jüdinnen und Juden betrifft, deren Stimme gehört werden muss.
Mendel: Natürlich. Leider ist es so, dass Juden die Leidtragenden sind, aber das gibt niemandem die Berechtigung, den Antisemitismusvorwurf leichtfertig zu benutzen. Wir müssen uns mit jedem Vorwurf auseinandersetzen. Was sich antisemitisch anfühlt, muss nicht auch antisemitisch sein.
Staroselski: Würden Sie das beim Thema Rassismus auch so sagen?
Mendel: Absolut. Wir können nicht die Debatte auslagern und sagen, nur die Schwarzen können jetzt entscheiden, was Rassismus ist und nur die Juden können entscheiden, was Antisemitismus ist. Aus dem einfachen Grund: Es gibt nicht nur eine Meinung von Juden und es gibt nicht nur eine Meinung von Schwarzen. Verletzte Gefühle sind keine Substanz, mit der wir argumentieren können. Es fehlt uns auch nicht an Sonntagsreden und Bekenntnissen gegen Antisemitismus, sondern wir müssen einen Umgang mit den wiederkehrenden Debatten finden, sie differenziert führen und schauen, wie wir wirklich den versteckten oder codierten Antisemitismus analytisch decodieren. Gefühle sind noch kein Beweis.
Staroselski: Man muss erst mal überhaupt ernst nehmen, wenn Jüdinnen und Juden sagen, hier findet Antisemitismus statt, und das nicht als Antisemitismusvorwurf in Anführungszeichen abtun oder den Antisemitismusvorwurf an sich skandalisieren.
Mendel: Warum in Anführungszeichen? Das ist aber doch zunächst einmal faktisch ein Vorwurf.
Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion
Staroselski: Das haben wir bei so vielen Debatten gesehen. Es geht dann nur noch um die Person, die diesen Antisemitismusvorwurf erhalten hat und man setzt sich nicht mit dem Inhalt auseinander oder damit, was tatsächlich passiert ist.
Mendel: Ich habe eine schlechte Nachricht: Jede Debatte funktioniert so, dass es erst einmal einen Vorwurf gibt. Und dieser Vorwurf muss überprüft werden. Klar müssen die Juden ernst genommen werden, so wie die Katholiken oder Evangelen, Frauen oder Männer auch. So ist das in der Demokratie. Jeder muss ernst genommen werden. Darüber gibt es keinen Streit. Aber im Endeffekt ist die Beweislast an denjenigen, die den Vorwurf erheben.
Roger Waters hat neulich im Gespräch mit Ihnen, Meron Mendel, im Spiegel gesagt, „Sie kennen das Wort, das wir nie benutzen durften, aber jetzt benutzen dürfen, weil es ständig benutzt wird, und das ist: Apartheid.“ Mir scheint, er hat da genau die perfide Grenzverschiebung benannt, die auch in postkolonialen Kreisen oft anzutreffen ist, das heißt, so oft in Bezug auf Israel die Wörter Apartheid und Genozid zu wiederholen, bis alle dran glauben, egal wie falsch die Aussage ist.
Mendel: Der Apartheidvergleich ist falsch, aber ich würde nicht sagen, dass jeder, der den Vergleich anstellt, antisemitisch ist. Man muss diese Diskussion führen und Argumente und Belege dafür bringen, warum dieser Vergleich zwischen Israels Besatzungspolitik und der Apartheidpolitik nicht zutreffend ist. Das ist der einzig mögliche Umgang mit diesem Vorwurf. Wir dürfen uns dieser Diskussionen nicht entziehen, indem die Gegenposition pauschal als antisemitisch dargestellt wird.
Staroselski: Der Apartheidvorwurf gegen Israel ist falsch und verharmlost die Realität der Menschen in Südafrika bis in die 1990er. Was die postkolonialen Grenzverschiebungen in Bezug auf die Genozidfrage angeht, sind wir uns vielleicht einig: Man muss an der Präzedenzlosigkeit der Shoah festhalten. Die Behauptung oder Verschwörungserzählung ist ja, dass es jüdische Eliten gäbe, die Deutschland eine Erinnerungskultur aufoktroyiert hätten – mit den Juden als einer besonderen Opfergruppe. Die Absicht ist nun, die Shoah als einen Genozid unter vielen darzustellen. Was aber faktisch nicht richtig ist, schon allein wegen der sogenannten „Endlösung“ – es sollten ausnahmslos alle Juden und Jüdinnen aufgespürt und getötet werden. Die Nichtanerkennung des Präzedenzlosen führt auch zu einer Art Entlastung. Wenn man sagt, Jüdinnen und Juden sind keine besondere Opfergruppe, dann braucht es auch keine besondere Erinnerungskultur in Deutschland. Deutschland wäre dann nur noch eine Nation von vielen imperialistischen zur Zeit des Kolonialismus und Imperialismus, und man bräuchte auch keine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden und entsprechend auch nicht gegenüber Israel.
Mendel: Die Präzedenzlosigkeit sehe ich genauso, nichtsdestotrotz sehe ich nicht, was das Problem ist, darüber zu diskutieren. Wir müssen einfach die besseren Argumente auf den Tisch legen, damit wir in der Wissenschaft wie auch in der breiten Gesellschaft einen Konsens finden.
Staroselski: Man kann diese Debatten führen und das tun wir tagtäglich, übrigens seit Jahren. Ich finde nur, diese Debatte wie auch die documenta haben gezeigt, dass, wenn wir uns in einem Klima von Relativierung und Schlussstrichforderungen befinden, jüdische Perspektiven, die klar den Antisemitismus benennen, abgewehrt werden. Wenn man diese Positionen auch legitimiert, wenn man auch mit Roger Waters, der ein Antisemit ist, spricht und seine Position zulässt, dann kommt man eben zwangsläufig dazu, dass Antisemitismus verharmlost oder legitimiert wird. Und die Konsequenz dessen ist, dass man dann vielleicht nicht solche Demonstrationen wie die, über die wir eingangs sprachen, verhindert, sondern einen gesellschaftlichen Rahmen schafft, in dem solche Demonstrationen zunehmen können.
Mendel: Sie sagen immer, jüdische Perspektiven müssen ernst genommen werden. Was sind jüdische Positionen? Ich finde es problematisch, bestimmte Positionen als jüdische zu deklarieren und andere, die vielleicht für Sie nicht bequem sind, als nichtjüdische.
Staroselski: Ich beziehe mich hier auf demokratisch legitimierte Institutionen, die einen repräsentativen Anspruch haben, die jüdischen Gemeinden und jüdische Menschen in Deutschland zu vertreten, also zum Beispiel der Zentralrat, die Zentralwohlfahrtsstelle etc. Das sind Institutionen, die die Mehrheit der jüdischen Menschen in Deutschland repräsentieren.
Mendel: Die Hälfte der Juden in Deutschland ist nicht organisiert in den Gemeinden.
Staroselski: Viele Jüdinnen und Juden, die von Marginalisierungserfahrungen betroffen sind, haben kein Sprachrohr, und der Zentralrat ist die politische Interessenvertretung dieser Menschen. Ich frage mich, wenn es nicht das organisierte Judentum oder jüdisches Leben in Deutschland gäbe, wie diese Personen überhaupt berücksichtigt werden würden.
Mendel: Ich habe gar nichts gegen den Zentralrat, aber die Frage war doch, wie man bestimmte Kunstwerke oder eine Demonstration bewertet. Und da gibt es eben nicht eine jüdische Perspektive. Wir haben keinen Hohepriester, der uns allen die Linie vorgibt.
Weder eine Anti-BDS-Resolution noch ein Antisemitismusbeauftragter oder eine IHRA-Antisemitismus-Definiton haben bisher konkret viel weitergeholfen in den Debatten. Was tun?
Mendel: Da würde ich zustimmen. Ich glaube, dass mit dem Bundestagsbeschluss oder einem Antisemitismusbeauftragten kein einziger antisemitischer Vorfall verhindert wurde. Da helfen auch keine Sonntagsreden. Wir müssen Antisemitismus bekämpfen, wo er existiert, und Verbündete finden. Dass Menschen sich gegen Antisemitismus auch in ihrem Alltag einsetzen, wird nicht per Dekret passieren.
Staroselski: Aber wie wollen Sie Antisemitismus bekämpfen?
Mendel: Über Bildungsarbeit, das, was ich in der Bildungsstätte Anne Frank auch mache.
Staroselski: Sicher spielt die Bildungsarbeit bei der Prävention gegen Antisemitismus eine wichtige Rolle. Aber in einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft braucht es auch Formen der Intervention und – falls nötig – auch Formen der Repression, die Antisemiten Einhalt gebietet. Dazu gehört eine wachsame Zivilgesellschaft, die bei antisemitischen Vorfällen einschreitet, ebenso wie ein funktionierender Rechtsstaat, der antisemitisch motivierte Straftaten verfolgt und ahndet.
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