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Borkum, 1963, Kinderkurheim: Unsere Autorin, erste Reihe, Vierte von rechts, war damals fünfeinhalb Foto: privat

Kuraufenthalte von KindernWir Verschickungskinder

Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht.

D ie Erinnerung kam vor zwei Jahren bei einer Chorfreizeit zurück. Gundula Oertel saß mit den anderen im Speisesaal der Unterkunft. Eine Mitsängerin erzählte, wie sie als Kind zur Kur war und dort gezwungen wurde aufzuessen. Egal was es gab. Wenn sie das Essen erbrach, musste sie so lange vor dem Teller sitzen bleiben, bis sie auch das Erbrochene gegessen hatte. Plötzlich war alles wieder da, sagt Oertel, die langen dunklen Tische im Speisesaal, der Teller, vor dem sie als Fünfjährige stundenlang allein hocken musste, der Geruch von Milchreis, von dem ihr bis heute schlecht wird.

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Ein Flashback, der blitzartig Licht auf etwas warf, das sich als Bild tief in ihr Innerstes eingebrannt hatte. „Ich hatte lange keine Worte dafür“, sagt Oertel, nur diese Bilder, eher Details von Bildern, die durch das Gespräch mit der Mitsängerin hochgekommen waren. Weiße, auf einem breiten grau gekleideten Rücken gekreuzte Schürzenbänder. Bunte Sandförmchen, die ihr weggenommen wurden und die sie als Einziges in Farbe erinnert – alles andere ist „eisgrau“. „Wie habe ich es bloß geschafft, diese Erlebnisse so lange wegzudrücken?“, fragt sich Oertel.

Und wie soll man über etwas reden, woran man sich gar nicht richtig erinnert, das man am liebsten schnell wieder vergisst? Wie kommt man einer Erfahrung auf die Spur, die einen geprägt hat, ohne dass man sie genau benennen könnte? Eine Erfahrung, die mit Angst und Scham einhergeht, in nicht wenigen Fällen auch mit Traumatisierung. Trauma: Verschickungskind.

Zwischen 8 und 12 Millionen Kinder sind in der Bundesrepublik von Anfang der 1950er bis Ende der 1980er Jahre zur Kur geschickt worden. Weil sie zu blass, zu dick, zu dünn waren, weil sie Asthma hatten, Tuberkulose oder Neurodermitis. In der Regel verbrachten sie sechs Wochen, getrennt von ihrer Familie, in Kinderkurheimen und Kliniken an der Nordsee oder in den Bergen. Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.

Ich habe Gundula Oertel in den letzten Monaten bei ihrem Versuch der Aufarbeitung begleitet. Fragen, die sie sich stellt, stelle ich mir auch. Ich stelle sie mir aber erst, seitdem ich auf ihren Fall und auf das Phänomen der massenhaften Kinderverschickung aufmerksam gemacht wurde. Ihre Geschichte ist bei Weitem nicht die schrecklichste, sondern exemplarisch. Ich habe viele schreckliche Geschichten von ehemals als Kinder Verschickten kennengelernt.

Nur zwei Erinnerungen

Auch ich war ein Verschickungskind. Anders als Gundula Oertel fühle ich mich nicht traumatisiert. Zumindest bei unserer ersten Begegnung bin ich davon überzeugt. Ich habe nur zwei Erinnerungen an meinen Heimaufenthalt auf Borkum, die liegen wie Fotografien unter Glas. Sie haben mich mein Leben lang begleitet. Ich befinde mich auf der Fähre nach Borkum, mir ist schlecht, ich kotze, ich sitze auf dem Boden unter einem Tisch. Ich bin fünfeinhalb Jahre alt.

Ich hatte lange keine Worte dafür

Gundula Oertel

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Eltern in Köln zum Bahnhof gebracht oder dort wieder abgeholt haben. Ich kann mich nicht an den Speisesaal oder Essensgerüche auf Borkum erinnern. Ich kann mich nicht an die Namen der anderen Kinder oder an die Betreuerinnen erinnern. Ich kann mich aber erinnern, dass ich im Freien stand, die anderen Mädchen aufgereiht mir gegenüber, vor ihnen eine Nonne, die mir befahl, vor ihren Augen in einem Eimer mit kaltem Wasser mein Bettlaken auszuwaschen. Ich hatte nachts ins Bett gekackt. Die Szene habe ich gestochen scharf in Erinnerung.

Nicht nur Bestrafung, sondern auch öffentliches Beschämen, Zurschaustellung gehören zum klassischen Instrumentarium der Schwarzen Pädagogik. Ich weiß inzwischen, dass es in den Heimen verboten war, nachts aufs Klo zu gehen. Oft waren die Schlafsäle abgeschlossen. Ich besitze vier Fotos aus unserem Familienalbum, die zeigen: Unsere Gruppe bestand aus Mädchen, es gab Betreuerinnen (vermutlich Praktikantinnen), Nonnen. Draußen Dünen, Frühjahr. Alle Mädchen tragen Jacken und die Haare kurz, reißen den Mund zum Lachen grotesk weit auf. Ich besonders. „Sabine auf Borkum 1963“ hat mein Vater notiert. Mehr habe ich nicht.

Wie viele Verschickungskinder habe ich das Problem, dass die Eltern tot sind und nicht mehr befragt werden können. „Ich werfe es ihnen nicht vor“, sagt Gundula Oertel, „dass sie mich auf Kur geschickt haben. Aber wirklich in Ordnung war es nicht.“ Der Kinderarzt hatte unseren Müttern das Zauberwort „Reizklima“ eingeflüstert, gut für Bronchien, Haut und das Immunsystem. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, mit fünf ebenfalls an die Nordsee verschickt, beschreibt ihre Ankunft in einer kleinen Erzählung, die den Titel „Fieber 17“ trägt:

Bei Gundula Oertel kamen die Erinnerungen spät Foto: Sarah Mayr

„Auf der Insel lernte ich im Handumdrehen alles, was fühlen muss, wer nicht hören kann: die Ohrfeige und den Morgenappell, wie man zum Frühstück eine Tasse Salzwasser leert, wie sich ein Vorschulkind nachts durch die Betten prügelt und am Morgen danach in der Strafecke steht; dass, wer schwimmen kann, nur langsamer umkommt; dass man weder ungestraft Geschichten erfindet, noch ungestraft bei der Wahrheit bleibt: den Betrug beim Diktat von Ansichtskarten, die zu Hause den Eindruck vermitteln sollten, ich sei hier auf Urlaub und auf dem glücklichen Weg der Genesung. In Wahrheit war ich längst auf dem Weg, erwachsen zu werden, wenn ich jeden Montag von Neuem einer der Wärterinnen diktieren sollte, was sie auch ohne mein Zutun geschrieben hätte: Mir geht es gut. Und wie geht es euch?“

Prinzip der totalen Institution

Viele Verschickungskinder berichten, dass sie gezwungen wurden, ihren Familien Postkarten mit positiven Nachrichten zu schicken. „Wir waren eingekerkert in einem System, das von außen nicht zu sehen war“, sagt Gundula Oertel. Das Prinzip der totalen Institution, nennt es die Sozialforschung, die den Begriff für Gefängnisse und Psychiatrien erfand, der aber auch auf Heime zutrifft, wie die So­zial­wissen­schaft­le­rin Birgit Behrensen sagt: von außen auferlegte Regeln, ein Ort der Isolation, Entmündigung und Ohnmacht.

2019 brachte das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ einen Bericht über Verschickungskinder und -heime, der eine Lawine in Gang setzte. Im gleichen Jahr gründete sich die bundesweite Initiative Verschickungskinder, die inzwischen zahlreiche Landes- und Heimort-Gruppen hat. Auf der Webseite der Initiative können Betroffene Zeugnis ablegen von ihren Erfahrungen, über 5.000 Menschen haben bereits einen Fragebogen ausgefüllt.

taz am wochenende

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Oertel schloss sich in diesem Frühjahr einer Gruppe von Verschickungskindern an, die wie sie in St. Peter-Ording waren. Sie tauschten sich in Videokonferenzen aus. „Je mehr Details ich erfahre, je mehr Parallelen ich ziehen kann, desto mehr formt sich ein Bild.“ Im Juni 2021 trafen sie sich in St. Peter-Ording, spazierten gemeinsam zu den einstigen Heimorten. In welchem Heim sie untergebracht war, weiß Oertel nicht. „Ich fuhr dorthin mit der Vorstellung, vielleicht findet mein Körper das Heim.“ Sie fanden es nicht, sie und ihr Körper, zu dem sie seit Kindheitstagen ein gebrochenes Verhältnis hat.

„Ich stehe im Leben“, sagt die heute 67-Jährige, die Biologie und Germanistik studiert hat, zum BUND als Campaignerin ging und sich später als Journalistin für Ernährungs- und Umweltthemen selbssttändig machte. „Ich habe kein verpfuschtes Leben. Aber die Beschäftigung mit diesem Thema fängt an, ein Licht auf Dinge zu werfen, die ich mir nie erklären konnte.“ Stereotype Albträume, Mobbing in der Schule, Vertrauensverlust in menschlichen Beziehungen. Eine Gesprächstherapie konnte „die Dämonen bändigen“, weg sind sie nicht. „Ich würde das gerne unterscheiden“, sagt Oertel. „Was sind meine persönlichen Macken, wie sie jeder hat, und was ist konkret auf die Kinderverschickung zurückzuführen?“

Themen, die Oertel und ich bei unseren Treffen immer wieder diskutieren: Was gehört zur individuellen Veranlagung, was sind später erworbene psychische Schwierigkeiten? Wie unterscheidet sich Erinnerung von Trauma? Warum sage ich, ich fühle mich nicht traumatisiert, sie dagegen schon?

Gundula Oertel als Kind Foto: privat

Es reicht ein Blick auf die Seite der Initiative Verschickungskinder, um zu sehen, dieser Eingriff in kindliche Leben hat großes Leid zugefügt. Fast alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.

Viele Kinder haben geschwiegen, sind dort verstummt. Das Wort „Verstummung“ bringt bei mir etwas zum Klingen.

Es gibt Menschen, die ihre Zeit im Kinderkurheim gut oder zumindest nicht brutal erinnern. Doch es reicht zu sehen, dass andere bis heute unter den Folgen leiden. Weit über tausend Heime hat es in der Bundesrepublik in der Hochzeit gegeben, etwa die Hälfte in privater Hand. An manchen Orten, auf Borkum zum Beispiel, waren es 30. Viel für eine kleine Insel.

Anja Röhl nennt es eine „Kinderverschickungsindustrie“. Industrie, weil ein System dahinterstand, das ineinandergriff. Industrie, weil Millionen von Kindern betroffen waren. Und weil Menschen und Einrichtungen damit viel Geld verdient haben.

Ich besuche Anja Röhl im Sommer in Fürstenwalde bei Berlin. Wir sitzen in ihrem Garten am Stadtrand, die Zucchini in ihrem Gemüsebeet gedeihen üppig, die eingefrorene Torte ist noch nicht ganz aufgetaut. Röhl, Jahrgang 1955, Tochter des gerade verstorbenen Publizisten Klaus Rainer Röhl und Stieftochter von Ulrike Meinhof, zweimal verschickt, hat im Frühjahr ihr erstes Buch zum Thema veröffentlicht, das Grundlagenforschung betreibt. Im Herbst wird das zweite Buch erscheinen, das Lebensgeschichten von Verschickungskindern protokolliert.

Täglich Dutzende neue Mails von Betroffenen

Die Sozial- und Heilpädagogin mit den langen grauen Haaren, die sie mit einem Band aus dem Gesicht fernhält, ist zur Aktivistin geworden. Sie war es auch, die die Initiative Verschickungskinder gegründet hat. Täglich treffen Dutzende neuer E-Mails von Betroffenen ein, die auf Antwort hoffen.

Was ist Verschickung?

„Das sind Institutionen, die sich Kindertagesstätte, Kinderheim, Kindererholungsheim, Kinderkurheim oder Kindersanatorium nannten. Allen gemeinsam ist, dass sie bis zu Sechs-Wochen-Kuren durchgeführt haben, mit Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr, die allein dorthin verschickt wurden. Es war immer ein Arzt im Haus oder dem Haus angliedert. Es gab immer eine ärztliche Diagnose und sie wurde oftmals vom Gesundheitsamt verfügt.“ Die Kosten dafür trug die gesetzliche Krankenversicherung oder die Rentenversicherung, die zum Ausgleich Steuergelder bekamen. Die sogenannten Entsendestellen waren vertraglich an die Heime gebunden und verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Anzahl an Kindern aufzunehmen. Die Aufsicht über die Einrichtungen oblag normalerweise den Landesjugend­ämtern.

Bei ihren Recherchen fiel Röhl jedoch auf, dass viele Kinderkurheime sehr darum bemüht waren, als „medizinisch-pflegerische Einrichtungen“ anerkannt zu werden, weil die Jugendämter dann nicht mehr zuständig für sie waren. Die lokalen Behörden schalteten sich selten ein – zumal die Kurkliniken ein wirtschaftlicher Faktor für die kleinen Nordseeinseln oder Luftkurorte darstellten. „In der Kinderheilkunde und Kinderkrankenpflege von damals muss sich etwas Unzeitgemäßes festgesetzt haben“, sagt Röhl, „abgekoppelt von der pädagogischen Entwicklung der Zeit. Etwas, das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus und davor herrührte.“

Auch die Nationalsozialisten praktizierten, solange es der Krieg zuließ, Kinderlandverschickung. Sie reaktivierten Erziehungsmethoden, die mit viel Gefühlskälte auf Drill und Leistung setzten und eine lange Tradition hatten. Protestantische Ethik, katholische Doppelmoral. Man denke nur an den Film von Michael Haneke „Das weiße Band“, der noch im deutschen Kaiserreich spielt.

Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen

„Wir haben ganz viele Hinweise auf NS-ähnliche Nachinszenierungen“, stellt Röhl fest. „Manchen Kindern wurden am ersten Tag die Haare geschoren, woanders war es üblich, der ganzen Gruppe auf einmal die Mandeln herauszunehmen. Manchen wurde eine Nummer auf den Unterarm geschrieben, manche wurden die ganze Zeit mit einer Nummer angesprochen. Es ist gruselig.“

Manchen Kindern wurden am ersten Tag die Haare geschoren

Anja Röhl

Röhl will das Argument, in den 50er und 60er Jahren seien härtere Erziehungsmethoden gängig gewesen, nicht gelten lassen. „Das geht teilweise weit über schwarze Pädagogik hinaus.“ Sie sieht inhaltliche und personelle Kontinuitäten, die in die NS-Zeit zurückreichen und sich in den wenig kontrollierten und oft isolierten Kinderkurheimen eine Nische und einträgliche Existenz schufen.

Die Ämter wurden oft erst aufmerksam, wenn jemand zu Tode kam. In acht Akten fand Röhl fünf ungeklärte Todesfälle. Sie wurden untersucht, aber niemand zur Rechenschaft gezogen. Die Diakonie Niedersachsen, die eine unabhängige Studie in Auftrag geben hat, hat in Obduktionsberichten zu Todesfällen in ihren Heimen Angaben zu einer möglichen „Erstickung durch Speisebreieinatmung“ gefunden. Die Staatsanwaltschaft, die diese Fälle untersucht hat, sah dennoch andere Gründe als todesursächlich an und schloss die Akten. So gesehen ist der Teller mit dem Milchreis, vor dem Gundula Oertel stundenlang sitzen musste, vielleicht doch nicht harmlos.

Ich bin 1963 auf Borkum gewesen, ich vermute nach einer Hepatitis. Bis vor Kurzem wusste ich nicht, in welchem Heim. Ich beschließe, mit Gundula Oertel gemeinsam nach Borkum zu fahren, wo im November ein Kongress der Initiative Verschickungskinder stattfindet. Was erwartet sie vom Kongress? Zwei Punkte hat sie. Einen persönlichen: „Ich möchte gern wissen, wie frühkindliche Traumatisierung geschieht, welche Langzeitfolgen sie hat.“ Einen allgemeinen: „Welche Systematik steckt hinter der Kinderverschickung, und wie konnte es geschehen, dass die Würde von Kindern so eklatant verletzt wurde?“

Ich stehe davor – und fühle nichts

Etwa 80 ehemalige Verschickungskinder sind zum Kongress gekommen, alle mit einer individuellen Geschichte. Es gibt Lesungen, wissenschaftlichen Input, Arbeitsgruppen. Silke Ottersberg, eine der Koordinatorinnen, hilft mir anhand meiner Fotos, das Heim zu identifizieren, in das ich als kleines Mädchen verschickt wurde. Es ist das Kinderkurheim Sancta Maria, das heute eine Mutter-Kind-Klinik ist. Ich stehe davor – und fühle nichts.

Autorin Anja Röhl auf Borkum Foto: Andreas Behr/dpa

Ich bin erstaunt, dass die Klinik unmittelbar an ein Wohngebiet angrenzt. Ich hatte mir die Lage isolierter vorgestellt. In der Borkumer Kulturinsel, wo der Kongress auf Einladung des Bürgermeisters stattfinden kann, gibt es eine kleine Ausstellung im Foyer, die Informationen zu den einzelnen Heimen zusammengetragen hat. Zu Sancta Maria hat jemand ein Aktenzeichen notiert. 1953 sind dort zwei Mädchen verstorben.

Aber wo fängt man mit der Suche an, wenn einem beim Kongress in Bezug auf den eigenen Aufenthaltsort keiner weiterhelfen kann? Gundula Oertel, von Berlin aus nach St. Peter-Ording verschickt, hat bei der Berliner AOK nachgefragt – keine Antwort. Ich hake nach – keine Antwort. Könnten Akten zur Kinderverschickung im Landesarchiv Berlin gelandet sein? Oertel hat einen Platz im Lesesaal beantragt. Sechs Wochen Wartezeit derzeit, nur zehn Akten auf einmal. Vieles ist noch nicht digitalisiert. Sie beginnt mit den Jahren ab 1945.

Oertel stößt auf ein Schreiben von 1949 an alle Berliner Schulen, in dem darum gebeten wird, „erholungsbedürftige Kinder“ zu entsenden. Sie findet die Kostenaufstellung für ein vom Hilfswerk Berlin betriebenes Heim in St. Peter-Ording, 1949. Sie stellt fest, dass zigtausende Kinder aus Westberlin zur Erholung ausgeflogen worden sind. „Alles lose Fäden“, sagt sie. Oertel hat erneut Archiveinsicht beantragt, der Archivleiter eine lange Fundliste geschickt. Mut hat man ihr dort dennoch nicht gemacht.

Anders als Gundula Oertel weiß ich, in welchem Heim ich war. Geleitet wird es noch immer von den Franziskanerinnen vom Heiligen Märtyrer Georg zu Thuine im Emsland, Niedersachsen. Schwester Maria Cordis Reiker ist Generaloberin und telefonisch zu erreichen. Sie wirkt ernsthaft bekümmert und mauert doch. Der Orden habe eine Dokumentation bei einer unabhängigen Historikerin in Auftrag gegeben, nachdem sich einzelne Verschickungskinder gemeldet hätten. Sie soll Anfang 2022 erscheinen, mehr will sie vorab nicht sagen.

Ob sie Kenntnis von den 1953 in Sancta Maria gestorbenen Mädchen hat?, frage ich mich und beschließe, der Sache selbst nachzugehen. Bei der Suche im Archivinformationssystem stoße ich auf kurze Inhaltsangaben der Archivare: „Personalsachen; Bericht und Zeitungsausschnitt zum Tod der 12-jährigen Margret aus Ochtrup und der 14-jährigen Carola aus Dortmund beim Baden (1953); Druckschrift: Flyer mit Fotos des Heimes und des Heimlebens; Grundriss; Postkarte; Beschwerdebrief einer Mutter über Gewalt an ihren Söhnen 1970; darauf basierend ein Zeitungsausschnitt zu einer gewalttätigen und die Post zensierenden Ordensschwester im Heim 1970.“

Allein diese Notizen belegen, dass zwischen 1953 und 1970 im Kinderkurheim Sancta Maria Vernachlässigung und Repression dazu gehörten. Zumal es Berichte aus anderen Heimen darüber gibt, dass Kinder, die nicht schwimmen konnten, zum Baden im Meer gezwungen wurden.

Ab Anfang der 80er Jahre änderte sich die Gesetzgebung, Heime mussten zumachen, weil Diagnosen nicht mehr so leichtfertig erteilt wurden. Ihre Leitungen schrieben Bettelbriefe an Kommunen, Träger, Ämter, ihnen bitte Kinder zu überweisen, sagt Röhl. Die verbliebenen Heime haben sich in Mutter-Kind-Kurkliniken verwandelt. In der Inselbahn von Borkum-Hafen nach Borkum-Ort sitzt uns eine Mutter mit ihrer Tochter gegenüber. Das Mädchen ist fröhlich, ihr Koffer eine Sensation: ein Londoner Bus, auf dem sie wie auf einem Bobbycar fahren kann. Ab dem Moment, als die Mütter mit ihren Kindern zur Kur fuhren, änderte sich die Atmosphäre in den Kurheimen. Plötzlich waren da Angehörige, die aufpassten, Ärger machen konnten.

Bei dem Kongress auf Borkum sehe ich Tränen fließen. Ich lerne Menschen kennen, die eine Traumatherapie machen, aber auch andere. Jörn, der manisch-depressiv ist und sein Leben lang falsch therapiert worden ist. Friedhelm, der ein Bild mitbringt, das er vor Kurzem von seinem Jahrzehnte zurückliegenden Aufenthalt in Sancta Maria gemalt hat: schwarze gesichtslose Gestalten, der Nonnenhabit, säumen den Weg zum Strand, den wir Kinder in Zweierreihen marschieren mussten. Regina, die weggesperrt wurde und der man zu Hause nicht geglaubt hat. Stefan, den seine Eltern nicht wiedererkannten. Silke, die mit dem Gehstock der „Tante“ verprügelt wurde.

Gundula Oertel reichte es irgendwann nicht mehr, ihrer persönlichen Geschichte hinterher zu recherchieren, auch wenn sie damit noch lange nicht abgeschlossen hat. Sie engagiert sich jetzt in der Berliner Aktivengruppe der Initiative Verschickungskinder, wo es um Strukturen, Sichtbarkeit, die politische Ebene geht. Im Zug sagt sie: „Alle sind wir von der Verschickung betroffen, aber unterschiedlich intensiv. Doch jetzt verschiedene Betroffenheiten gegeneinander aufzurechnen, führt nur dazu, die schwerwiegenden Fälle wie Einzelfälle erscheinen zu lassen. Was uns alle eint, ist doch, dass wir dem Risiko ausgesetzt waren.“

Marie Luise Schreiter, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Uni Tübingen, beim Kongress live zugeschaltet, unterscheidet zwischen dem plötzlichen „Schocktrauma“ und dem „Entwicklungstrauma“, das sich über einen längeren Zeitraum in der Kindheit bildet. Bei Kindern sei das Gehirn noch sehr formbar, und traumatische Erlebnisse könnten sowohl die Entwicklung kognitiver als auch die emotionaler Verarbeitungsprozesse im Gehirn beeinträchtigen. Normalerweise stehen diese Prozesse in sensibler Balance, aber wenn das junge Gehirn in emo­tio­na­len Stress gerät, werden Botenstoffe ausgeschüttet, die zu langfristigen Veränderungen führen können. Zu Angstzuständen, Blockaden, Konzentrationsproblemen oder Depressionen. Jeder kennt es: Kein klares Denken ist mehr möglich, die Emo­tio­nen bestimmen das Verhalten, oder es herrscht Schreckensstarre. Werden die zugrunde liegenden traumatischen Erlebnisse später getriggert, kann dies das Gehirn in den gleichen physiologischen Zustand versetzen wie damals. Das Gehirn vermag dies nicht zu kontrollieren. Es muss lernen zu differenzieren.

Kinder haben Rechte. Auch diejenigen, die mal Kinder waren

In einer speziellen Therapie können Menschen lernen, die physiologischen Signale unter Kontrolle zu bringen. Die herkömmlichen Therapieformen seien dafür allerdings teils unzureichend oder ihre Konzepte veraltet, sagt die Tübinger Neurowissenschaftlerin eine Woche später am Telefon. Schreiters Abteilung wird den Fragebogen der Initiative auswerten, den das Berliner Nexus Institut in Zusammenarbeit mit Anja Röhl konzipiert hat. Von den 5.000 Mitmachenden haben sich 2.500 zu weiteren Untersuchungen bereit erklärt.

Schreiter begrüßt, dass der Koali­tions­vertrag der neuen Regierung auch Bürgerforschung gezielt zu fördern verspricht. Bei der Bürgerforschung – auch Citizen Science genannt – nehmen Betroffene die Forschung selbst in die Hand, indem sie, unterstützt von wissenschaftlichen Einrichtungen, selber Daten sammeln und ihre eigene Expertise einbringen. Dies war auch eine wesentliche Forderung der Initiative, verschiedene Institute haben bereits mit Forschungsvorhaben angedockt, eine Studie zu Medikamentenmissbrauch ist in Arbeit.

Ich frage Marie Luise Schreiter: Haben wir nicht alle unser Trauma? Wird der Begriff zu verschwenderisch benutzt?

„Als Faustregel gilt“, sagt sie, „wenn Leidensdruck da ist, der durch hochemotionale Erinnerungen entstanden ist, kann man von Traumatisierung sprechen. Diese können, müssen aber nicht in der Kindheit oder durch ein einziges Erlebnis ausgelöst worden sein.“

„Natürlich ist es so“, sagt Anja Röhl, „dass wir alle mit bestimmten Traumamischungen leben lernen müssen. Die Kinderverschickung ist dabei manchmal eine ungute Grundierung im Leben, weil sie schon sehr früh erfolgt ist.“

Borkum, Postkarte: „Mir geht es gut“ Foto: Sabine Ludwig/dpa

Entscheidend ist, sagt eine befreundete Psychologin, dass sich Erlebnisse zu einer traumatischen Erfahrung verdichten, wenn sie nicht mitgeteilt werden können, wenn man damit allein bleibt. Weil Eltern ihren Kindern nicht glaubten oder Kinder sich ihren Eltern nicht anvertrauten.

Ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Eltern nicht über das eingekackte Bettlaken gesprochen habe. Nicht über die Scham, öffentlich vorgeführt worden zu sein. Fällt es mir deswegen schwer, für mich einzutreten, vor anderen zu sprechen?

„Meine Erinnerung ist körperlos“, sagt Gundula Oertel. „Ich habe nur den Gefühlsgehalt der Bilder, an die ich mich erinnere, im Kopf. Ich war dis­tan­ziert, vielleicht sogar sediert.“ Anders als Erinnerungen haben Traumata kein Narrativ. Sie ändern, sie verformen sich nicht.

Bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele

Sie bleiben bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele liegen. „Es ist ein schwarzes Loch“, sagt ein Kongressteilnehmer. „Das verunsichert, weil man nicht weiß: Welche Programmierung habe ich damals bekommen, die ich nicht kenne?“

Der Kongress beschließt eine Resolution, die auf die Webseite der Initiative wandert. Gundula Oertel versucht, eine Formulierung einzubringen, die mehr auf das Politische, die Gemeinsamkeiten aller Verschickungskinder hinweist. „Spätestens, sobald Entschädigung gefordert wird, erweist sich die Verengung auf individuelle Schicksale als schwieriges Terrain.“

In Berlin verabredet sie sich mit dem 72-jährigen Historiker Karl Pecha­tscheck und anderen ihrer Ortsgruppe zum Videogespräch. Pechatscheck hat ein internes Papier verfasst, Oertel hat es aufgegriffen und weitergeschrieben. Dem Historiker liegt daran, die Kinderrechte allgemein in den Fokus zu stellen, nach vorne und nicht zurück zu blicken. Oertel hingegen will den eigentlichen Skandal aufarbeiten, der hinter dem System Kinderlandverschickung stand.

Auf Landesebene hat sich etwas getan. In Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein hat es Anhörungen im Landtag gegeben. Baden-Württemberg hat einen runden Tisch eingerichtet, Nordrhein-Westfalen hat am 30. November einen solchen beschlossen.

In zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch

Auf Bundesebene geht es langsamer. Dort fand zwischen der Initiative und den zuständigen Ministerien in zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch statt. Die angekündigte Fortsetzung des „Fachaustauschs“ sei „bislang nicht möglich gewesen“, schreibt ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums auf Anfrage der taz, „da sich die Bundesregierung im Sommer intensiv den gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona gewidmet hat und derzeit die Regierungsneubildung ansteht“. Immerhin wollte der SPD-Bundesparteitag am vergangenen Wochenende über einen Antrag zur Aufarbeitung der Kinderverschickung abstimmen.

Die Initiative hat einen Forschungsverein gegründet, Vorsitzende ist Anja Röhl. „Wir streben kollektive Wiedergutmachung an“, sagt sie, „in Form von Beratungsstellen und Unterstützungsangeboten bei der Heimort-Recherche und Bürgerforschung. Wir brauchen runde Tische, individuelle Entschädigungen sind nicht unser vordringlichstes Thema. Wer will 12 Millionen entschädigen? Wir wollen einen Skandal aufklären!“

Auch Gundula Oertel erwartet kein Geld, sondern wünscht sich tatkräftige Unterstützung auf allen Ebenen. „Menschen haben keinen Wert, sie haben Würde“, sagt sie, ein Zitat von Immanuel Kant.

Und Kinder haben Rechte. Auch diejenigen, die mal Kinder waren. Und das Kind, das ich mal war, sagt mir, dass ich vielleicht mit einer anderen Trauma­mischung zu tun habe, als ich bisher dachte.

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73 Kommentare

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  • Meine Erinnerung an St. Peter-Ording 1976: Ich war 6 Jahre alt und mit meiner Schwester (9) vier Wochen im Jugendheim „Tannenblick“. Schlimmste Erinnerung: Ich wollte den Spinat nicht essen. Erste Drohung: dann gehst du jetzt sofort ins Bett! Als das nicht fruchtete, wurde mir die Nase zugehalten, bis ich den Mund zum Luftholen öffnen musste und dann wurde mir der Löffel in den Mund gedrückt. Ich erinnere mich noch, wie es mir wieder hochkam. Ansonsten habe ich keine negativen Erinnerungen, aber diese eine reicht, denke ich. Traumatisiert fühle ich mich nicht, doch durch diesen Bericht kam so einiges wieder hoch… mein Mitgefühl für diejenigen, denen es noch schlimmer ging als mir. Meinen Eltern habe ich anschließend davon erzählt und sie verschickten mich nie wieder. Eine Beschwerde ihrerseits dem Heim gegenüber wurde aber nicht in Betracht gezogen und wäre damals sicherlich auch aussichtslos geblieben.

  • Ich wurde in den 60er Jahren als 6-jähriges Mädchen völlig unvorbereitet nach Borkum ins Adolfinenheim verschickt und kann viele der geschilderten Grausamkeiten als erlebt bestätigen. Milchsuppen, die wir damals mit Zwang in uns hineinwürgen mussten und deren Geruch noch heute bei mir Übelkeit erzeugt, waren noch das Harmloseste in einer langen Serie unmenschlicher Mißachtung kindlicher Grundbedürfnisse. Die seelischen Verletzungen, die uns Kindern damals zugefügt wurden, sind heute, nach mehr als 50 Jahren, bei mir immer noch schmerzhaft spürbar und sitzen tief.



    Bei einem "therapeutischen" Besuch auf Borkum von einigen Jahren habe ich die Stelle aufgesucht, an der das Adolfinenheim stand - es wurde offensichtlich von längerer Zeit abgerissen und das Grundstück sollte wieder bebaut werden (Feuerwehr?... Post...? Ich weiß es nicht mehr). Der Bauschutt des Heims kam durch die Baggerei wieder zum Tageslicht. Diese Überreste zu sehen war eine unfassbare Erleichterung für mich und eine Scherbe einer gelben Badesaal-Fliese wurde in meine "Trophäensammlung" aufgenommen.

  • Mit großem Interesse und noch mehr Überraschuung habe ich Ihren Artikel "Verschickungskinder" gelesen.



    Als 1958 geborener Junge bin ich erstmals mit fünf Jahren und dann noch einmal mit 9 Jahren für je vier Wochen im Bielefelder Kinderheim in Wangerooge gewesen.



    Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich habe es dort toll gefunden und denke heute noch gerne an die beiden Aufenthalte zurück.



    Warum ich dort hingeschickt worden bin, weiß ich nicht. Und auch meine kürzlich verstorbene Mutter konnte sich mit über 90 Jahren nicht mehr an den Grund erinnern. Aber es ist wohl über das Bielefelder Gesundheitsamt gelaufen.



    Was wirklch schlimm war, war das Heimweh in den ersten Tagen des ersten Aufenthaltes. Und an Merkwürdigkeiten gab es vor dem Frühstück für etliche Kinder, auch für mich, einen Becher gereinigtes Meerwasser zu trinken und für alle statt eines Getränks zum Butterbrot eine dünne Milchsuppe. Das hat mich aber beides nicht weiter gestört.



    Dass wir Jungens nach einem Wannenbad (immer zu zweit in einer großen Holzwanne) mit warmem Meerwasser splitterfasernackt in einer langen Reihe aufgestellt von einer Badefrau mit einem kalten Wasserstrahl abgespritzt wurden, war schon etwas unangenehmer, aber auch nicht wirklich schlimm.



    Als ein Nachbarsjunge, der in Bielefeld funf Häuser weiter wohnte, einen Telefonanruf von seinen Eltern bekam, habe ich allerdings vergeblich auf einen solchen von meinen Eltern gewartet. Aber meine Eltern haben als brave Untertanen dem Wunsch des Heimes (oder des Gesundheitsamtes) Rechnung getragen und mich nicht angerufen.



    Das war es aber auch schon an fragwürdigen Dingen. (Nein stimmt nicht ganz: Ich habe dort die Masern bekommen).



    Der Rest dort war so schön, dass ich, als meine Eltern mich vier Jahre später fragten, ob ich noch einmal dort hin wolle, sofort "ja" gesagt habe. und der zweite Aufenthalt war noch schöner.



    Bei beiden Aufenthalten habe ich weder körperliche noch psychische Gewalt noch irgendwelche individuellen Erniedrigungen erfahren.

  • Hallo bin 1972 geboren habe mich total erschrocken als ich mich auf dem Bild gesehen habe 😳ich habe sogar ein paar andere Kinder erkannt kenne aber die Namen nicht mehr 🤷🏻‍♂️Ist das überhaupt rechtlich mein Foto zu zeigen ohne mein Einverständnis?

    • @sascha Krimpenfort:

      Nur aus Interesse: hat sich hier schon jemand bei Dir gemeldet? Eigentlich aus Datenschutzgründen gar nicht zulässig.

  • Also in der DDR war das nicht anders. Ich hätte nicht gedacht, dass es anderen Kindern auch so ging wie mir. Ich war mit 4 Jahren zur Kur auf Rügen. Das war im Winter 1979. Als ich dort ankam mit dem Bus, wurde uns gleich unsere Koffer weggenommen und ganz oben auf den Schrank gestellt. Ich hatte keine Chance da ranzukommen. Also hatte ich die ganze Zeit die gleichen Klamotten an. Leider war das mitten im Winter und meine Mutter war der Meinung, eine Strumpfhose und ein Rock wäre die richtige Bekleidung. Ich habe da so sehr gefroren. Es war so eiskalt, dass die Ostsee gefroren war. Daran kann ich mich noch erinnern. Es lag meterhoch Schnee und ich hatte eine Strumpfhose an mit einem kurzen Rock.



    In der Nacht waren wir in einem riesigen Schlafsaal und durften in der Nacht nicht auf die Toilette gehen. Ich weiß noch, dass ich Ewigkeiten an die Tür geklopft und gerufen habe, bis die die Tür endlich aufgemacht haben und zwar nur, damit die anderen Kinder nicht aufwachen. Ich habe mich dann die anderen Nächte immer rausgeschlichen, wenn die eine Erzieherin reinkam um zu kontrollieren, ob wir schlafen. Ich habe dann immer so getan, als ob ich schlafe und bin dann schnell rausgerannt und wieder rein, bevor die fertig war mit kontrollieren. Zum Glück wurde ich recht schnell krank. Ich hatte einen starken Schnupfen. Nur habe ich keine Taschentücher bekommen. Ich hatte genau ein Taschentuch, dass ich die ganze Zeit habe trocknen lassen, bis ich es wieder benutzen konnte. Mehrere Tage habe ich es so benutzt. Dann war ich so krank, dass ich ins Krankenhaus kam. Und dann bin ich irgendwann mit dem Zug nach Hause geschickt worden.

  • Ich hab hier heute zum ersten Mal über Verschickungskinder gelesen, ich bin 1969 geboren und war wohl eins der "letzten", die das 1980 erlebt hat. Für mich ging es in den Schwarzwald. Ich hab gerade mal gegoogelt, ob es dieses Kinderhaus überhaupt noch gibt.



    Meine Erinenrung daran ist, dass mich damals ein Betreuer dazu aufforderte mich von ihm fotografieren zu lassen, ich seh mich noch da stehen, lange blonde Haare, enges T-Shirt, Hotpants, Kniestrümpfe und so eine Art Clogs mit Absatz. Warum mir gerade das in Erinnerung geblieben ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich weil ich mich sehr unwohl dabei gefühlt hatte und weil dieser Betreuer oft nachts durch die Zimmer patroulierte. Es wurde viel Sport gemacht, auch das weiß ich noch und wir Mädchen wurden von den Betreuern immer beobachtet.

  • Danke für diesen Artikel, der mich über meine Verschickung nach Braunlage nachdenken lässt.

  • Leider höre ich gerade erstmals vom Aufgreifen der Thematik in Büchern etc.Ich war mit 4 erstmals 3 oder 4 Wochen im Kinderheim und es war dort ganz o.k.Bloß dass mich jahrzehntelang nichts in die Gegen dieser Nordseeinsel gezogen hat. Mit 50 fiel mir das auf und ich fuhr hin. Ich fing durch das alte Haus, das war gut. Die Leiter lebten noch und die sagten, als ich das Verschickungsalter erzählte, oh, das war ja was früh.Da dachte ich allerdings, hättet ihr mal damals sagen sollen! Ich habe mich dort einsam gefühlt.Es waren weniger schreckliche Erlebnisse als vier Wochen in einer Weltzu verbringen, von der man niemand wiedersieht und die Eltern nichts von wissen. Befremdlich.Sie meinen man kommt nach Hause und können beim Stand vorher anknüpfen.

  • 1966 war ich (freiwillig) drei Wochen zu einer Sportfreizeit in Puan Klent/Sylt.



    Ich kann mich nicht beklagen.

    An einer Hausfassade stand:



    Ordnung, Sitte, Tugend,



    bewahre deutsche Jugend.

    Ich weiß nicht, ob das heute noch dort steht.

  • Ich war 1960 in St. Peter-Ording im Haus Frisia, sehr sauber und gepflegt. Essen war in meiner Erinnerung ganz gut, Trinken war definitiv zu wenig. Die Schwester(n) (Frauke) waren sehr nett und erbrochen hat sich nie jemand. Mittagsschlaf war obligatorisch, ebenso wie tägliche Ausflüge ans Meer. Ich habe die Zeit als 1o-jähriger sehr genossen und erzähle heute noch manchmal von der Zeit. Ich habe damals nichts von diesen Horrorgeschichten mitbekommen und bislang auch noch nie etwas davon gehört. Ich finde es sehr schade, dass manche so traumatische Erinnerungen haben, aber offensichtlich gibt es auch ganz andere Erinnerungen.

  • Ich war zwar nicht zur Kur, musste aber Anfang der 1970er Jahre in ein Kinderkrankenhaus in Hannover. Meine Eltern haben mich dort nach einem wochenlangen Aufenthalt gegen den Willen des Krankenhausarztes herausgeholt. Ich hatte als Säugling in Berlin eine damals spektakuläre Op und sollte nur zur Kontrolle in die Klinik. Es war ein Alptraum. Die Mitbringsel unser Eltern wurden uns von den Schwestern weggenommen. Auch auf eindringliche Nachfrage meiner durchaus durchsetzungsstarken Eltern blieben sie verschwunden. Manche Tage durfte ich nicht aus dem Bett. Dabei war ich ein sehr lebhaftes Kind. Für die Untersuchungen musste ich Ewigkeiten splitternackt in einem dunklen Keller auf dem Röntgentisch warten. Ich habe diesen Krankenaufenthalt niemals vergessen und bin immer noch traumatisiert in Bezug auf klinische Behandlungen. Bei den Geburten meiner Kinder war das ein echtes Problem. Wir sind beide Male ein hohes Risiko eingegangen, weil ich beide Kinder in kleinen Krankenhäusern ohne Kinderstation entbunden habe.

    • @Sanddorn66:

      Hallo Sanddorn 66,



      auch ich war Anfang der 70er Jahre in der hannoverschen Kinderheilanstalt mit ähnlichen Erfahrungen. Meine drei Kinder wurden ambulant geboren aus diesem Grund. Nach der ersten Geburt hatte ich eine Vollnarkose, weil die Plazenta nicht kam. Ich bin trotzdem nach Hause gekrochen, anders kann man das nicht nennen. Auch ich bin traumatisiert in Bezug auf klinische Behandlungen.

  • Ich war mit ca.6 Jahren in St.Peter Ording in einem Heim verschickt,das Heim hieß Gorch Fock Haus zum Glück war meine allerbeste Freundin mit so war es erträglicher ,die 6 Wochen waren sehr lang und alles andere als schön,man musste alles auf essen selbst wenn es einem schon "hoch"kam,immer runter damit,auf ,s Klo durfte man ,wenn schlafenzeit war nicht mehr,hat man nicht gehört musste man drinnen bleiben ,wärend die anderen am Strand waren,es ging alles sehr streng zu.

  • Bei mir muss es 1970 oder 1971 gewesen. Bei der Schuleingangsuntersuchung für zu dünn befunden (damals konnte man mir mit Essen den Tag versauen, weil ich dafür Zeit zum Spielen verplempern musste).



    6 Wochen Kur im Jugendseeheim auf Sylt. Da ich keine Ahnung hatte was Kur ist war es erst mal interessant. Im Sonderzug nach Sylt, dort auf die Zimmer, mit mehreren Jungs. Das war eigentlich entspannt. Wenn mal jemand ins Bett gemacht hatte war das auch kein Drama. Mittags gab es immer die Lebertran- (Fischöl) und andere Vitaminkapseln, das war gewöhnungsbedürftig aber nicht schlimm und wenn man nicht aufgegessen hatte war das auch kein Problem. Irgendwann dann Kopfläuse und alle wurden mit dieser fiesen Tinktur für die Haare behandelt und regelmäßig kontrolliert. Wirklich negativ war, dass eine Mutti, die mit ihrem Kind da war (warum auch immer) sich für die Dauer der Aufenthalts meinen schönen Bademantel für ihren Balg "ausgeliehen" hat. Als wir zurück kamen hatte ich mir fest vorgenommen das alles den Eltern zu sagen, dies aber vor lauter Wiedersehensfreude vergessen.



    Was hilfreich war, dass eine Verwandte, damals dort in der Küche eine Ausbildung gemacht hat und man sich nicht so ganz allein gefühlt hat.



    Was ich dann auch später erfahren habe ist, dass der Heimleiter aus dem Nachbarort und Nachbar meiner Großeltern war und seine eigene Tochter auch immer mal dort hin mitgenommen hat.



    Da ist mir heute (wo diese schlimmen Fälle bekannt geworden sind) auch klar geworden, dass ich in dieser Hinsicht Glück gehabt habe.



    Die Frage ist ja wie bei anderem Missbrauch auch, wie kann man so etwas wieder gutmachen? Da kann man doch nur denjenigen, die es aus der Bahn geworfen hat die Hilfe zuteil werden lassen um ein halbwegs "normales" Leben zu führen und vor allem zu verhindern dass sich solche Dinge wiederholen. Da gilt es einfach irgendwelche religiös-weltanschaulichen Grauzone zu verhindern in dem so was gedeihen kann.

  • Vielen Dank für diesen erschütternden Bericht. Was will man auch erwarten von einem Land, das nach dem zweiten Weltkrieg einfach weitermachen konnte. Mit den gleichen Menschen in den gleichen Positionen. Das ist das wirkliche Drama, dass unter den Augen der Welt einfach weitergemacht werden konnte.

  • Ich war als 5-jähriger 1971 auch auf so einer Kur in Bad Soden, weil ich so dünn war.



    Ich hatte eine schöne Zeit damals. Meine Eltern berichten, dass ich gutgelaunt zurückgekommen bin und auch etwas zugelegt hatte.

  • Was will man erwarten, nach ein paar Jahren/Jahrzehnten nach dem NS-Regime? Einige dieser "Strukturen" haben sich bis heute gehalten...

    • @Henry Ford:

      Ja ne is klar. Solche Vorfälle gab es auch NUR in Deutschland. Wegen der NS-Vergangenheit.

  • Hallo,



    ich bin Ende der 80er Jahre mit meinem Bruder zusammen nach St. Peter-Ording zur Kur geschickt worden, da wir doch recht 'dünn' waren.



    Ich habe Glück gehabt.



    Es war eine recht schöne Zeit, an die ich mich gerne zurückerinnere.



    Ich kann mich noch an das Haus (Kiebitzhof), den Garten, das große Windrad, das Essen und an eine liebe Erzieherin (Martina) erinnern, die mich von 'The Cure' überzeugen wollte... und welche später tatsächlich meine Lieblingsband wurde.



    Die Griesssuppe habe ich geliebt und später, als Erwachsene immer wieder versucht nachzukochen...



    Wir haben lange, aber schöne Spaziergänge in interessante Gegenden und mir bis dato unbekannte Naturareale gemacht.



    Auch wenn diese oft anstrengend waren, es war für mich eine wichtige und positiv prägende Erfahrung dort gewesen zu sein, welche ich nicht missen möchte.



    St. Peter-Ording ist bis heute ein wichtiges Reiseziel für uns geblieben.

    • @Nihil:

      Ich war auch als Kind mit ca.5 oder 6 Jahren in St.Peter Ording ,ich weiss noch das ,das Heim Gorch Fock Haus hies,davor war ein Baum Streifen und dann kam schon der Strand

  • Ich war auch auf solch einer "Verschickung", 4 Wochen auf Spiekeroog, mit 11 Jahren, und fand es wirklich toll:



    in klein wenig Heimweh in den ersten Tagen, aber das ist wohl normal, wenn man das erste mal allein von zu Hause weg ist.



    Aber dann 4 Wochen Toben an der frischen Luft, Bernsteinsuchen am Strand, Spielen in den Dünen, Basteln mit Treibholz, Schwimmen gehen, Pony Reiten, Seehunde beobachten.



    "Esszwang" gab es nicht, nach einem Tag an der frischen Luft kam der Hunger von allein.



    Ich habe dort Freunde gefunden, mit denen ich noch viele Jahre später in Kontakt geblieben bin.



    Hängt aber vermutlich sehr vom Einzelfall ab, wie das ganze empfunden wird, sowohl von den jeweiligen Erziehern wie auch von Entwicklung und Selbständigkeit des Kindes.

  • Das war in der DDR genau so. Unmenschliche Erzieher, die ihre Grausamkeiten an den Kindern abarbeiteten. Entzug von Trinken bei Nichtaufessen oder Erbrechen. Das war alles sehr, sehr schlimm. Allerdings gab es auch eine nette Erzieher darunter. Das waren aber nicht die Leitenden.

    • @Matrix:

      Ich war in der 2. Hälfte der 70er in der DDR zwei Mal zur Kur, weil ich zu dünn war. Beide Mal war es eine sehr schöne Zeit. "Unmenschliche" Erzieherinnen habe ich nicht vorgefunden. Nur welche, die sich viel Mühe mit uns gegeben haben. Und zum Essen hat uns auch niemand gezwungen.

      Kann sein, dass Sie andere Erfahrungen gesammelt haben. Aber bitte pauschalisieren Sie diese nicht.

    • 4G
      47475 (Profil gelöscht)
      @Matrix:

      Ich weiß nicht woher Sie das Recht zu einer solchen Äußerung nehmen- Aber klar, in der DDr muss es ja schlimmer gewesen sein. Ich kenne diese Zustände nicht, es war nicht immer alles rosig, aber das ist es in einer Familie auch nicht. Ich hatte eine Pflegetochter aus einem Kinderheim. So etwas kenne ich nicht.

      • @47475 (Profil gelöscht):

        Darf @MATRIX seine Erlebnisse nicht schildern, nur weil diese in der DDr erlebt wurden? Sie fragen nach dem Recht? Ernsthaft? Unglaublich - haben Sie Ihren Dienst genossen? Seinerzeit.

  • Unfassbar solche Zustände, da hat wohl noch der NSDAP Erziehungs-Geist geweht. Es wird hier von einem Zeitraum der "Verschickungen" gesprochen, der viele Jahrzehnte zurück liegt. Ich verstehe nicht warum soetwas erst heute ans Licht schwimmt. Das Internetz gibt es doch nicht erst seit gestern, wieso wird derartig Abgründiges nicht viel viel eher publik?? Ich bin sicher, wenn ich Opfer einer solchen "Kurbehandlung" geworden wäre, ich hätte schon im frühnen Erwachsenenalter ausgesprochen öffentlichkeitswirksame Wiederbegegnungen mit so einem Anstaltsregime und seinen Protagonisten gesucht. In einer Art und Weise, dass darüber die Medien berichtet hätten.

    • @HPB-FS:

      Stellen Sie sich mal vor, Sie werden 1966 als 4jähriges Kind verschickt und misshandelt. Vorher waren Sie mutig, aufgeweckt, könnten bereits lesen. Nacher waren Sie im Wortsinn verstummt, ängstlich vor ihrem eigenen Schatten, Bettnässer.



      Sie würden glauben, dass sowas "normal" ist, Sie würden froh sein, alles hinter sich zu haben, Sie würden NICHT 1984 zum Anwalt laufen, um eine Aktion zu starten. Sie hätten vielmehr damit zu tun, Ihre ständigen Depressionen, Essstörungen und Angstzustände im Griff zu haben, Sie hätten genug damit zu tun, ein nomales Leben zu führen, Sie hätten genug damit zu tun, irgendwie Ihre Psyche, Ihr Berufsleben, Ihre sozialen Beziehungen funktionieren zu lassen.



      Aus der sicheren Position eines Nichtbetroffenen lässt sich leicht schwätzen "ICH hätte..." Nee, hätten Sie nicht nach Folter und Gehirnwäsche.



      Mir haben diese Unmenschen mein Leben verpfuscht bis in den Sarg, wie mir erst Jahrzehnte später klar wurde.

      Mein Vater hatte übrigens bereits damals versucht, etwas zu unternehmen. Er war Polizist. Für diese "Frechheit" wurde er strafversetzt und degradiert.

  • Ja, ich kann mich auch erinnern. Bei mir muss es in den 70er Jahren gewesen sein, 6 Wochen Norderney. Grau in grau. Nicht schrecklich aber grau, traurig. Meine beste Erinnerung ist an das Zurückkommen, wie ich abgeholt wurde und ein warmer Frühlingsregen fiel. Alles andere grau.

    • @RJR:

      Ja, alles war hier grau in grau. Das ist auch meine Erinnerung, als ich 1980 6 Wochen hier verbringen musste. Keine gute Zeit. Noch heute erinnere ich mich an die große Einsamkeit, Kälte und meine Einsamkeit inmitten vieler kleinen und großen Kindern. Hinzu erinnere ich mich noch heute, mehr als vierzig Jahre später, an das immerwährende Gefühl des abgeschoben seins. Keine Privatheit - diese schrecklichen großen Schlafsäle mit Betten aus Stahl, die täglich kontrolliert und konfisziert wurden. Ich war hier die Jüngste und wurde von den anderen schikaniert. Die Schlafsäle durften nachts tatsächlich nicht verlassen werden. Und mein Bett habe ich sicherlich mehr als einmal selbst bezogen, denn an die grau-weiß gestreifte Matratze erinnere ich mich noch gut. Ebenso an den Saal zum inhalieren. Diese Säale waren bestimmt aus den Vorkriegsjahren (mit gefliesten Wänden und medizinischen „Luft spendenden“ Geräten an den Wänden) und hier habe ich täglich viele Stunden verbracht. An einen dunklen Speisesaal mit schrecklichen Essen und zugewiesen Tischen und Speisen erinnere ich mich ebenfalls sehr genau. Komisch, ich habe keine Erinnerung an die Anreise, Ausflüge ans Meer oder über die Insel … . Und nach Norderney oder andere Ostfriesische Inseln hat es mich als Erwachsene tatsächlich nie mehr hingezogen. Aber hat diese Zeit tatsächlich meine Entwicklung und mein Leben beeinflusst?

      • @Bbu:

        Ich war auch 1980 im Seehospiz auf Norderney. Ich



        " durfte" acht Wochen bleiben. Ich war 10 Jahre alt. Es gab keine Misshandlungen aber die Nonnen haben uns schickaniert. Ich habe erst später verstanden, dass ich schwer traumatisiert nach Hause kam. Ich hatte massive Verlustängste und war erst Jahre später wieder in der Lage alleine wegzufahren.

  • 1979 Quisisana, St Peter Ording



    Die Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft: geführt von einem Hippie-Ehepaar (sie habe ich als sehr herrisch in Erinnerung, ihn nur als dickbäuchig), Esszwang bei Tisch, abends Bettwache, 1x Ausflug in Zweierreihe irgendwo im Grünen (Felder? Wiesen? Auf jeden Fall nicht Richtung Meer), das Meer habe ich in den Wochen kein einziges Mal gesehen, wusste nicht einmal, dass das Grundstück gleich am Deich und damit am Meer lag, draußen wurden wir mit dem Gartenschlauch abgesprüht, Schokoladenkuchen zum Geburtstag, der aufgeteilt wurde (die einige positive Erinnerung)... Das alles, mit einem Gefühl von Traurigkeit und Hilflosigkeit und dass ich NIE WIEDER verschickt werden wollte, ist alles, was ich von dieser Kinderverschickung als 8-Jährige noch weiß.

  • Moin!



    Da ich als extremches Frühchen immer recht untergewichtig war, wurde ich insgesamt dreimal "verschickt", wie meine Eltern das nannten. An das erste Mal kann ich mich nur wenig erinnern, ich war einfach zu klein dafür. Ich weiss nur das ich ziemlich entsetzt war, von den Eltern getrennt zu werden, und das ich die letzten Tage mit nur einem Schuh herumlaufen musste, da ich einen beim Wandern an der Ostsee im Schlick verlor. Ich muss so vier oder fünf gewesen sein. Das zweite Mal war der Horror, es ging nach Wyk auf Föhr. Stundenlanges liegen nach dem Mittag unter einer "Warmhaltelampe" (Solarium mit Riesen- Glühlampen), Milchreis mit einer dicken Haut, zum Abendessen glaube ich, und und und. Das Essen war kein Problem: Es waren auch Kinder da welche abnehmen sollten, die hatten das tatsächlich gegessen! Es gelang mir meist mit denen den Teller heimlich zu tauschen, aber das Ergebnis war das ich in den sechs Wochen weiter abnahm. Dann der Schock: Ich sollte noch länger dort bleiben! Mein Vater kam vorbei, um zu sehen was mit mir loswar, und der hatte mich, allen Protesten zum Trotz, mitgenommen und dem Hausarzt vorgeführt. Ich musste ziemlich schlecht ausgesehen haben, leider weiss ich nicht was aus der Geschichte wurde, ich war da sechs oder sieben. Gleich danach ging es aber wieder los, nach Lüneburg, das Haus lag an der Nebenbahn Lüneburg - Büchen.



    Zuerst hatte ich eine furchtbare Angst, dann aber stellte ich fest: So schlecht war es dort nicht. Viele Spaziergänge in die Umgebung, oft an der Bahn entlang wo uns so mancher Schienenbus oder mancher Güterzug (Z.T. mit Dampflok!) begegnete, usw.. Das einzige was mir sehr fehlte waren die Eltern, und groß zugenommen hatte ich auch nicht. Ich war letztes Jahr, etwa nach fünfzig Jahren, wieder da: Das Haus am Bahnübergang gibt es wohl nicht mehr, und der Kalkberg als häufiges Ausflugsziel ist nicht so groß wie in meiner Erinnerung.

  • Solch schlimme Erfahrungen betreffen nicht nur Kinderkuren. Zum Beispiel war ich in den 50ern mit 4 Jahren für sechs Wochen wegen einer Operation in einer Erwachsenenklinik, ca. 80 km von zu Hause entfernt. Damals konnten Eltern nicht in der Klinik mit den Kindern übernachten (das ist heute anders), also sah ich die Eltern nur sonntags. Denen wurde gesagt, sie sollten sich nicht verabschieden - weil mich das unruhig machen würde - sondern unter einem Vorwand (Toilette) aus dem Zimmer gehen. Diese Zeit war für mich sehr traumatisch und nicht gerade hilfreich, mich in meinem Leben jemals sicher und aufgehoben zu fühlen - wobei das nicht am Pflegepersonal und den Ärzten lag. Heute sind solche Zustände zumindest in der BRD unvorstellbar.

  • Und warum bezieht sich diese gesamte Thematik nur auf Westdeutschland??????



    Genau diese Zustände gab es auch in der ehemaligen DDR.



    Alexisbad …..1979/80.

    • @Antje Eichenauer:

      Monika Rösch



      ich weiß nicht, welche Erfahrungen Sie gemacht haben. Ich war ein Verschickungskind in der DDR. Ich bin 1945 geboren und war Tbc Krank. Ich war als Kind in viele Heime und hatte nur positive Erfahrungen in Erinnerung. Ich hatte Erfahrungen mit Diakonieschwestern, die sehr lieb waren und andere Betreuer-innen. Solche Erfdahrungen erschüttern mich sehr. Es ist unvorstellbar das es so etwas gegeben hat.

  • Es gab schweren Missbrauch an den Kindern; soweit sind Fälle aus den 50er bis 70er Jahren bekannt. Auch hier am Ort im Schwarzwald, wo dieser gerade mit ZeugInnen "aufgearbeitet" wird. Andererseits war meine asthmakranke Mutter am selben Ort als Kinderverschickte Anfang der 40er - und sie hatte nur positiv darüber geredet. Kann es sein, dass nach der Nazizeit mit Kindern besonders sadistisch autoritär umgegangen wurde?

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Nur in der alten BRD? Ostdeutsche interessieren nicht?



    Finde ich sehr merkwürdig, wenn eine Recherche eine Minderheit ausklammern.

  • RS
    Ria Sauter

    Meine beiden Kinder waren Mitte der 80iger Jahre zur "Kur" in St. Peter Ording.



    Was hier geschildert wird, haben sie auch so erlebt. Sie wurden zuerst einmal getrennt und durften sich auch nicht sehen. Mein Sohn sass stundenlag alleine im Speisesaal bis sein Teller leergegessen war.



    Meine Tochter wurde da sie starkes Heimweh hatte, verspottet und geschlagen..



    Die Karten, die von dort geschickt wurden, kamen mir sehr eigenartig vor. Also bin ich hingefahren, aus Süddeutschland, und wollte meine Kinder sehen.



    Das hat man mir nicht erlaubt. Ein sehr" freundlicher "Arzt hat auf mich eingeredet. Aus heutiger Sicht sage ich, er hat mich manipuliert und auf eigenartige Weise beruhigt.



    Er hat mir eingeredet, es würde sie sehr beunruhigen, wenn sie mich sehen würden. Sie hätten sich gut eingelebt und kämen ja bald nach Hause. Ansonsten hätten sie wohl mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, dass es ihnen hier so gut gefällt und sie nicht mit nach Hause möchten.



    Alle, die ich im Ort nach der Kureinrichtung gefragt habe, haben sie in den höchsten Tönen gelobt. Also habe ich an mir gezweifelt. Das belastet mich immer noch.



    Unser Kinderarzt hatte diese Einrichtung ausdrücklich empfohlen.

  • Als Kind habe ich sehr positive Erfahrungen mit der "Kinderkur" an der Nordsee 1974/75 gemacht: Tatsächlich bin ich dort vom Heuschnupfen geheilt worden - und zwar in der dafür entscheidenden Lebensphase: zu Beginn der Pubertät (zusammen mit nachfolgender Tröpfchen-Desensibilisierung)!! Ich hatte einen sehr klugen Kinder-/Hausarzt, der mir diese Kinderkur in 2 Sommern verschrieben hat.

    Da ist Kindern besonders aus unterprivilegierten Familien etwas Elementares auf Dauer weggenommen worden!

    Wer wirklich etwas für Kinder tun will, soll sich dafür einsetzen, dass solche Erholungsmöglichkeiten im Hochseeklima für größere Kinder und jüngere Teens in Gruppen wieder eröffnet werden! -- Also nicht für die Mütter, sondern für Asthma-kranke oder schwer allergische Kinder auch aus den unteren Schichten, die ja heutzutage noch viel seltener in den Urlaub fahren können als in der damaligen alten Bundesrepublik.

    Das erwähnte Heim Sancta Maria auf der Nordseeinsel Borkum war Mitte der 1970er noch von Schwestern geführt - Franziskanerinnen, unterstützt von vielen jungen Erzieherinnen aus der Region vom Festland (Leer, Emden), die in gut bezahlten Saisonjobs auf der Insel interessante Berufserfahrungen sammeln konnten (z. B. die Beaufsichtigung der nackten Jungs, die nur einige Jahre jünger waren, unter der Sammeldusche). In 2 x 6 Wochen lernte ich das alles sehr gut kennen; als 13jähriger hätte ich Gewalterfahrungen bemerkt, wenn es sie gegeben hätte. Mehr als die Hälfte der Kinder kam aus "einfachen" Familien, viele aus dem Ruhrgebiet, und konnten 6 Wochen zusammen mit Gleichaltrigen einen Spitzen-Kinderurlaub verbringen! Alle hatten Atemwegserkrankungen, manche so schweres Asthma, dass nachts die Nachtschwester (das war Ordensschwester-Aufgabe) ihre Erstickungsanfälle begleiten musste und andere Kinder im Zimmer dann auch mal wach wurden.

    Das Krankenkassen-finanzierte Heim war tatsächlich für alle offen. Hier hat die Kirche tatsächlich den Armen und Beladenen geholfen!

    • @Rosmarin:

      So ähnlich wie Ruediger denke ich beim Lesen Ihres Beitrags auch.

      Kritisch sehe ich ebenfalls den von persönlicher Erfahrung auf die Allgemeinheit schließenden Tenor. Sicherlich kann man von der eigenen positiven Perspektive auf seine Aufenthalte berichten, aber man sollte sich gut überlegen, ob man die Auswirkungen der Maßnahmen für millionen Kinder und über Jahrzehnte wirklich aus dem eigenen Erfahrungsschatz ableiten kann. Also, ob zwei eigene Aufenthalte in einer konkreten Einrichtung genügend Einblicke vermitteln. Ich bezweifle das sehr.

      "Da ist Kindern besonders aus unterprivilegierten Familien etwas Elementares auf Dauer weggenommen worden! Wer wirklich etwas für Kinder tun will, soll sich dafür einsetzen, dass solche Erholungsmöglichkeiten im Hochseeklima für größere Kinder und jüngere Teens in Gruppen wieder eröffnet werden!"

      Die zitierten Sätze mit Ausrufezeichen zeigen den Anspruch einer Deutungshoheit. Wenn nach der genannten Empfehlung gehandelt würde, ginge es ärmeren Kindern heute besser, ist die Kernaussage. Ich persönlich wüsste nicht, was an einer Mutter/Vater-Kind-Kur vom gesundheitlichen Standpunkt aus betrachtet schlechter sein sollte als an einem Aufenthalt ohne Elternteil.

    • @Rosmarin:

      Lesen Sie einfach ein paar Kommentare weiter, und da können Sie bereits Einblicke in davon Ihnen beschriebene Heime erhalten ....



      Und an anderer Stelle beschreiben sowohl die genannten Erzieherinnen als auch Kinder, die die beschriebenen Duschrituale erlebt haben von ihrer Pein ....



      Und das Bild vom besonderen Privileg für arme Kinder, von ihren Familien getrennt zu werden, um Salzwasser zum Frühstück zu trinken, gedemütigt zu werden etc. lässt auf ein sehr seltsames Menschen- und Gesellschaftsbild bei Ihnen blicken. Schauen Sie einfach mal auf der Webseite der Initiative bei den Zeugenberichten; dort haben Betroffene Dinge erlebt und gesehen, die Ihnen anscheinend komplett entgangen sind.

    • @Rosmarin:

      "Jungen Erzieherinnen aus der Region vom Festland (Leer, Emden), die in gut bezahlten Saisonjobs auf der Insel interessante Berufserfahrungen sammeln konnten (z. B. die Beaufsichtigung der nackten Jungs, die nur einige Jahre jünger waren, unter der Sammeldusche)"

      Meinen Sie das ernst? Stellen sie sich Mal vor, da hätten männliche Zivis nur wenige Jahre jüngere Teenagermädels "beim duschen beaufsichtigt" (seit wann beaufsichtigt man Teenager beim Duschen?) - und da würde jemand schreiben, das ist kein sexueller Missbrauch, sondern "interessante Berufserfahrung sammeln".

  • Diese Misere wird ja schon länger aufgearbeitet, und es hat auch heime gegeben, in denen es serienmäßig strafrechtlich relevanten Missbrauch gegeben hat.



    Insofern gut, dass das thematisiert wird hier und die Verlinkungen genannt werden.

    Als persönlich Betroffener, der noch heute an den Folgen leidet und mit der ab januar endlich geltenden Diagnose "komplexe Tramafolgestörung" endlich auch eine adäquate Diagnose haben wird, verstehe ich die vernetzung und die zeugenberichte allerdings nur eingeschränkt. Mir jedenfalls würde das nichts bringen.

    • @Tripler Tobias:

      Leider wurde "diese Misere" noch gar nicht AUFGEARBEITET. Durch wen denn bitte? Wir stehen dort noch komplett am Anfang. Warum das so ist, würde Dir bei Vernetzung deutlicher werden ;-))))

  • Ich war auch ein (Nachkriegs)-verschickungskind - aber an traumatisierende Vorkommnisse erinnere ich mich nicht.



    Ein Flashback hatte ich als ich (mit über 40 ) den Geruch einer bekannten Kinderzahnpasta in die Nase bekam.

    Ich erinnere mich, dass ein paar Kinder aus meinem Schlafsaal jede Nacht vor Heimweh geweint haben und dass es im Speisesaal recht streng zuging. (Warmer Haferschleim zum Frühstück)

  • Danke für diesen Bericht. Ich war als DDR Kind zur Kur an der Ostsee, in Lubmin, in einer grauen Riesenvilla. Und ich werde nie vergessen, wie eine Erzieherin auf mich zeigte, dann zusammen mit einer alten, verbiesterten Krankenschwester ins Krankenzimmer kam, ich festgehalten wurde und unter Gewalt(androhung) ein Zäpfchen bekam... Ohne Fragen, einfach weil ich vermutlich zu inaktiv und ein wenig zu blass war. Und diesen Schlafsaal gab es auch, wo man Dinge tat die man eigentlich nicht wollte... Zum Glück sind diese Zeiten vorbei und ich finde es cool, wenn es einem Elternteil ermöglicht wird, mit seinem Kind eine Mutter/Vater-Kind Kur zu erleben.

  • Ein anderer Verschickungsgrund: der alleinerziehenden, kranken Mutter eine Erholungszeit geben.



    So war es für mich. Ich erinnere die dunkle, zugesperrte Besenkammer eines Hauses in Wenningstedt auf Sylt. Als einzige Gesellschaft eine Scheibe Blutwurstbrot, das ich nicht essen wollkonnte. DAK, wenn ich recht erinnere.

    • @Anidni :

      Anidni, bist Du so nett und meldest Dich einmal bei mir. Ich engagiere mich im Rahmen der Initiative für die DAK-Betroffenen und wäre an Deinen Erinnerungen sehr interessiert. Du findest mich unter meinem Namen in Facebook und auf der Seite der Initiative. Bis bald hoffentlich.

    • @Anidni :

      Das erste Mal wurde ich mit 4 Jahren verschickt. Ich erinnere mich nur an wenige Szenen:



      Wie es uns verboten war, nachts aufs Klo zu gehen, und wie ich in meiner Not ins Bett gemacht habe.



      Wie ich zur Strafe verprügelt wurde: an einem Fuß in die Luft gerissen und wie ein Boxsack mit Faustschlägen bearbeitet wurde.



      Wie ich zusammen mit den anderen Bettnässern nackt im Flur Pranger stehen musste.



      Wie ich zur Strafe für Fehlverhalten (ich kannte die katholischen Gebete nicht) als "Neger" im Gesicht schwarz angemalt wurde.



      Wie ich nachts im Schlafsaal fror, weil es im Oktober im Schwarzwald keine Bettdecken gab und ich das Bettlaken von der Matratze zog, um mich darin einzuwickeln (zur Strafe kein Frühstück).



      Wie wir nackt in einem dunklen Kellerraum aufgereiht standen und mit kaltem Wasser "geduscht" wurden.



      Das hat meine ganze Persönlichkeit ruiniert. Bis heute werde ich als "psychisch krank", "nicht belastbar" abgewertet. Mein ganzes Leben hätte anders, besser verlaufen können, wenn ich nicht als Kind gebrochen worden wäre.

      Und denken wir bitte in diesem Zusammenhang einmal daran, was die Kinder in diversen Flüchtlingslagern gerade durchmachen.

    • @Anidni :

      Sowas Ähnliches war es auch bei mir: die krebskranke Mutter, die gerade meine Schwester geboren hatte, mein Vater musste arbeiten (damals bekam er eine Abmahnung des Arbeitgebers, weil er sich mit einem Kinderwagen in der Öffentlichkeit gezeigt hatte!), also war ich ein Störfaktor.



      Nach der ersten Verschickung mit 4 Jahren war ich ein Wrack, und meine Eltern waren empört, hatten gegen Jugendamt, Ärzteschaft, Gesundheitsamt, Innenministerium als Arbeitgeber meines Vaters aber keine Chance, was meine Eltern trotzdem nicht davon abhielt, mich noch zweimal woanders hin in "Kur" zu schicken.

      • @Schnetzelschwester:

        Was ist denn die Begründung für die Abmahnung gewesen?



        War Kinderwagen schieben für Männer die im Innenministerium arbeiten mal verboten?



        Mittlerweile wundert man sich sich über nichts mehr, vor allem wie rückständig wir vor Jahrzehnten eigentlich waren und heute noch sind.

        • @Axel Schäfer:

          Offiziell "verboten" nicht, aber das öffentliche Schieben eines Kinderwagens galt als "Gefährdung der Autorität des Amtes", "unschicklich für einen Mann", und dergleichen BS. Das galt halt in den 60ern als weibisch, schwul, unmännlich, also für einen Polizisten untragbar..



          Die jungen Väter von heute können sich gar nicht vorstellen, wie starr das Genderrollenmodell damals war, nicht nur für Frauen, die ohne Zustimmung des Ehemannes nicht arbeiten durften und kein eigenes Konto haben durften.

  • Als Kinder haben wir immer über die Gruppen geschmunzelt, wenn sie mit uniformen Mützen, mit Schüppen bewaffnet, in Zweierreihen zum Strand gingen. Santa Maria war schon durch sein dominantes Gebäude nicht zu übersehen. Auch das es von Schwestern geleitet wurde. Andere Heime waren nicht so auffällig. Beim Zeitungsaustragen hatte ich ein kleines Heim in meiner Tour. Die Inhaberin gab mir immer ein gutes Trinkgeld. Ich fand sie immer in der Küche beim Kochen vor. Wie es den Kindern erging weiss ich nicht. Ich fand es immer ein wenig unheimlich. Die Kinderverschickung war auf der Insel seinerzeit sicher ein florierender Wirtschaftszweig, neben dem wiederkehrenden Tourismus. An deren Stelle sind die Mutter-Kind Kuren getreten.

    Unabhängig von den erzieherischen Methoden in den Heimen, muss man die Zeit berücksichtigen, wo speziell im Ruhrgebiet noch die Schlote aus vollen Rohren qualmten und den Menschen den Atem nahmen. Da wollte man wenigstens den Kindern etwas Erholung bieten. Familienurlaube konnte sich noch nicht jede Familie leisten. Gerade auf Borkum gibt es bis heute eine ganze Reihe Kliniken und Erholungsheime die sich Atemwegs- und Hauterkrankungen widmen.

    • @Gorch:

      Ob die Kinder alleine ins Ferienlager fahren oder zur Kur, das macht keinen Unterschied.

      Das Problem war doch wie man mit den Kindern umging, übrigens auch in der DDR.

    • @Gorch:

      Nun, die Grundidee war ja auch nicht schlecht. sonst hätten auch nicht so viele Eltern mitgemacht.



      Die Umsetzung war das Problem und der Skandal.

  • Liebe Sabine Seifert, ich bin zwar kein Verschickungskind, aber diese "eisgraue" Atmosphäre jener Jahre erinnere ich sehr gut – ich bin Jahrgang 1953. Oft habe ich gedacht, dass meine Erinnerungen verschroben und exotisch sind. Ihr Artikel zeigt mir, dass dem nicht so ist. Das tut gut. Einen herzlichen Dank für Ihren Artikel über diese eisgraue, bleierne Zeit.

  • Das gab`s übrigens nicht nur in der BRD, auch in der DDR ... selbst erlebt, Stichwort Wiek auf Rügen ... leider.

    • @hedonthecat:

      Ja, ich war auch dort. Ich war 9 Jahre alt und es war schrecklich. Jeden Tag eiskalte Duschen und Bürsten Massage , sollte zur Abhärtung dienen. Strenge und unfreundliche Betreuung, jeden Tag als Zwischenmahlzeit Puddingsuppe.



      War eine schlimme Zeit, ich weiß nun auch, warum ich nie wieder zu einer Kur wollte.

      • @Annett TW:

        "...jeden Tag als Zwischenmahlzeit Puddingsuppe..."

        ...liebe ich seit meiner Kur. So unterschiedlich kann Wahrnehmung sein.

    • @hedonthecat:

      Ja genau.Dort war ich auch,allerdings erst Mitte der 80ziger,es gab diese Kurheime in der DDR bis zur Wende 1990.Wir wurden dort zur Gesundheit „erzogen“



      Eiskalte Duschen am Morgen,Kalte Unterschenkelgüsse,



      Unter den Kindern Mobbing und das Recht des Stärkeren sind nur einige Erinnerungen die bleiben.



      Vor lauter herzzerbrechendem Heimweh habe ich eine Ganze Tube Zahnpasta gegessen in der Hoffnung das man mich nach Hause schickt.



      Ich war übrigens fast jedes Jahr bis zum zwölften Lebensjahr zur „Kur“……

      • @Annett Elis:

        "erzogen"



        Also Verbot auf die Toilette zu gehen bis man einmacht um dann für das Einmachen bestraft zu werden.

        • @Cass:

          Das Erziehungsziel war, dass die Kinder lernen sollten, Kontrolle über ihre Körperfunktionen zu haben. Mit dem Hintergedanken, wenn man nur stark genug draufhaut, "lernen" die "bockigen" Blagen das.



          Leider lässt sich die Biologie nichts befehlen. Als ob Harndrang Willenssache wäre.

          Mein ganzes Leben lang muss ich 1-2mal nachts aufs Klo, tagsüber ist meine Blase auch sehr produktiv.



          Einmal ging mich (nach dem Jahr 2000!) mein Vorgesetzter an, warum ich so oft zur Toilette ginge, das solle ich gefälligst bleiben lassen. Ich bin ausgerastet und habe ihn angeschrien, dass ich dann das nächste Mal in seinen Papierkorb p***en würde. Heute weiß ich, dass mich das nur derart triggern konnte wegen der Kindheitserfahrungen. Naja, danach durfte ich bei HR antreten...

  • Ich war 1983 mit 13 Jahren auf 9 wöchiger Kur in Soest (galt als "schwer erziehbar"). Es waren sehr lustige Wochen und ich habe keinerlei negative Erinnerungen daran.

    • @lord lord:

      Hallo Lord, Lord, ich gehe davon aus, dass Du in einer der Einrichtungen in Bad Sassendorf bei Soest warst. Ich bin Heimortkoordinatorin für die Initiative dort und würde mich über Deine Kontaktaufnahme freuen und zu hören, in welchem Heim Du warst. Wir sind recht viele, die dort waren und würden uns gerne mit Dir austauschen. FG Isabelle

      • @Isabelle Nünninghoff:

        Ja das war Bad Sassendorf. Ich war dann nochmal vor ca. 15 Jahren dort um die alten Erinnerungen aufzufrischen, als ich sowieso in der Nähe war. Ich versuche Sie zu erreichen.

    • @lord lord:

      Ich denke, da hast Du halt Glück gehabt. Mein eigener sechswöchiger Aufenthalt war etwas früher, wohl irgendwann ende der 70er. Und richtig traumatisierend war er auch nicht, aber sechs Wochen grau in grau. Ich war so froh als ich endlich wieder zu hause war...

  • ,,Sie wurden erniedrigt und gequält: Für viele Kinder wurde eine Kur in den 1950er- bis 1980er-Jahren zum Albtraum. Recherchen von Report Mainz zeigen: Mehrere Heime wurden von hochrangigen NS-Funktionären geleitet.' [...] Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder" sagte Report Mainz, dass man verrohe, wenn man so viel morde wie in der Zeit des Faschismus. "Diese Verrohung schlägt sich auf das Menschenbild nieder und auch auf den Umgang mit Kindern", so Röhl.''



    www.tagesschau.de/...ktionaere-101.html

    • @gleicher als verschieden:

      Ja. Man muss sich mal vor Augen halten, dass das, was in den Heimen hinter verschlossener Tür passiert ist, die ganz normale deutsche Erziehung geworden wäre, wenn der NS-Staat nicht beendet worden wäre. Dass als "krankhaft" und "asozial" gegolten hätte, wer seine Kinder nicht quält; dass ein ganz elementares menschliches Verhalten subversiv gewesen wäre, und einem die Kinder womöglich weggenommen worden wären.

      Es sind solche vermeintlichen Randdetails, an denen man in aller Deutlichkeit erkennen kann, dass ein "Diskurs" mit dem Faschismus und seinen AnhängerInnen, oder generell irgendetwas anderes als ihre konsequente und kompromisslose Bekämpfung, in einer Demokratie inakzeptabel ist.

      Weil die Adenauer-Republik aber nicht über Vergangenheit und Schuld und die "philosophische" Untermauerung des NS-Staats reden wollte, konnte sich das System BDM/HJ auch nach dem Krieg weiter fortsetzen, und noch zahllose junge Menschen quälen.

      Das sei allen Liberalos, die da meinen, man dürfe sich dem Dialog mit Menschenhassern nicht verweigern, ins Stammbuch geschrieben: eure vermeintliche moralische Überlegenheit gegenüber den von ihnen als "Spalter" und "Diskursverweigerer" diffamierten wehrhaften Demokrat*innen ist in Wirklichkeit ein tödliches und heimtückisches Gift, das die Gesellschaft von innen heraus zerfrisst, und über Generationen hinweg unschuldige Menschen ihr um Leben und Lebensglück bringt!

      • @Ajuga:

        Lesen Sie mal Oliver Twist. Armenhäuser und Waisenhäuser sind keine Erfindung der Nazis, die haben lediglich die bestehenden "Traditionen" aufgenommen und "weiterentwickelt".



        Kinder können sich am wenigsten wehren, und stehen am untersten Ende der Nahrungskette des Sozialdarwinismus.

      • @Ajuga:

        Das waren nicht nur die Nazis. Vor allem die Kirchen mit ihrem Beten-und-Arbeiten-Bockmist, und der "Erbsünde", die nur mit Gewalt ausgetrieben werden kann, waren die Haupttreiber. Zusammen ein toxisches Gemisch.



        Und dann die Möglichkeit, GELD zu kassieren: da haben Ärzte, Jugendämter, Gesundheitsämter, Heimbetreiber bereitwilligst mitgemacht und abkassiert: Gier und Bereicherung sind unabhängig von der politischen Ausrichtung. Die Kinder waren denen egal, gespart wurde am Essen, an allem. Massenabfertigung der Kinder, wie im Akkord.



        Eltern, die sich einer Verschickung verweigerten, wurden unter Druck gesetzt, dass ihnen das Kind weggenommen würde. Das war bei meinen Eltern so. Ich wäre als Schlüsselkind auf der Straße besser aufgehoben gewesen.

      • @Ajuga:

        Ich finde es gut, dass man überhaupt darüber sprechen darf. Das war ja alles Top-Secret, schambesetzt.



        Dass man begreift, das war kein Einzelfall, sondern eine ganze Industrie.



        Dass man nicht einfach überempflindlich war/ist, sondern dass objektiv seelisch und körperlich gefoltert wurde.



        Dass man begreift, dass die lebenslänglichen psychischen Probleme konkrete Ursachen haben und nicht schuldhaftes persönliches Versagen sind, wie einem 50 Jahre lang eingeredet wurde.

        Darüber hinaus bringt mir das auch nichts. Meine Eltern sind tot, die Ärzte und alle anderen Täter/innen bestimmt auch.



        Kaputt ist kaputt, Rache, Strafe, Betroffenheitsgelaber der Organisationen, Geld geben mir nicht mein Leben zurück.



        Es ist aber wichtig, dass sowas nicht wieder passieren kann. Dafür ist die Öffentlichmachung der Zustände damals wichtig.

  • Ein dunkles Kapitel aus einer Zeit, in der man es auch aus historischer Erfahrung besser wissen musste. Danke für diesen Bericht!