Steigende Zahl an Coronatoten: Gebt ihnen ein Gesicht
Zuletzt sind 400 Menschen innerhalb eines Tages an Corona gestorben. In Deutschland. Woran liegt es, dass niemand ihre Geschichten erzählt?
A llein in Deutschland gab es am Dienstag 410 Coronatote. Das ist die höchste Todeszahl seit Beginn der Coronakrise. Doch die Zahl ist alles andere als eine statistische Spitze. Am Vortag waren 259 Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu beklagen, davor waren es 90, 138 und 254 Tote. Es ist, als würde jeden Tag ein Flugzeug über Deutschland abstürzen und alle Passagiere kämen um.
Doch anders als bei Flugzeugabstürzen pilgern keine Betroffenen zur Absturzstelle. Es gibt keine organisierten Trauerstunden, keine Schweigeminuten oder Gedenkgottesdienste. Medien erzählen keine Geschichten der Toten, geben ihnen kein Gesicht. Viele Medien melden nicht einmal täglich die Todeszahlen – anders als die Zahl der an Corona neu infizierten Menschen. Gleichgültigkeit? Oder Gewöhnung?
Oder liegt es daran, dass man sich an Toten, anders als an Infizierten, nicht mehr selbst anstecken kann? Liegt es daran, dass die Menschen nicht alle am gleichen Ort zu Tode kommen? Man muss lange auf den Seiten des Robert-Koch-Instituts suchen, um Angaben zu finden, welche Gruppen unter den bislang fast 15.000 Coronatoten stärker vertreten sind. 85 Prozent von ihnen sind älter als 70 Jahre. Viele lebten in Großstädten. Unter den Bundesländern verzeichnet Bayern mit 3.500 die meisten Coronatoten. Eine Studie der Uni Bremen zeigt, dass rund die Hälfte der Toten zuletzt in Seniorenheimen gelebt hat. Das heißt auch, sie hatten eher wenige soziale Kontakte. Ist das ein Grund für die Gleichgültigkeit?
Zu Beginn der Coronakrise haben Medien durchaus gemeldet, dass Deutschland im Verhältnis zu anderen Staaten äußerst geringe Todeszahlen hatte – und nach Erklärungen dafür gesucht. Inzwischen sind die Todeszahlen hier in der weltweiten Normalität angekommen, falls man es „Normalität“ nennen darf. Nimmt man die Zahl der in den letzten sieben Tagen neu an Sars-CoV-2 infizierten Menschen, liegt Deutschland in absoluten Zahlen weltweit auf Platz 9. Bei der Zahl der Toten ist es Platz 11. Aber niemand erzählt bisher ihre Geschichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung