Coronaproteste in Berlin: Dichtgedrängt gegen „Virokraten“
20.000 Menschen demonstrieren gegen die Coronapolitik – ohne Masken und Abstand. Neben Impfgegnern sind auch extrem rechte Gruppen auf der Straße.
W o Schwarz-Rot-Gold neben Reichsflaggen, Russland- und Friedensfahnen getragen wird, hat der Irrsinn es sich meist gemütlich gemacht. Die Berliner Innenstadt macht da am Samstag keine Ausnahme. Während die Weltgesundheitsorganisation weltweit 292.000 neue Corona-Infektionen an einem einzigen Tag meldet, mehr als je zuvor, füllte sich der Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor mit der „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“-Demo.
Genau so, „Tag der Freiheit“, hatte einst die NS-Propagandaregisseurin Leni Riefenstahl ihren Film über den Parteitag der NSDAP 1935 genannt. Vier Monate nach Beginn der „Hygiene“-Demos gegen die Coronapolitik mobilisieren deren Organisatoren jetzt unter diesem Motto bundesweit in der Hauptstadt.
Aufgerufen hatte zuerst die Initiative „Querdenken 711“ aus Stuttgart, die unter anderem von alternativen Impfgegnern getragen wird. In Stuttgart hatte es in den vergangenen Monaten die deutschlandweit größten Coronaproteste gegeben. „Das Freiheitsvirus hat Berlin erreicht“, sagte ihr Gründer, der Unternehmer Michael Ballweg, am Samstag. Ebenfalls aufgerufen hatte die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“, eine Gruppe aus der Berliner Theaterszene um den Autor Anselm Lenz. Sie erklärte den Samstag zum „Beginn der basisdemokratischen Verfassungserneuerung“.
Nachdem die Coronaproteste zuletzt abgeflaut waren, hatte Ballweg für den Samstag in Berlin sage und schreibe eine halbe Million TeilnehmerInnen angekündigt. So viele kamen längst nicht. Am Nachmittag war der Demozug gleichwohl kilometerlang. Auf rund 20.000 schätzten Medien, auf 17.000 die Polizei die Zahl der Menschen, die gekommen waren, um demonstrativ keine Maske zu tragen. Denn für sie ist Corona keine Seuche, sondern vor allem eine weltweite Verschwörung.
„Tausende #Covidioten feiern sich in #Berlin als ‚die zweite Welle‘, ohne Abstand, ohne Maske. Sie gefährden damit nicht nur unsere Gesundheit, sie gefährden unsere Erfolge gegen die Pandemie“, twitterte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Solche Kritik „von oben“ dürfte jene, die hier in rebellischem Wutbürgergeist unterwegs sind, allerdings eher noch bestärken.
Reichsflaggen und „Jesus-lebt“-Schilder
Kurz vor 10 Uhr, eine Stunde vor dem offiziellen Beginn, ist der Pariser Platz voll und immer mehr Menschen strömen hinzu, angereist in Bussen aus ganz Deutschland. Schon jetzt ist klar, dass die Mobilisierung erfolgreich war. Entsprechend gut ist die Stimmung. Eine Frau, die sich einen Rock aus einer Deutschlandfahne gebunden hat, tanzt zur Musik eines Trommelkreises, eine andere singt und schwenkt ein Schild mit der Aufschrift „Jesus lebt“.
Auf anderen Schildern wird gewarnt vor Zwangsimpfungen, Bill Gates und tödlicher 5G-Strahlung. Häufig zu sehen ist der Buchstabe „Q“ – eine Referenz auf Qanon, eine Onlinebewegung, die besonders obskure Verschwörungstheorien verbreitet. Angehörige der Reichsbürger-Szene stehen in der Sonne. An mehreren Stellen der Demo ragen ihre schwarz-weiß-roten Reichsflaggen in die Höhe. Den Kämpfern gegen die angeblich drohende Impfpflicht ist offenbar nicht bewusst, dass ebenjenes Kaiserreich am 8. April 1874 zum ersten Mal eine Impfpflicht eingeführt hatte – und die Polizei diese bis in die Weimarer Republik durchsetzte und Kinder zur Not mit Gewalt zum Arzt brachte.
Und schließlich sind auch organisierte Neonazis gekommen, erkennbar etwa an T-Shirts der Rechtsrock-Band Lunikoff-Verschwörung oder einschlägigen Tattoos. Einige von ihnen tragen Ordnerbanderolen. Mobilisiert zum „Tag der Freiheit“ haben auch die NPD und die Nazi-Partei „Der III. Weg“.
Arno, ein älterer Mann, sieht nicht so aus, als habe er mit solchen Gestalten etwas am Hut. Auf seinem Schild steht „Abgeordnetenzahl auf 500 begrenzen“. Er sagt, dass das deutsche Wahlrecht zu viele Abgeordnete im Bundestag mit sich bringe. In den USA gäbe es nur 500 Parlamentarier und das sei trotz der viel größeren Bevölkerungszahl ausreichend. Das Coronavirus existiere, sagt er, aber es sei „nicht gefährlicher als eine Grippe“. Ein anderer Teilnehmer schaltet sich ein. „Das stimmt nicht, das Virus existiert nicht!“, entgegnet er in leicht schwäbischen Dialekt. Arno sagt, dass er die Maßnahmen „völlig unverhältnismäßig“ findet. Einen weiteren Lockdown würde die Wirtschaft kaum verkraften. „Ich habe Angst vor der Zukunft“.
Wieder fällt ihm jemand ins Wort. Diesmal ist es ein Gegendemonstrant: „Niemand von euch hat in einer Diktatur gelebt! Ich hab die DDR erlebt, das war was ganz anderes“, blafft er Arno an. Ein weiterer Coronaleugner, ein junger Mann im Tank-Top und mit einem Energydrink in der Hand, kommt dazu. „Das sind doch alles nur bezahlte Gegendemonstranten, die sagen immer das Gleiche in die Kamera“.
An den Nazis und Reichsbürger*innen, die hier offenkundig mitlaufen, stört Arno sich nicht. „Jeder kann ja seine eigene Meinung haben“, sagt der 69-Jährige. Früher sei er Lehrer gewesen, da habe er gelernt, dass man „manchmal auch den Dummen zuhören muss“. Menschen wie Arno sind die Mehrheit jener, die heute auf der Straße sind. Sie sind nicht rechts, viele eher alternativ, aber sie ignorieren die Nazis neben ihnen aktiv.
Die Polizei hält sich zurück
Es ist mittlerweile fast 12 Uhr, die Demo ist immer noch nicht in Gang gekommen, denn niemand hält sich an die Abstands- und Maskenpflicht. Die Polizei weist die Demoleitung darauf hin, doch es geschieht nichts. Schließlich setzt der Zug sich in Bewegung, dichtgedrängt, praktisch niemand trägt Maske. Die Menschen ziehen durch Berlins Mitte, über den Alexanderplatz zurück zum Brandenburger Tor und weiter zur Straße des 17. Juni.
Von „Maskenmedien“ ist die Rede, von „Virokraten“, „Schlafschafen“ und den „Zeugen Coronas“. Es ist das Vokabular, das die Szene in den letzten Monaten hervorgebracht hat, das dazu dient, eine Frontlinie aufzumachen, zur Demokratie, zu den Medien, den Institutionen, den Parteien. Manche klagen, die Regierung – nicht etwa eine Krankheit – habe sie „vom Menschen zum Patienten“ degradiert.
Entlang der Strecke gibt es vier Gegenkundgebungen. Ihr Motto: „Abstand halten gegen rechts“. „Es ist legitim, Regierungspolitik zu kritisieren. Doch ist es nicht legitim, dies gemeinsam mit Nazis zu tun“, hieß es im Aufruf. An der Torstraße stehen knapp hundert Antifas und rufen: „Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten.“ Ein älterer Mann ohne T-Shirt, mit langen grauen Haaren geht auf sie zu. „Wo sind hier Nazis?“, fragt er. Kaum eine Minute später läuft ein weiterer Coronaleugner mit einem „FCK ZION“-T-Shirt vorbei. Und immer wieder wird in den Reihen „Volksverräter“ skandiert.
Die Demo darf nur unter der Auflage stattfinden, dass die Hygieneregeln eingehalten werden. Aber die Teilnehmer ignorieren diese nicht nur. Manche pöbeln gar Passant*innen und Journalist*innen an, weil die Maske tragen. „Protestler bauten sich ohne Mindestabstand vor mir auf & verlangten, dass ich meine Maske abnehmen soll“, twittert der Fotograf Björn Kietzmann. Es ist ein Superspreading-Event der Ignoranz und Rücksichtslosigkeit.
Die Berliner Polizei, die noch am Abend eine linke Demo ohne viel Federlesen mit Knüppel und Pfefferspray auseinanderprügeln wird, hält sich zurück. Lange beschränkt sie sich darauf, „auch mithilfe von Lautsprechern vehement auf die Einhaltung der Auflagen“ hinzuweisen, so twittert die Einsatzleitung. Weil das keinen Erfolg hat, zeigt sie den Versammlungsleiter schließlich an. Gegen 14.30 Uhr beendet dieser die Demo – doch die Menschen ziehen weiter, zum Reichstag, zum Kanzleramt und zur Bühne der Abschlusskundgebung an der Siegessäule.
All die Toten? „Überhaupt nicht belegt“
Demonstrationen müssten zwar auch in Coronazeiten möglich sein, schreibt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf Twitter. „Aber nicht so.“ Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagt, es ärgere ihn maßlos, dass Menschen aus anderen Teilen Deutschlands nach Berlin kämen, um hier ein Demonstrationsrecht auf Grundlage von Hygieneregeln wahrzunehmen, die sie dann missachteten.
Reden wollen die meisten auf der Straße nicht, die Presse lüge ja sowieso nur. Michael, 55, ein Saarländer mit imposanten Vollbart, ist gesprächiger. Er bietet ein „Dossier“ über Joachim Gauck an. Man müsse wissen, Gauck sei Sohn hochrangiger Nazis gewesen und später ein hohes Tier bei der Stasi. Er selbst war Altenpfleger, habe dann aber wegen Mobbings in Frührente gehen müssen und sei dann „Online-Aktivist“ geworden.
Als ehemaliger Altenpfleger wisse er über die Machenschaften der Pharmaindustrie Bescheid. Michael ist deshalb überzeugt, dass Corona nur eine Erfindung der Arzneimittelkonzerne sei, um noch mehr Geld zu scheffeln. Und was ist mit den Toten? Den Kranken auf den Intensivstationen? „Überhaupt nicht belegt“, sagt er. Das könne „auch andere Ursachen haben“. Stören ihn die Nazis auf der Demo nicht? „Ich habe hier nur nette Menschen kennengelernt“, sagt er. Und überhaupt, er kenne sich da nicht so aus. Da, wo er herkomme, im Saarland, gäbe es schließlich keine Nazis.
Zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule errichtet die Polizei dann doch eine Barriere. „Wegen Überfüllung“, sagen die Polizisten. „Geh weiter, wir lassen uns doch keine Angst machen“, sagt ein Mann von hinten. „Wir sind 1,2 Millionen, hier wird nichts abgebrochen,“ sagt ein anderer. 1,2, teils auch 1,3 Millionen – das ist die Zahl, die am Nachmittag überall herumschwirrt, aufgeregt weitergetragen wird, als finaler Beleg, dass das Volk sich endgültig gegen die Coronadiktatur erhoben habe und mit dieser nun aufgeräumt werde.
Schließlich spricht sich herum, dass die Barriere durch den Tiergarten umgangen werden kann. Überall sitzen die Menschen hier im Schatten unter Bäumen, auf dem Boden oder auf Campingstühlen, sie essen geschnittene Äpfel und Käsebrote, die sie in Tupperdosen aus Stuttgart mitgebracht haben. Sie haben die Plakate jetzt abgestellt, auf denen sie verlangen, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Charité-Chefvirologen Christian Drosten „wegzusperren“.
Die klar rechtsextreme Mikrogewerkschaft „Zentrum Automobil“ ist da, ebenso wie breite junge Männer mit Seitenscheitel und einem Plakatdruck des Compact-Magazins, auf dem Bill Gates als „Impf-Diktator“ geschmäht wird.
Auffällig viele tragen T-Shirts mit einem goldenen Punkt in einem goldenen Kreis, darunter die Worte „erkennen erwachen verändern“. Es ist die Nachbildung des Covers des Buches „Im Zeichen der Wahrheit“. Geschrieben hat das der Verschwörungstheoretiker Heiko Schrang, der darin nicht nur „die geheimen Aktivitäten der ‚Mächtigen‘ aufdeckt“, sondern auch den „bewusstseinsöffnenden Schlüssel zu den essenziellen Fragen des Lebens“ bietet.
Gegen 16 Uhr hat Schrang seinen Auftritt an der Bühne an der Siegessäule, er ist eine Art Headliner des Coronaprotests. „So viele Freidenker auf einem Haufen“ habe es „noch niemals in der Bundesrepublik Deutschland gegeben“, sagt er. Den „gesamten Mainstream“ lässt er wissen: „Geht nach Hause, eure Zeit ist vorbei.“ Die Demonstranten hätten heute „Historisches geleistet, das könnt ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen.“ Was genau an Großartigkeiten heute herbeidemonstriert wurde, bleibt unklar.
Aber sicher ist schon jetzt: „Die Straße des 17. Juni steht für den Arbeiteraufstand 1953, und ich garantiere euch, so wie ich hier stehe, in spätestens zehn Jahren heißt sie die Straße des 1. August 2020.“ Keine Überhöhung ist hier zu maßlos.
Nach ihm legt ein anderer Redner noch eins drauf: „Sie sind dabei ein totalitäres Regime zu errichten und ihr seid der Widerstand“, brüllt er von der Bühne, und als dann von einem „neuen Faschismus“ die Rede ist, dem heute entgegengetreten werde, da reißt es alle mit und sie rufen „Widerstand“, immer wieder, reißen die Fäuste hoch, minutenlang.
Bald darauf reicht es der Polizei dann doch. Um 16.50 übernimmt sie das Mikro auf der Bühne. Weil die Hygiene-Auflagen missachtet worden seien, sei die Kundgebung nun aufgelöst. Männer in Funktionsshorts und Frauen in Batikhosen rufen „Wir sind das Volk“ und „Wir bleiben hier“ und recken wieder die Fäuste. Manche bilden Sitzblockaden, erst am Abend werden die letzten von der Polizei weggetragen. Im Zusammenhang mit Demonstrationen wurden am Samstag in Berlin 45 Polizisten verletzt. Festnahmen unter den Demonstranten hat es nicht gegeben.
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