Afghanistan nach dem Machtwechsel: Die Charmeoffensive
Bei der ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme haben sich die Taliban versöhnlich gegeben. Vor allem Frauen haben Zweifel an den Versprechen.
Bei dem rund einstündigen Auftritt am Dienstagabend vor Journalist*innen in Kabul gab sich Talibansprecher Sabihullah Mudschahid auffällig konziliant, vermied jeglichen Triumphalismus über den miliärischen Sieg und bot den alten Feinden die Freundschaft der Gotteskrieger an: „Wir wollen weder im Aus- noch im Inland Feinde haben“, sagte er. Er versprach, es werde keine Racheakte an denjenigen geben, die der bisherigen Regierung oder ausländischen Mächten gedient hätten.
Den Taliban sei demnach auch die Sicherheit der ausländischen Botschaften in Kabul ein wichtiges Anliegen. Dabei sei es jetzt schon sicherer in der Hauptstadt als noch eine Woche zuvor, so Mudschahid. Die Taliban seien gegen Chaos und würden sich wünschen, dass Landsleute nicht ins Ausland fliehen. „Wir tun niemandem etwas an“, beteuerte der mit einem schwarzen Turban bekleidete Sprecher.
Wiederholt sprach er selbst die künftige Situation von Frauen an, wurde aber auch von ungläubigen Journalist*innen immer wieder danach gefragt. Frauen hätten das Recht auf Bildung, Gesundheit und Arbeit, sagte Mudschahid, um stets sogleich den relativierenden Halbsatz hinzuzufügen „im Rahmen der Scharia“.
„Musliminnen sollten froh sein, unter der Scharia zu leben“
Das „islamische Gesetz“ ist bekanntlich Auslegungssache und bereits in Afghanistans bisheriger Verfassung ein wichtiger und zum Teil widersprüchlich formulierter Bezugsrahmen. Doch wie die Taliban die Scharia jetzt im Hinblick auf Frauen definieren, sagte Mudschahid nicht.
Wegen ihrer früheren islamistischen Praxis stoßen die Taliban, die Frauen unter die Burka und ins Haus zwangen und ihnen Bildung verwehrten, bei vielen auf Ablehnung und lösen Ängste aus. Die dürften jetzt auch durch die vagen Äußerungen nicht ausgeräumt sein. Denn Mudschahid sagte auch, Musliminnen sollten doch froh sein, unter der Scharia leben zu können.
Er kündigte für die nächsten Tage die Bildung einer neuen Regierung an, deren genauer Form er nicht vorgreifen wolle. Doch werde die Regierung sicherstellen, dass Afghanistan nicht mehr benützt würde, um andere Länder anzugreifen. Die Taliban seien reifer als vor zwanzig Jahren, so Mudschahid selbstkritisch.
Kurz zuvor war mit Mullah Abdul Ghani Baradar der bisherige Leiter des internationalen Büros der Taliban in Doha nach Kandahar geflogen. Es wird damit gerechnet, dass der Vizechef der Taliban, der zugleich als ihr politischer Kopf gilt, in der neuen Regierung eine zentrale Rolle einnimmt.
Bemühen um internationale Anerkennung
Deutlich wurde bei Mudschahids Auftritt das Bemühen der Taliban, international anerkannt zu werden. Das dürfte zu den gemäßigten Tönen beigetragen haben. Beim künftigen Verbot des Drogenanbaus machte Mudschahid denn auch zugleich deutlich, dass zum Umstieg auf alternative Anbauprodukte ausländische Hilfen nötig seien.
Die ersten Reaktionen auf die Rede waren bei den Regierungen etwa von Katar und Pakistan denn auch positiv. Nach Angaben eines pakistanischen Ministers erwäge Islamabad die baldige Anerkennung der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Die von 1996 bis 2001 amtierende letzte Taliban-Regierung war nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt worden.
Jetzt sind die Taliban immerhin schon zum Verhandlungspartner mehrerer Regierungen wie der deutschen geworden, die sich in diesen Tagen um die Ausreise ihrer Landsleute und ihrer Ortskräfte vom Flughafen Kabul aus bemühen.
Mudschahid ist seit Jahren der wichtigste Sprecher der Taliban. Deshalb ist sein Name auch den meisten Afghanen geläufig. Doch hatten sie ihn bis dahin noch nie live gesehen, weil er im Untergrund lebte. Jetzt hielt er die Pressekonferenz ausgerechnet genau in dem Briefing-Raum der gestürzten Regierung ab, den auch der vor knapp zwei Wochen von den Taliban ermordete bisherige Regierungssprecher zu nutzen pflegte.
Versöhnliche Geste gegenüber den Hasara
Angesprochen auf die vielen Terroropfer der Taliban und den ermordeten Sprecher erklärte Mudschahid, es sei Krieg gewesen. Auch die Taliban hätten hohe Verluste gehabt.
Die Zweifel insbesondere von Frauen an den Versprechen der Taliban sind berechtigt, schließlich sind sie eine durch Gewalt und Terror an die Macht gekommene autoritäre Bewegung. Die Taliban lehnen Wahlen explizit ab. Und vereinzelt gibt es auch bereits erste noch unbestätigte Berichte über neue Taliban-Gräuel und über einzelne Racheakte.
Andererseits scheinen einige Taliban jetzt mit symbolischen Gesten zeigen zu wollen, dass sie dazugelernt haben. So besuchten inzwischen mehrere Taliban-Funktionäre im Kabuler Stadtteil Dasht-e-Barchi eine dortige Gemeinde ethnischer Hasara, um mit ihnen ein religiöses Fest zu feiern. Die schiitischen Hasara wurden früher von den Taliban unterdrückt und zum Teil massakriert.
In Dasht-e-Barchi waren im Mai 2020 bei einem Angriff eines bewaffneten Kommandos auf die Geburtsklinik des dortigen Krankenhauses mehr als 20 Personen getötet worden. Schon damals hatten sich die Taliban von dem barbarischen Anschlag auf Frauen, zu dem sich niemand bekannt hatte und der wahlweise ihnen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zugeschrieben wurde, distanziert. Der jetzige Besuch unterstreicht also mit einer versöhnlichen Geste Mudschahids hehre Versprechen und soll die Hasara offenbar beruhigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe