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Vorwürfe gegen Grünen-PolitikerWendung in der Causa Stefan Gelbhaar

Die eidesstattliche Versicherung zu Belästigungsvorwürfen soll falsch gewesen sein. Offenbar prüfte der RBB die Identität der Informantin nicht.

Abgestraft: Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar wurde durch eine andere Direktkandidatin ersetzt Foto: Jörg Carstensen

Berlin taz | Die Vorwürfe gegen den Berliner Grünen-Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar sind teilweise in sich zusammengebrochen. Laut Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hatte eine Frau unter falschem Namen dem Sender gegenüber eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, die Grundlage für Berichte über sexuelle Belästigung wurde. Einem Parteiausschluss, den die Grünen deshalb angekündigt hatten, kam die Frau, eine Berliner Bezirkspolitikerin, durch Parteiaustritt am Samstag zuvor. Der RBB erstattete nach eigenen Angaben Strafanzeige.

Für Gelbhaar, der eine taz-Anfrage am Sonntag unbeantwortet ließ, kommt die neue Lage zu spät: Die Grünen in seinem Wahlkreis Pankow, den er 2021 gewann – als einziger Grüner in einem Ost-Wahlkreis –, haben ihn am 8. Januar durch eine neue Kandidatin ersetzt. Mitte November noch hatten sie Gelbhaar mit über 98 Prozent Zustimmung erneut zum Direktkandidaten gemacht. Eine nochmalige Änderung ist zeitlich nicht möglich, weil die Parteien ihre Kandidaten bis zum 20. Januar bei der Wahlleitung einreichen müssen.

Seine Bewerbung für die Landesliste der Berliner Grünen hatte Gelbhaar Mitte Dezember unmittelbar vor Beginn jenes Parteitags zurückgezogen, der über die Listenbesetzung entschied. „In den letzten Tagen sind Vorwürfe gegen mich erhoben worden. Das muss parteiintern geklärt werden und das will ich jetzt erst klären“, schrieb Gelbhaar damals in einer E-Mail an die taz und andere Medien. Gelbhaar hatte in dieser Mail auf die Ombudsstelle bei der Grünen-Bundesgeschäftsstelle verwiesen. Die aber hat in den seither vergangenen fünf Wochen keine Ergebnisse öffentlich gemacht. Laut Selbstbeschreibung auf der Grünen-Internetseite untersucht diese Stelle nicht grundsätzlich neutral: „Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, heißt es dort.

Gelbhaar kannte die konkreten Vorwürfe nach eigenen Angaben zeitweise nur über die Darstellung von Journalisten. Auf seiner Internetseite argumentierte er teils mittels detaillierter Zeitabläufe, warum die Beschuldigungen aus seiner Sicht nicht stimmen konnten. Gelbhaar nannte sie „gelogen“ und „frei erfunden“. Dennoch hatte ihn der Pankower Grünen-Kreisvorstand Anfang Januar zum Rücktritt von der Kandidatur aufgefordert. Landes- und Bundesvorsitzende der Partei schlossen sich an.

Umkämpfte Plätze

Die Bundes-CDU zieht eine Verbindung zwischen der Angelegenheit und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck. Von einem „brutalen Hauen und Stechen“ in dessen direktem Umfeld sprach CDU-Vize-Generalsekretärin Christina Stumpp gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Der Hintergrund: Habecks Wahlkampfleiter Andreas Audretsch stand vor dem Berliner Listen-Parteitag im Dezember vor einem Duell mit Gelbhaar um Listenplatz 2, der einem sicheren Bundestagseinzug gleichkommt. Audretschs Chancen auf einen eigenen Sieg in seinem Wahlkreis in Berlin-Neukölln gelten als gering.

Gelbhaar, verkehrspolitischer Sprecher seiner Bundestagsfraktion, hatte schon 2021 auf Platz 2 kandidiert und gegenüber der taz in seiner erneuten Kandidatur auch ein klares Zeichen für den Osten der Stadt gesehen. Audretsch, anders als Gelbhaar ein Parteilinker, wäre angesichts linker Delegiertenmehrheit zwar ohnehin gewählt worden. Den Berliner Grünen hätte aber eine Ost-West-Debatte drohen können. Audretsch erklärte am Samstag gegenüber der dpa: „Ich weiß nicht, welche Frauen Vorwürfe erhoben haben, und habe mit dem gesamten Vorgang nichts zu tun.“

Für Diskussionen sorgte am Wochenende auch die Frage, wie der RBB seine Berichterstattung auf die Aussage einer Frau stützen konnte, deren Identität er nicht prüfte. Angeblich erfolgte der Kontakt sogar bloß telefonisch. Andere Aussagen sollen nur per E-Mail vorgelegen haben. Dass die eidesstattliche Versicherung nun eine Falschaussage sein soll, heißt für den RBB nach eigenen Worten: „Nicht alle Vorwürfe, über die wir berichtet haben, sind damit automatisch nichtig – ein wesentlicher Vorwurf allerdings schon.“ Man habe sich deshalb entschieden, „sämtliche Beiträge, in denen es um konkrete Vorwürfe geht, aus dem Netz zu nehmen“.

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24 Kommentare

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  • Denunziantitis

    Zitat: „Die eidesstattliche Versicherung zu Belästigungsvorwürfen soll falsch gewesen sein. Offenbar prüfte der RBB die Identität der Informantin nicht.“

    Das führt zu der Frage, wo hier die viel gepriesenen ARD-Faktenchecker geblieben sind, abgesehen von der unprofessionellen Négligence der Chefredaktion, auf angebliche „eidesstattliche Erklärungen“ hereinzufallen, zu deren Entgegennahme eine Rundfunkanstalt gar nicht befugt ist.

    Anonyme Denunziationen riechen per se gegen den Wind nach Intrige und zweckgerichteten Manövern. Elementare rechtsstaatliche Grundsätze des Persönlichkeitsschutzes, der Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen juristischen Klärung usw. wurden gröblichst ignoriert. Da braucht man sich über den sinkflugartigen Vertrauensverlust in die “Corporate Media“ (BernieSanders) nicht zu wundern.

    Die Kultur der anonymen Denunziation greift auch hierzulande immer mehr um sich und hat nachgerade epidemische Ausmaße angenommen. “Externe Meldestellen“, anonyme Hinweisgeberportale usw. schießen wie Pilze aus dem Boden.

    Man sollte niemals vergessen:

    „Der größte Lump im ganzen Land,




    das ist und bleibt der Denunziant.“ (Hoffmann v. Fallersleben)

  • Die Grünen müssen sich jetzt fragen: Cui Bono? Wem nützt es? Und zum RBB: Wenn dies eine "verantwortungsvolle" Recherche war, wer soll dem RBB (und damit auch dem gesamten öffentlichen-rechtlichen Rundfunk) dann noch glauben? Das erinnert doch eher an Fox-(Fake)-News, denen die Wahrheit auch egal ist, solange es nur Mr. Trump und seinen Freunden nützt. Allerdings müssen die Amerikaner für ihr Fernsehen keine Zwangsgebühren zahlen, wir in Deutschland schon.

  • „Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“

    Diese Maxime ist richtig und muss im Sinne aller Opfer von sexuellen Übergriffen und Gewalt auch beibehalten werden.

    Daran darf auch ein Missbrauch, der mutmaßlich mit einem hohen Aufwand an krimineller Energie betrieben wurde, nichts ändern.

    Der Grüne Landes- und Bundesvorstand muss sich jedoch die Kritik gefallen lassen, dass er jenseits der obigen Maxime die Unschuldsvermutung komplett ausser acht gelassen hat. Der ausgeübte Druck der Landesspitze auf einen Kandidaturverzicht verträgt sich nur schlecht mit dem "Frei und ohne Zwang" Grundsatz demokratischer Parteien hinsichtlich ihrer Mitglieder.

    Da es sich bis dato ausschließlich um unbewiesene Vorwürfe handelte, wäre es aus Gründen der Fairness geboten gewesen, die Kandidatur zu gewährleisten und die Mitglieder des Kreisverbands Pankow in erneuter Abstimmung darüber entscheiden zu lassen.

    Bleibt noch die Rolle des RBB in dieser Angelegenheit, sie ist derart unterirdisch, dass es schwer fällt an einen Zufall zu glauben.

    Das nährt natürlich den Boden für Spekulationen, dass der ehemalige RBB Mitarbeiter Andreas Audretsch in die Angelegenheit involviert sei.

    • @Sam Spade:

      Na dann schlagen Sie doch mal vor, wie man in der Praxis die von Ihnen so hochgehaltene Maxime mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung vereint…

  • Spannend ist, wie die Profiteure des von Gelbhaar durch Intrigen erzwungenen Rückzugs reagieren, sie müßten Ihre zu Unrecht



    erhaltenen Positionen eigentlich wieder räumen.

  • Welche Peinlichkeit. Habecks Wahlkampfmanager rutschte durch diesen noch undurchsichtigen Vorgang auf den sicheren zweiten Platz der Landesliste. Nur wenige Stunden ist es her, da sollte die BILD zum Schuldigen gemacht werden. Dabei waren sie, wenn auch nicht sehr appetitlich, nur die Boten. Dem RBB gebührt aber die Krone der Peinlichkeit, hat er sich doch, ohne jeglichen Anstand, zur politischen Vernichtung Gelbhaars hergegeben.

  • Absolut unwählbar diese Partei!



    Männer, seit stark !



    Männer, seit hart !

    Wer mit solchen Mitteln agiert hat keine einzige Stimme verdient !!!

    • @Bolzkopf:

      Ich stehe nun nicht im Verdacht, der Fahrradfahrer-FDP sonderlich gewogen zu sein - aber das ist doch Mummpitz, die gesamte Partei für diese Intrige in Haftung zu nehmen. Es sei denn, sie glauben dem CDU-Geraune…

  • Was ist das nur für fürchterlicher Sender, dieser RBB. Der Ruf ist ruiniert. Und bitter ist es für die anständigen Journalisten und Journalistinnen im Funkhaus. Und auch ein Geschenk für die Fakeschleudern im Umkreis der AFD. Traurig, das Ganze. Ich hoffe, dass die Grüne Partei Stefan Gelbhaar nun in aller Form rehabilitieren. Wenn nicht, wünsche ich ein wunderschönes Wahldesaster.

    • @Franz Koch:

      Bitte nicht ablenken. Der RBB hat ganz sicher grob fahrlässig gearbeitet, aber es gibt hier keinen RBB-Skandal sondern einen Grünen-Skandal. Diesen gilt es zeitnah aufzuklären und aufzuarbeiten - auch juristisch.

      • @Thomas Müller:

        Ich finde, es gibt zwei Skandale: Die nachlässige, unprofessionelle Recherche des RBB und das Verhalten der Grünen.

        Beides ist aufzuarbeiten, eventuell auch beides juristisch.

        Selbst wenn es für Sie nur einen Skandal bei den Grünen gibt, Franz Koch hat mit seiner Einschätzung absolut recht. Die Rechten werden diesen Fall immer wieder aufgreifen, um gegen den ÖRR zu stänkern und zu hetzen - und unkritisch jede Behauptung in den "alternativen Medien" glauben, solange die nur ihre Vorurteile bestätigt.

        Vermutlich sitzen Reichelt, Reitschuster und Tichy schon an den entsprechenden Kommentaren, nachdem sie eine Pulle "für besondere Gelegenheiten" geleert haben.

  • Es ist ja nicht der erste Skandal beim RBB, es wäre Zeit das es da mal einen unabhängigen Untersuchungsausschuss gibt und anschließend reihenweise Entlassungen der Verantwortlichen und eine Umstruktuierung. Das kann man dann als Testprojekt nutzen auch die rechtlichen ÖRR neuzustrukturieren und kostengünstiger aufzustellen und mehr Fokus auf guten Journalismus zu legen.

  • Jetzt steht bei den Grünen wohl eine Restaurierung des Verhältnisses zu Gelbhaar und eine Inventur des Verfahrens an ...

  • Die Bundes-CDU zieht eine Verbindung zwischen der Angelegenheit und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck…

    Ehrlich Her Alberti? Hat es diese Info bei dem Thema gebraucht? CDU als Quelle und Habeck als Drahtzieher … Ich frag ja nur …

  • Auch wenn es um Frauen als Anklägerinnen und sexuelle Belästigung geht: Bitte vorher erst genau prüfen! Auch Frauen sind nicht per se unschuldig. Vielen Dank.

  • Habeck versucht jeglichen Anfragen bezüglich des Themas aus dem Weg zu gehen, gestern am Samstag verließ er gar die Wahlkampfveranstaltung in München durch den Hinterausgang - nachdem es zu Beginn der Veranstaltung noch hieß, er stünde der Presse hinterher zur Verfügung...



    Da sieht man schon wohin die Reise gehen soll - das Thema hat enorme Sprengkraft.



    Allein aussitzen wird ihm kaum gelingen, bis zur Wahl ist es noch über ein Monat - und mit Ausnahme der Medien die es mit den Grünen halten wird der Druck grenzenlos werden.



    Was auch immer die Intension hinter den Anschuldigungen war, die Affäre hat das Potential Habeck alle Chancen auf ein schwarz-grünes Bündnis zu vermasseln.

  • Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Barschel 1987. Seit dem ist doch niemandem zu trauen.

  • Es wäre schon eine qualifizierte Recherche aufschlussreich, was da bei der Generation Y bei den Grünen los ist.



    Es scheint eine/r gewissenloser zu sein als der andere. Beispel die Bundestagsabgeordnete aus Mannheim - Sekmen - wechselt zu einer Partei, die nichts aber auch garnichts mit grünen Themen am Hut hat zur CDSU und grinst nun frech von den Wahlplakaten auf die verarschten Wähler. Schwerpunkt jetzt: reaktionärer Neoliberalismus pur.



    Was Frau ALB vor der letzten Wahl aufgeführt hat, verjährt - bei den Iranerinnen, die sie lange im warsten Sinne des Wortes hat unkommentert hängen lassen eher nicht.

  • Da sind andere aber schon deutlich weiter: www.zdf.de/nachric...in-kresse-100.html

    • @Kanuka:

      Da steht ja nun auch nicht mehr ...

    • @Kanuka:

      Ja, und die Grünen-Spitze übt sich weiter im Vertuschen. "Sobald die Person, gegen die sich dieser schwere Verdacht richtet, uns namentlich bekannt wird und der schwerwiegende Verdacht nicht unverzüglich ausgeräumt wird ...", dabei wird er gerade überall veröffentlicht.

      • @Manfred Peter:

        Das von Ihnen angesprochene Zitat der Grünen-Bundesführung ist mindestens von Gestern, bevor die (vermutlich) Verantwortliche zurück- und ausgetreten ist.

  • Wenn man allein die "Betroffenenperspektive" zur Handlungsmaxime erhebt und auf Neutralität verzichtet, dann kann, ohne das außer einem vagen Tatvorwurf nichts da ist, die Karriere eines männlichen Politikers zerstört werden, ggf. sogar sein Leben.



    Das kann man mit guter Begründung auch als "brutales Hauen und Stechen" bezeichnen.

  • Der Umgang mit dem Ganzen zeigt Vieles.