Grünen-Vorsitzende über ihre Bilanz: „Wir machen einen Unterschied“
Ricarda Lang und Omid Nouripour wollen wiedergewählt werden. Ein Gespräch über gute Migrationspolitik und fliegende Tomaten.
wochentaz: Frau Lang, Herr Nouripour, als Sie vor zwei Jahren Bundesvorsitzende der Grünen wurden, sah sich Ihre Partei auf dem Weg zur Volkspartei. Jetzt, wo Sie wiedergewählt werden wollen, gelten die Grünen als Verbotspartei und Ihre Parteifreund*innen haben im Wahlkampf Angst vor Anfeindungen. Was haben Sie falsch gemacht?
48, wurde in Teheran geboren und zog im Alter von 13 Jahren mit seinen Eltern nach Frankfurt. Seit 2006 sitzt er für die Grünen im Bundestag, er wird dem Realo-Flügel zugerechnet. Seit 2022 ist er Bundesvorsitzender der Grünen.
Omid Nouripour: Wenn Leute Angst vor Anfeindungen haben, ist es kein Problem der Grünen, sondern für unsere Demokratie. Es stimmt, die Debatte ist teils hitzig und wir stehen im Zentrum des Geschehens. Aber das zeigt auch, dass wir einen Unterschied machen.
Also keine Fehler Ihrerseits?
29, wuchs in Nürtingen als Tochter einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin auf. Sie war Sprecherin der Grünen Jugend und wird dem linken Parteiflügel zugerechnet. Seit 2022 ist sie Bundesvorsitzende der Grünen.
Ricarda Lang: Manchmal fehlt auch uns der Blick fürs Wesentliche. Nehmen wir das Aus für den fossilen Verbrenner auf europäischer Ebene: Das ist einer der wichtigsten klimapolitischen Erfolge dieser Legislatur. Auf dem Weg dahin hat sich das Land aber in einer wochenlangen, kleinteiligen Debatte über E-Fuels verzettelt.
Richtig selbstkritisch klingt das nicht. Die Debatte ging auf Rechnung der FDP.
Lang: Wir haben auch dazu beigetragen.
Robert Habeck und Annalena Baerbock, Ihre Vorgänger*innen, haben versucht, das Image der Grünen neu zu erfinden: raus aus dem Lagerdenken, rein in die Mitte – „Bündnispartei“ hieß das. Davon ist nicht viel übrig, so viel Lager wie heute war lange nicht.
Lang: Das sehe ich ganz anders. Wir stehen im Zentrum der politischen Debatte und machen von dort aus Politik. Man reibt sich an uns, weil wir Dinge voranbringen. Es gibt den Versuch, uns zurückzuschieben in die Nische. Aber das werden wir nicht zulassen.
Ein großer Teil der Bevölkerung sieht Sie nicht mehr in der Mitte. Sie sind in der Defensive. Wie ist Ihr Plan, da raus zu kommen?
Nouripour: Die Probleme lösen, die andere verursacht haben, damit gleichzeitig die Modernisierung vorantreiben und besser vorsorgen: Das ist der Plan. Es geht darum, Wohlstand, Klimaschutz und Gerechtigkeit zusammenzuführen. Wenn es eine Partei gibt, die dieser Aufgabe gewachsen ist, sind es die Grünen.
Lang: Es gibt im Land eine gewisse Krisenmüdigkeit, die ich nachvollziehen kann. Damit einher geht mitunter der Wunsch, dass Schluss ist mit Veränderungen. Und es gibt den Versuch, das auf die Grünen zu projizieren. Nur war es ja die Realitätsverweigerung der großen Koalition, die erst dazu geführt hat, dass unser Land für Krisen kaum aufgestellt ist. Veränderung ist kein Selbstzweck, aber manchmal nötig, um Stabilität und Sicherheit für die Menschen zu schaffen. Dabei müssen wir die soziale Frage an den Anfang stellen.
Das sagen Sie oft. Aber bei der Ampel steht die soziale Frage immer am Ende: Die Förderung für neue Heizungen ist noch nicht beschlossen, das versprochene Klimageld gibt es nicht, die Kindergrundsicherung ist schlecht ausgestattet.
Lang: Ich würde die Liste um ein paar positive Punkte ergänzen. Mindestlohn: auf 12 Euro angehoben, auch wenn er weiter steigen muss. Bürgergeld: eingeführt und Hartz IV hinter uns gelassen. Kindergrundsicherung: kommt und ist ein Paradigmenwechsel im Kampf gegen Kinderarmut. Und das Tariftreuegesetz folgt erst noch – mit dem Ziel, dass staatliches Geld nicht für Lohndumping ausgegeben wird. Wir brauchen ein Gerechtigkeitsversprechen an die Mitte, da geht es auch um gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds wird das nicht leichter, es fehlen 60 Milliarden Euro. Was bedeutet das für Ihre Politik?
Nouripour: Das ist eine erhebliche Herausforderung für alle demokratischen Parteien, denn das Urteil ist ja ein sehr Grundsätzliches und betrifft auch die Frage, wie Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt. Schauen Sie in die USA, wo milliardenschwere Investitionen in Zukunftstechnologien gesteckt werden. Der Wettbewerb darum, wer international Vorreiter ist, ist in vollem Gange. Es geht um Arbeitsplätze und Stabilität, es geht um Standards, es geht darum, wo künftig Innovation entsteht. Entsprechend wird die Regierung gemeinsam Lösungen finden.
Sie sind in Berlin und Hessen aus der Regierung geflogen und auch bei den außerparlamentarischen Bündnissen sieht es nicht gut aus. Die Klimabewegung hat sich abgewandt, weil die Ampel das Klimaschutzgesetz entkernt. Sozialverbände verlassen das „Bündnis für die junge Generation“ der grünen Familienministerin. Menschenrechtsaktivist:innen kehren Ihnen wegen der Asylpolitik den Rücken. Gehen ihnen die Partner verloren?
Lang: Nein. Wir sind im guten und konstruktiven Austausch mit unseren Bündnispartnern und darüber hinaus. Ein Beispiel ist das große Projekt des klimaneutralen Wohlstands. Bei meiner diesjährigen Sommertour war ich auch in der Lausitz, einem Gebiet, wo bei einer Debatte über Kohleförderung vor zehn Jahren vielleicht noch Tomaten geflogen wären. Dort habe ich mit jungen Auszubildenden darüber gesprochen, was für einen Job sie in zehn Jahren haben werden. Sie wissen, es wird sich dort was verändern. Das Wichtigste ist doch Ehrlichkeit – und dass Menschen nicht das Gefühl bekommen, wir entscheiden Dinge über ihren Kopf hinweg.
Aber genau dieses Gefühl haben Sie doch vermittelt, etwa beim Heizungsgesetz oder dem Flüssiggas-Terminal auf Rügen.
Lang: Es hat in den letzten Monaten einen Vertrauensverlust in demokratische Institutionen gegeben. Menschen wollen vor allem wissen: Was bedeutet Politik ganz konkret für mich? Ihnen ist egal, ob etwas ein grüner, gelber oder roter Erfolg ist. Da kann die Ampel Vertrauen zurückgewinnen.
Nouripour: Die Leute müssen das Gefühl haben, ernst genommen zu werden. Dass ihnen nichts vorgemacht wird. Das ist etwas, was uns auszeichnet. Wir tun nicht so, als könnten wir zurück in die 90er-Jahre – oder als würde schon alles gut, wenn es nur so bleibt, wie es ist. Und weil Sie die Bewegungen angesprochen haben: Sie haben eine andere Rolle als wir und das ist auch gut so. Mit ihrer Hilfe, auch mit ihrer Kritik können wir zuweilen mehr erreichen.
Die Bewegungen fühlen sich zum Teil von Ihnen verraten.
Nouripour: Meiner Wahrnehmung nach erwarten die Leute von uns keine Wunderdinge, sondern dass wir eine Haltung haben und den Laden in die richtige Richtung ziehen. Auch in der Partei führen wir viele Gespräche. Wir reden darüber, was wir erreicht haben, und natürlich auch über das, was wir nicht erreicht haben und noch kommen muss. Kompromiss gehört zur Demokratie dazu, ist letztlich ihr Wesenskern. Unser Eindruck ist, dass die Leute sehen, dass die Richtung stimmt, auch wenn es an einigen Stellen noch nicht reicht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Müsste die Partei mit Ihnen an der Spitze der Regierung nicht mehr widersprechen, mehr Druck entfalten, damit die Grünen mehr durchsetzen?
Nouripour: Es ist Aufgabe der Partei, die Positionen so in den Prozess einfließen zu lassen, dass sich möglichst viel davon im Ergebnis wiederfindet. Das tun wir. Es ist niemandem geholfen, wenn die Entscheidung schon durch, das Spiel schon gelaufen ist, in die Nachkommentierung einzusteigen.
Lang: Und dass die Partei dabei geschlossen ist, ist eine große politische Stärke, gerade wenn es Gegenwind gibt. Dafür werden wir uns als Vorsitzende natürlich nicht entschuldigen. Bei unseren Mitgliedern, aber auch in der Bevölkerung, wird Opposition innerhalb der Regierung nicht honoriert.
Frau Lang, Sie als Parteilinke haben mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann einen Meinungsbeitrag veröffentlicht, der der Partei zeigen sollte: Wir bleiben bei der Migrationspolitik zusammen. Im Interview mit der taz hat Kretschmann das konterkariert, indem er die Grünen ermahnt hat, sich mehr zu bewegen. Ärgert Sie das?
Lang: Ich habe keine Zeit, mich zu ärgern.
Kaum zu glauben.
Lang: Unser Beitrag zeigt doch, dass eine gemeinsame Position möglich ist. Er war ein Signal an die öffentliche Debatte: Lasst uns wegkommen von diesem Überbietungswettbewerb an Scheinlösungen und möglichst lauten Forderungen. Lasst uns darüber diskutieren, was funktioniert. Wir haben dafür drei Dinge definiert: Erstens Humanität, also dass wir eine humanitäre Verantwortung haben. Zweitens: Ordnung, wir brauchen geordnete Verfahren.
Nouripour: Und drittens Sachlichkeit. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass jedes Komma im Ausländerrecht existenziell sein kann.
„Humanität und Ordnung“ ist der gleiche Slogan wie der der Union.
Nouripour: Wir haben ihn seit 2017. An den Außengrenzen sind die Verhältnisse unerträglich. Leute leben teilweise zweieinhalb Jahre auf den griechischen Inseln in unwürdigen Bedingungen, bis ihre Anträge überhaupt angeschaut werden. Da fehlt Ordnung, da fehlt Humanität. Bei uns im Land sind sehr viele Kommunen überlastet, weil es nicht nur an Geld fehlt, sondern an Wohnraum, an Personal. Es ist deshalb ein großer Erfolg, dass die Kommunen jetzt zusätzliche dreieinhalb Milliarden Euro bekommen.
Winfried Kretschmann hat in der taz gesagt: In der Migrationsfrage müssen die Grünen „runter von der Bremse bei der Eindämmung der irregulären Migration“, sonst würden Sie wieder in der Nische landen. Frau Lang, würden Sie das auch unterschreiben?
Lang: Ich würde das unterschreiben, was ich selbst geschrieben habe.
Nouripour: Außerdem ist es ein Scheinwiderspruch. Wir haben seit Jahren im Programm nicht nur legale Wege und Spurwechsel stehen, sondern auch dass Menschen, deren Anträge abgelehnt sind und die keinen subsidiären Schutz genießen, nicht bleiben können.
Mal was anderes: Worauf sind Sie eigentlich richtig stolz?
Nouripour: Ich bin stolz darauf, dass der Ausbau der Erneuerbaren so vorangeht, dass die Energiewende nicht mehr reversibel ist. Und wie geschlossen diese Partei dasteht.
Lang: Und dass sich niemand aus der Verantwortung rauswünscht. Die letzten zwei Jahre geben mir Mut. Wir haben viel erreicht. Wir sind innerhalb von einem Jahr unabhängig von russischem Gas geworden und haben das Land durch den letzten Winter bekommen.
Vielen Menschen gibt die derzeitige Lage alles andere als Mut. Sie machen sich Sorgen, auch mit Blick auf die Umfragewerte der AfD.
Lang: Wenn ich sage, das Land braucht Mut, dann hängt das auch mit der AfD zusammen. Wenn vieles schlecht geredet wird, nutzt es denen, die von Angst leben. Mut heißt nicht Schönreden und bedeutet auch keine naive Ignoranz gegenüber den realen Verhältnissen. Aber es ist der überzeugte Glaube, dass wir in diesen realen Verhältnissen gemeinsam etwas besser machen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken