Debatte über Migration: Warmes Herz, kühler Kopf

Es kommen derzeit zu viele Geflüchtete. Wir als Kommune können uns um alle nur noch gleich schlecht kümmern. Ein Zwischenruf.

Menschen laufen zu einem Schild namens Sporthalle

Die Kommunen würden gern helfen, können aber nur reagieren Illustration: Katja Gendikova

Unser Land ist seit geraumer Zeit Ziel von einer hohen Zahl geflüchteter Menschen. Seit Februar 2022 kommen Menschen aus der Ukraine in Folge des russischen Angriffskrieges und suchen Schutz. Spätestens seit dem Spätsommer 2022 ist festzustellen, dass auch wieder viele Menschen aus den sogenannten Drittstaaten nach Europa flüchten und Asyl begehren. Die Bundesinnenministerin hat dies und die Hinweise aus den Kommunen lange Zeit ignoriert. Dadurch ist wertvolle Zeit für steuernde und ordnende Maßnahmen verloren gegangen – insoweit ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung für erleichterte Abschiebungen in dieser Woche ein Schritt in die richtige Richtung.

Für die Kommunen bedeutet die derzeitige Lage eine enorme Herausforderung. Woche für Woche, wenn die Menschen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes auf die Kommunen verteilt werden – und eigentlich inzwischen tagtäglich. Die Akquise von Wohnungen als idealtypische Unterbringungsmöglichkeit ist faktisch eine Unmöglichkeit. In vielen Regionen fehlt schon heute Wohnraum, vor allem bezahlbarer.

Zur Vermeidung einer Belegung von Bürgerhäusern oder Turnhallen werden in aller Eile leerstehende Gewerbeimmobilien angemietet und mit enormem finanziellem Aufwand hergerichtet; die Hoffnung, mehrere kleinere Immobilien herzurichten und so autark zu betreibende Unterkünfte zu schaffen, scheitert schon nach kurzer Zeit an fehlenden und geeigneten Immobilien. Gewerbe– und Leichtbauhallen werden angemietet und mit Schlafparzellen zu Unterkünften umfunktioniert.

In Orten, in denen dies nicht möglich ist, müssen Zeltstädte errichtet werden, weil Container auf dem Markt schon lange Mangelware sind, zu lange Lieferzeiten haben, oder keine geeignet erschlossenen Flächen vorhanden sind, auf denen diese an die notwendige Infrastruktur von Wasser, Abwasser und Strom angeschlossen werden können. Zeitgleich müssen Caterer für die Versorgung, Träger für die Vor-Ort-Betreuung und Security ausgeschrieben und beauftragt werden; von der Beschaffung von Betten, Spinden, Bettzeug und Geschirr ganz zu schweigen. Das Ziel, Menschen nur für einen kurzen Zeitraum in Notunterkünften unterzubringen und sie zeitnah in geordnete Wohnverhältnisse oder wenigstens kleinere Gemeinschaftsunterkünfte weiterverteilen zu können, ist ein hehres, aber kein realistisches Ziel mehr.

Die Frage, wann diese teuren Provisorien wieder aufgelöst werden können und es städtebaulich dauerhaft sinnvolle Lösungen gibt, steht im Raum, kann aber nicht beantwortet werden. Fachkräftemangel in der Verwaltung zwingt zu Einschnitten und Prioritätensetzungen: Leistungsgewährung wird oberste Aufgabe, für eine vernünftige Betreuung sind faktisch keine Kapazitäten mehr vorhanden. Die Planung von Kindertagesstätten oder Schulen – wie auch anderer kommunaler Infrastruktur – erinnert inzwischen an eine Fahrt auf Sicht bei dichtem Nebel.

Die enorme Herausforderung wird zur dauerhaften Überforderung der Kommunen und Menschen vor Ort und sukzessive der Gesellschaft insgesamt. Die Kommunen wollen helfen und unterstützen. Auch dies wird in den Kommunen geleistet: Große Hilfsbereitschaft und viel ehrenamtliches Engagement für die Menschen, welche zu uns kommen. Aber auch hier gilt, dass dieses großartige ehrenamtliche Engagement und die Hilfsbereitschaft endlich sind.

Viele haben keine Bleiberechtsperspektive

Wir müssen uns ehrlich machen: Wir schaffen das nicht mehr. Es kommen zu viele Menschen zu uns, von denen sehr viele keine Bleiberechtsperspektive haben. Der Artikel 16a im Grundgesetz ist Auftrag und Verpflichtung zugleich. Wer unter dessen Schutzbereich fällt, dem wollen und dem müssen wir als Kommune helfen und Asyl gewähren, dies ist unstrittig. Wir müssen aber unterscheiden zwischen Asylbewerbern, Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen und Menschen, die aus anderen, zumeist wirtschaftlichen, Gründen zu uns kommen und sich ein besseres Leben erhoffen.

Wir müssen aber auch anerkennen, dass wir durch die ungeregelte Migration den Menschen, welche unseres Schutzes tatsächlich bedürfen, nicht mehr gerecht werden. Wir können ihnen kein vernünftiges Integrationsangebot machen, weil unsere knappen Ressourcen für alle zu uns geflüchteten Menschen – unabhängig von ihrem Fluchtgrund – eingesetzt werden, mit der Folge, dass wir uns um alle Menschen nur noch gleich schlecht kümmern können.

Integration findet in den Kommunen statt. Allerdings haben die Kommunen aber auf die Rahmenbedingungen keinerlei Einfluss. Die Kommunen müssen wieder in die „Vorhand“ kommen, sie müssen die bestehende Situation wieder gestalten können, also weg vom bloßen Reagieren hin zum planvollen Agieren. Dies bedeutet, dass den Kommunen nur Menschen zugewiesen werden sollten, die auch eine Bleiberechtsperspektive haben. Dies setzt aber voraus, dass Verschiedenes auch verschieden behandelt wird. Die Kategorien „Politisches Asyl“, „Flucht vor Krieg und Vertreibung“, sowie die gezielte Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen gehören gesondert betrachtet und gelöst.

Viele Menschen kommen als Asylbewerber, wenngleich klar ist, dass nicht allen Menschen Asyl gewährt werden kann. Für Menschen, denen Asyl gewährt wurde, ist es notwendig, ihnen ein Integrationsangebot zu machen, da sie dauerhaft in unserem Land verbleiben werden. Menschen, welche temporären Schutz genießen, sind zu unterstützen und zu fördern, sodass ihr temporärer Aufenthalt auch für sie zur Weiterentwicklung und Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten genutzt wird. Die gezielte Ansprache für den Arbeitsmarkt, verbunden mit der Möglichkeit der Erlangung eines dauerhaften Bleiberechts, sollte forciert werden.

Humanität und Ordnung

Für Menschen, welche aus wirtschaftlichen Gründen flüchten, muss durch ein modernes und flexibles Einwanderungsgesetz geregelt werden, dass es bestimmte, unabdingbare Rahmenbedingungen gibt, die eine Einreise und einen dauerhaften Aufenthalt ermöglichen. Die Umsetzung dieses Modells kann aber nur gelingen, wenn an den europäischen Außengrenzen die Vorentscheidung über eine Aufnahme getroffen wird und zunächst nur Menschen mit einer realistischen Bleiberechtsperspektive die Einreise in die EU gewährt wird.

Menschen mit einer geringen Bleiberechtsperspektive sollten ihr Verfahren in Asylzentren an der EU-Außengrenze durchlaufen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass wir anerkennen müssen, dass es in der Realität fast nicht möglich ist, Menschen ohne Bleiberecht zeitnah abzuschieben, wenn sie einmal in der EU angekommen sind. Das Prozedere an den Außengrenzen muss unter Kontrolle der EU und unter humanitären Standards erfolgen. Eine solche Regelung entspräche dem Leitmotiv von „Humanität und Ordnung“: Es regelt die Verfahren, den wirklich Betroffenen könnte zügig und wirksam geholfen werden – und für die Kommunen träte eine wirksame Entlastung ein.

Solange es nicht zu einer europäischen Regelung kommt, müssen schnell realisierbare nationale Lösungen etabliert werden. Dazu gehören aus meiner Sicht mobile und stationäre Grenzkontrollen sowie eine Ausdehnung der Schleierfahndung zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität, ebenso der Aufbau von Ankerzentren, in denen Verfahrens- oder Verfahrensvorentscheidungen getroffen werden. Nochmals: Ziel sollte es sein, irreguläre Migration zu minimieren, den Fokus auf die wirklich Betroffenen zu richten und den Kommunen Schritt für Schritt wieder aktives Handeln zu ermöglichen.

Auch die Bundesländer sind gefordert, ihre Kapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtungen auszubauen und aus diesen den Kommunen nur Menschen zu überlassen, die auch eine realistische Bleiberechtsperspektive haben. Und, ja, es muss auch darum gehen, dass die Rückführungsquote erhöht wird und Menschen mit einem negativ beschiedenen Asylverfahren ausreisen oder zeitnah nach der Entscheidung abgeschoben werden.

Mehr Sprachkurse

Aus kommunaler Sicht müssen aber auch die weiteren Rahmenbedingungen verändert werden. Die Kommunen schaffen derzeit viele Unterkünfte und wenden erhebliche Mittel für den Aufbau und den Betrieb dieser Unterkünfte auf. Neben den tatsächlichen Betriebs- und Betreuungskosten sollten auch die Vorhaltekosten für Unterkünfte in die Kostenerstattung einbezogen werden. Denn wir als Kommune müssen Unterkünfte auf Vorrat schaffen, um die dynamische Situation bewerkstelligen zu können. Die im Bundeshaushalt vorgesehene Kürzung der Integrationsmittel muss unbedingt korrigiert werden!

Es ist absurd, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Situation eine Kürzung vorgesehen ist und damit laufende Integrationsprogramme gekappt werden müssten. Die aktuelle Situation erfordert gerade das Gegenteil. Wir brauchen mehr Sprachkurse, damit die Integration in Arbeit und Gesellschaft schneller gelingen kann. Die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen muss vereinfacht, betriebliche Integrationsarbeit gefördert werden.

Die Menschen müssen raus aus den provisorischen Unterkünften. Integration bedeutet nicht nur Sprache und Arbeit, sondern auch eigenständiges und selbstbestimmtes Wohnen. In vielen Kommunen ist Fläche ein rares Gut. Allein durch Nachverdichtung wird es nicht gelingen, das Wohnungsproblem zu lösen. Schon heute fehlt bezahlbarer Wohnraum. Es ist daher nötig, Restriktionen in den Flächennutzungsplänen aufzuheben, damit die Integration auch städtebaulich sinnvoll gelöst werden kann.

Aktuelle Debattenbeiträge, die einerseits die Situation kleinreden oder beschönigen oder andererseits durch Populismus Vorurteilen Vorschub leisten, werden der Situation nicht gerecht und sind Teil des Problems und nicht dessen Lösung. Es muss mit warmem Herz, aber kühlem Kopf der Situation begegnet und jetzt entschlossen gehandelt werden.

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ist hauptamtlicher Kreisbeigeordneter (Stellvertreter des Landrats) im Landkreis Bergstraße in Hessen und Co-Vorstandssprecher der Grünen im Landkreis.

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