Atomkraft in Frankreich: Fiasko in Frankreich

Kernspaltung war beim Nachbarn mal ein Zeichen für Forschergeist. Heute steht die Regierung vor großen Problemen, ist aber unbeirrt.

Die Kühltürme eine Atomkraftwerks im Nebel

Atomkraftwerk im französischen Saint-Laurent-Nouan Foto: Stephane Mahe/reuters

Während die weißen Dampfschwaden der AKW-Kühltürme und die Atomkraft in Deutschland insgesamt Geschichte sind, geht Frankreich den umgekehrten Weg – Laufzeiten werden verlängert, sechs neue AKWs sollten gebaut werden. In der Sache ist Frankreich psychologisch gesehen ein Fall von „eskalierendem Commitment“. Man lässt sich nicht von einem einmal eingeschlagenen Kurs abbringen, obwohl immer deutlicher wird, dass dieser Kurs in die Irre führt.

Eskalierendes Commitment ist nicht schlimm, wenn man im Kino sitzen bleibt, obwohl längst klar ist, dass einem der Film nicht gefällt, oder wenn Menschen in einer Beziehung bleiben, obwohl sie merken, dass sie nicht glücklich sind – am Ende schadet es nur ihnen selbst. Fatal ist es, wenn Staaten an ihren Entscheidungen festhalten, obwohl sie sich verrannt haben.

Die Geschichte der Atomenergie in Frankreich ist ein Fiasko, das wie ein Märchen begann: Die Politikwissenschaftlerin Sabine von Oppeln verortet die Geschichte der Kernenergie in Paris und Berlin. Das Pariser Forscherteam um Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie und das Berliner Team um Otto Hahn und Lise Meitner leisteten Pionierarbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Deutschland aus naheliegenden Gründen auf die eigenständige Entwicklung militärischer Atomwaffen verzichten.

In Frankreich hingegen wurde die Force de frappe – die Nuklearstreitmacht der französischen Streitkräfte – als Symbol der Größe und Unabhängigkeit des Staates aufgebaut. Hauptgründe dafür waren die Ablehnung einer US-amerikanischen Vorherrschaft in Europa und das Streben nach dem Erhalt einer Vormachtstellung angesichts des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik. Der französische Wille, „nie wieder schwach zu sein“, erklärt sich historisch aus dem als gescheitert empfundenen Pazifismus der 1930er Jahre. Der Pazifismus endete 1938 mit dem Münchner Abkommen und 1940 mit der deutschen Besetzung Frankreichs. Die Atomwaffen bildeten, was Ressourcenwissen anbelangte, die Grundlage für die zivile Nutzung der Kernenergie.

„In Frankreich haben wir kein Erdöl, aber wir haben Ideen“ – so lautete der Slogan des Jahres 1976 unter Präsident Valéry Giscard d'Estaing. Unter dem Schock des Ölpreisanstiegs 1973 suchte das Land nach neuen Energiequellen. Nach der Ölkrise war Frankreich in der Lage, innerhalb von 20 Jahren einen über das Land verteilten Atomkraftwerkspark mit 59 Reaktoren zu errichten – also 3 Reaktoren pro Jahr. Ein Riesenerfolg aus der Sicht der Kernenergiefans: In den 2000er Jahren war Frankreich – auf die Einwohnerzahl heruntergerechnet – weltweit das Land mit den meisten Atomkraftwerken. Das Land produzierte mehr Strom, als es verbrauchte. Der Verkauf des Überschusses an die europäischen Nachbarländer brachte jährlich 3 bis 5 Milliarden Euro in die Staatskasse.

Atom­kraft­geg­ne­r:in­nen stießen in Frankreich auf die starre, zentralistische und autoritäre Umsetzung von Politik

Zwanzig Jahre später hingegen befürchtet das Land Stromengpässe; zeitweise war 2022 die Hälfte der Atomkraftwerke abgeschaltet – entweder wegen gravierender Mängel und Schäden oder wegen mangelnden Kühlwassers wegen des heißen Sommers. Frankreich ist zum größten Strom­im­porteur Europas geworden.

Natürlich ist die Kernenergie auch in Frankreich nicht unumstritten. Die Intensität der Proteste gegen die zivile Nutzung der Kernenergie war in Frankreich zeitweise vergleichbar mit der in Deutschland. Allerdings stießen die Atom­kraft­geg­ne­r:in­nen in Frankreich auf die starre, zentralistische und autoritäre Umsetzung von Politik im Allgemeinen und des Atomprogramms im Besonderen.

Um die nukleare Abschreckungskraft Frankreichs durchzusetzen, nutzte Premierminister Michel Debré 1960 den Verfassungsartikel 49.3, der es der Regierung erlaubt, Gesetze am Parlament vorbei durchzusetzen. „49.3“ ist auch im Ausland bekannt, seitdem Präsident Macron seine Rentenreform über diesen Weg durchsetzte.

70 Prozent Atomstrom

Heute stammen rund 70 Prozent des französischen Stroms aus Kernenergie. Aber das Land scheint nicht in der Lage zu sein, aus der Atomindustrie eine erfolgreiche Industrie zu machen. Angesichts der Risiken der Kernenergie und solange Atommüll nicht in den Weltraum geschossen wird – was hoffentlich nie passiert –, ist das vielleicht ein Glück im Unglück.

Aber die politischen Skandale, die gefälschten Dokumente in der Schmiede von Le Creusot, einem wichtigen Standort für den Bau von Großkomponenten von AKWs, um die offizielle Zulassung für fehlerhafte Bauteile zu erhalten, sind noch dramatischer als das „eskalierende Commitment“. So hat sich der Bau des Typs EPR – eines Druckwasserreaktors der dritten Generation – in Flamanville in der Normandie zu einem Albtraum entwickelt, mit derzeit mehr als zehn Jahren Verzögerung und einem von 3,3 auf 19 Milliarden Euro gestiegenen Budget.

Die Rede ist von Konstruktionsfehlern bei der Außenhülle, von Problemen mit den Schweißnähten. Um aus der Patsche zu kommen, musste der staatliche Stromkonzern EDF seinen Hauptkonkurrenten, den US-amerikanischen AKW-Hersteller Westinghouse Electric Company, um Hilfe bitten. Jetzt sind US-Schweißer in der Normandie gelandet.

Präsident Macron hat sich zum Ziel gesetzt, den Bau neuer Kernkraftwerke bis 2050 zu beschleunigen. Gleichzeitig verabschiedete der Senat das Gesetz zur Beschleunigung der erneuerbaren Energien. Angesichts der Absicht der politischen Führung, in Wahrheit auf Atomkraft zu setzen, scheint es sich um eine Form von politischem Gaslighting zu handeln.

Derweil bekommen die ehemaligen Dampfschwaden der drei letzten deutschen Atomkraftwerke eine neue Bedeutung: Wie bei der Papstwahl steht der weiße Rauch für den erfolgreichen Beschluss einer Wende. Jetzt ist es an Frankreich, zu zeigen, dass es vielleicht keine neuen Kernkraftwerke, aber Ideen hat.

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