Reform des Wahlrechts: Ampel gegen Sachverstand

Am Freitag beschließt der Bundestag wohl das umstrittene neue Wahlrecht. Die Ampel beruft sich auf den Rat von Sachverständigen.

Blaue Bundestagssitze liegen noch unmontiert auf dem Fußboden

Und raus bist du: Linke und CSU könnten ihre Sitze im Bundestag verlieren Foto: Clemens Bilan/epa

BERLIN taz | Union und Linkspartei geben sich weiter empört, helfen wird es ihnen aber kaum noch: Mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen wird der Bundestag am Freitag voraussichtlich das neue Wahlrecht beschließen. Teil der Reform: Der bisher übliche Umweg um die 5-Prozent-Hürde herum wird versperrt. Gestrichen wird die Grundmandatsklausel, durch die Parteien in den Bundestag kommen, auch wenn sie bundesweit weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhalten – sofern in einzelnen Wahlkreisen ihre Di­rekt­kan­di­da­t*in­nen die meisten Stimmen bekommen.

Künftig könnte es passieren, dass die CSU dutzende Wahlkreise in Bayern gewinnt und bei der Mandatsverteilung trotzdem leer ausgeht. Hätten die neuen Regeln schon bei der letzten Wahl gegolten, wäre schon jetzt die Linke nicht mehr im Parlament. Erst am Montag hatten die Regierungsfraktionen überraschend diese Änderung in ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf präsentiert. Zur Begründung verweisen sie seitdem immer wieder auf eine Sachverständigenanhörung im Innenausschuss, bei der im Februar zehn Ex­per­t*in­nen vornehmlich aus der Rechtswissenschaft die ursprünglichen Pläne bewerteten.

„Wir haben von Ex­per­t*innen bei der Anhörung die eindeutige Rückmeldung erhalten, dass die Grundmandatsklausel systemwidrig ist“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast. Um die Wahlrechtsreform verfassungsfest zu machen, sei es ratsam, die Klausel abzuschaffen. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte, die Regelung wäre ein „Fremdkörper im System“ gewesen. „Das ist das, was bei der Anhörung Thema war und was aufgegriffen wurde.“ Im Deutschlandfunk behauptete auch FDP-Vize Johannes Vogel, die Streichung sei „eine Reaktion auf die Anhörung“.

Doch taz-Recherchen zeigen: Das Stimmungsbild unter den Ex­per­t*in­nen war in der Frage nicht nur während der Sitzung im Februar geteilt. Auf Nachfrage spricht sich jetzt sogar eine Mehrheit der Sachverständigen gegen die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel aus. Würde der Bundestag vor der Abstimmung eine neue Anhörung durchführen, wäre das Echo für die Ampel-Fraktionen verheerend: Aus verschiedenen Gründen lehnen fast alle der Sachverständigen die Reform in ihrer jetzigen Form ab.

„Beibehaltung unabdingbar“

Sitze Der Gesetzentwurf sieht vor, die Sollgröße des Bundestags von derzeit 598 Abgeordneten leicht auf 630 zu erhöhen. Auf Überhang- und Ausgleichsmandate wird aber ganz verzichtet. Im Vergleich zu heute wird das Parlament also schrumpfen.

Verteilung Es bleibt bei den bestehenden 299 Wahlkreisen. Ausschlaggebend für die Sitzverteilung sollen allein die Zweitstimmen sein. Künftig kann es passieren, dass ein Kandidat seinen Wahlkreis gewinnt, aber kein Mandat bekommt – und zwar dann, wenn nach dem Zweitstimmenergebnis seiner Partei weniger Sitze zustehen als sie Direktmandate geholt hat. Ins Parlament kommen dann nur die Wahl­kreis­sie­ge­r*in­nen mit den besten Ergebnissen.

Klausel Leer ausgehen soll künftig auch jede Partei, die nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. Denn die sogenannte Grundmandatsklausel soll gestrichen werden. Nach ihr kommt bisher in den Bundestag, wer seinen Wahlkreis gewinnt, obwohl seine Partei bundesweit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen holt. Ab drei Direktmandaten kommen bisher auch Listenkandidaten der Partei entsprechend des Zweitstimmenanteils rein. (dpa/taz)

In einem gemeinsamen Gutachten für die Anhörungen plädierten im Februar die von der Ampel vorgeschlagenen Recht­wis­sen­schaft­le­r*in­nen Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers dafür, die Klausel beizubehalten, um die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb zu wahren. Die Beibehaltung sei für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs „unabdingbar“. Nur eine ergebnisneutrale Reform stelle sicher, dass die zustimmenden Parteien nicht auch ihre eigenen politischen Interessen verfolgten. Mit anderen Worten: Es läge sonst der Verdacht nahe, dass SPD, Grüne und FDP eine Reform zum eigenen Vorteil durchpauken.

Den Einwand, dass die Grundmandatsklausel dem System der Verhältniswahl widerspreche, ließ das Trio in seinem Gutachten nicht gelten. „Die Fortschreibung der Grundmandatsklausel steht nicht im Widerspruch zum System der Verhältniswahl“, heißt es dort. Sie sei „verfassungsrechtlich auch künftig gut zu rechtfertigen“.

Fühlen sich die drei Ju­ris­t*in­nen übergangen, ist der Ampel-Verweis auf die Sachverständigen nur vorgeschoben? Meinel möchte sich öffentlich nicht äußern, Möller und von Achenbach verweisen auf das gemeinsame Gutachten. Sie sehe keinen Anlass zur Änderung der damaligen Stellungnahme, so von Achenbach gegenüber der taz.

„Kein schöner Zug“

Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann, im Februar von den Grünen geladen, hält es sogar für möglich, dass das neue Wahlrecht ohne die Klausel vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert. Eindeutig sei die Sache zwar nicht, schreibt er in dieser Woche in einem Beitrag für den Verfassungsblog. Aber: „Das Störgefühl, das viele hier empfinden werden, hat das Verfassungsgericht in anderen Fällen ausgesprochen kreativ agieren lassen.“ Argumente für die Verfassungswidrigkeit ließen sich finden. Abgesehen von der Frage der Rechtmäßigkeit sei die Streichung „kein schöner Zug, vielleicht nicht mal ein besonders kluger“.

„Letztlich eine politische ­Entscheidung“

Nicht juristisch bewerten will der von der SPD geladene Sachverständige Friedrich Pukelsheim die Streichung. Er sei Mathematiker und konzentriere sich „auf die Frage, ob die Systeme in sich schlüssig und verfahrensfest sind“, sagt er auf Anfrage. In seinem Gutachten für die Februar-Anhörung hatte er geschrieben, es spräche für „den fairen Kollegialitätssinn des Ampelentwurfs, die Grundmandatsklausel in modifizierter Form beizubehalten“. Ohne sie funktioniere das System aber auch, meint er jetzt. Letztlich gehe es aber um eine politische Entscheidung, die „dann auch politisch verantwortet werden muss“.

„Keine Bedenken gegen die Beibehaltung“

Die Linkspartei hatte den Berliner Rechtswissenschaftler Tarik Tabbara geladen. Er hatte sich während der Anhörung auf ein von der Linken gefordertes Ausländerwahlrecht konzentriert. Zur Grundmandatsklausel sagt er jetzt, dass er „gegen die Beibehaltung keine verfassungsrechtlichen Bedenken“ gehabt hätte. Die Klausel könne „problematische Aspekte der Fünfprozenthürde etwas abmildern und ärgste Schlaglöcher in der Repräsentation des regional ausdifferenzierten Wählerwillens vermeiden helfen“. Und das Ampel-Argument der Systemwidrigkeit? „Die aktuelle Debatte zeigt, dass hinter so neutral daherkommenden Argumenten politische Interessen stehen können“, sagt er.

„Höchst unplausibel“

Der von der Union vorgeschlagene Jurist Bernd Grzeszick hält die Ampel-Behauptung, dass die Anhörung im Februar zur Streichung geführt habe, für „höchst unplausibel“. Kontrovers diskutiert worden sei die Klausel schon bei vorherigen Anlässen. Das Thema kann den Fraktionen also nicht neu gewesen sein. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Streichung überhastet vorgenommen wurde, nun aber rechtliche und politische Probleme bereitet und die Verantwortung dafür ein Stück weit gescheut wird“, sagt Grzeszick.

Inhaltlich hätte er es zwar für verfassungsrechtlich problematisch gehalten, wenn die Klausel unverändert erhalten geblieben wäre. Das gelte aber auch für die vollständige Streichung. Als möglichen Ausgleich für die Abschaffung schlägt er „die Absenkung der 5-Prozent-Hürde oder deren Föderalisierung“ vor.

„Vorschlag verfassungswidrig“

Kritik an der Klausel kam während der Anhörung ironischerweise auch von zwei weiteren von CDU und CSU vorgeschlagenen Expert*innen. Die Klausel sei im neuen Wahlsystem „verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar“, schrieb Philipp Austermann in seinem Gutachten. Sie lasse sich „rechtlich nicht widerspruchsfrei begründen“, sagte Stefanie Schmahl.

Beide halten die Ampelpläne aber unabhängig davon für falsch, da Wahlkreis-Sieger*innen auch dann ohne Mandat bleiben können, wenn ihre Parteien die 5-Prozent-Hürde knacken. „Aus meiner Sicht ist bereits der Grundansatz des Reformvorhabens problematisch, da es das Direktmandat entwertet“, schreibt Schmahl auf Anfrage. Ähnlich formuliert es Austermann. So bestehe „das zur Verfassungswidrigkeit des Vorschlages führende Problem darin, dass alle Direktmandate künftig durch Zweitstimmen ‚gedeckt‘ sein müssen. Dieser Gleichheitsverstoß macht den Vorschlag verfassungswidrig.“

„Passt zur Logik der Reform“

Am Ende bleibt von zehn Sachverständigen nur noch eine übrig, die der Wahlrechtsreform der Ampel vorbehaltlos ihren Segen gibt. Während der Anhörung sagte die von der SPD nominierte Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger, sie hätte zwar „persönlich ein anderes Modell lieber gehabt“. In der seit Jahren andauernden Reformdebatte durchschlage der Entwurf aber einen „gordischen Knoten“ und „plausible Einwände“ sehe sie nicht. In der Welt verteidigt sie jetzt auch den Wegfall der Grundmandatsklausel. „Er passt zu der Logik der Reform, die den Übergang zum Verhältniswahlrecht gemäß den Zweitstimmenanteilen vollzieht“, sagt sie dort.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes stand, auch die AfD werde den Gesetzesentwurf ablehnen. Tatsächlich hatte sie aber angekündigt, sich zu enthalten.

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