Mädchen von Polizist angeschossen

Am Hauptbahnhof eskaliert ein Polizeieinsatz: Eine 14-jährige mutmaßliche Ladendiebin soll in einem Drogeriemarkt mit einem Messer auf Beamte zugerannt sein. Ihr wurde in die Hand geschossen. Die Mordkommission ermittelt nun wegen Schusswaffengebrauchs

Der Berliner Hauptbahnhof ist wie alle Bahnhöfe ein Anziehungspunkt auch für Diebe  Foto: Emmanuele Contini

Von Plutonia Plarre

Reisende bekamen von dem Vorfall vermutlich kaum etwas mit. Am Samstag haben Beamte der Bundespolizei in einem Drogeriemarkt des Berliner Hauptbahnhofs auf eine 14-jährige mutmaßliche Ladendiebin geschossen. Die Jugendliche wurde an der Hand getroffen. Der Vorfall ereignete sich kurz nach 14 Uhr in einem Nebenraum des Geschäfts. Das Mädchen befand sich am Sonntag nach Informationen der taz noch im Krankenhaus.

Die Pressestelle der Polizei bestätigte den Vorfall nur insoweit, dass die Mordkommission – wie bei Schusswaffengebrauch üblich – ein Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizisten eingeleitet hat. Weitere Fragen seien an die für den Hauptbahnhof zuständige Bundespolizei zu richten.

Nach Angaben von Bundespolizei-Sprecher Jens Schobranski erreichte die Bundespolizei am Samstag gegen 14 Uhr ein Anruf des Drogeriemarktes Rossmann, der sich im Untergeschoss des Hauptbahnhofs befindet. Ein Ladendetektiv habe eine Diebin „gestellt“; bei der Jugendlichen seien mehrere Messer gefunden worden, man halte sie in einem Nebenraum des Geschäfts fest, so der Anrufer.

Die vor Ort eingetroffenen Bundespolizisten hätten am Gürtel der Jugendlichen ein weiteres Messer gesehen, so Schobranski. Der Aufforderung, das Messer abzulegen, sei sie nicht nachgekommen. Die Beamten hätten daraufhin gedroht, Pfefferspray und Schusswaffe einzusetzen. Beides sei dann auch erfolgt. Schobranski begründete das damit, die Jugendliche sei auf die Einsatzkräfte „losgerannt“ und habe „versucht,sie mit dem Messer anzugreifen“.

Die Frage, wie oft geschossen wurde, beantwortete Schobranski nicht. Ebenso wenig, wie viele Beamte an dem Einsatz beteiligt waren. Die 14-Jährige sei zur Versorgung der Verletzung in ein Krankenhaus gebracht worden. Kundschaft des Drogeriemarktes sei nicht betroffen gewesen. Das Geschäft war mehrere Stunden mit einem rot-weißen Flatterband abgesperrt. Was die Jugendliche gestohlen haben soll, wurde nicht bekannt.

Der Chef des Handelsverbands Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen, sagte am Sonntag zur taz, Hauptbahnhöfe seien grundsätzlich ein Anziehungspunkt für Taschen- und Ladendiebe. „Es gibt ein hohes Maß an Diebstählen.“ Klagen über eine Zunahme hätten ihn in letzter Zeit aber nicht erreicht.

Den aktuellen Vorfall kenne er nur aus den Medien, sagte der Handelsverbandschef. Dass der Drogeriemarkt im Hauptbahnhof einen Ladendetektiv beschäftige, sei als Indiz für ein hohes Diebstahlsaufkommen in dem Geschäft zu werten. Nur selten komme es aber vor, dass sich festgenommene Ladendiebe zur Wehr setzten. „Es handelt sich um eine ganz kleine Gruppe.“

Verarmung am Bahnhof

In einem Geschäft am Ku'damm habe ein festgehaltener Dieb einmal einem Detektiv eine benutzte Spritze in den Arm gerammt, erinnert sich Busch-Petersen. Der Detektiv habe wochenlang mit Bangen auf ein negatives HIV-Testergebnis gewartet.

Es geschah im September 2016 in einem Supermarkt im Bahnhof Lichtenberg: Der Filialleiter schlug so brutal mit Quarzsandhandschuhen auf einen 34-jährigen Ladendieb ein, dass dieser wenige Tage später starb. Es ging dabei um eine Flasche Weinbrand.

Der Filialleiter wurde in der Folge zu drei Jahren und drei Monaten Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Die vergleichsweise milde Strafe wurde damals damit begründet, dass er sich zu der Tat bekannt und keine Vorstrafen hatte. (plu)

Eine These, was die 14-Jährige zu ihrem Handeln motiviert haben könnte, hat Busch-Petersen nicht. Er weigere sich eine zunehmende Verarmung für Ladendiebstähle verantwortlich zu machen. Das Phänomen ziehe sich durch die gesamte Gesellschaft. Die reiche Wilmersdorfer Witwe klaue aus Kitzel und Langeweile genauso, wie es etwa Gymnasiasten oder Realschüler als Mutprobe täten. Selbst gute Stammkunden würden immer wieder beim Ladendiebstahl erwischt. „Es dauert lange, bis man das mitkriegt.“

Die gesellschaftliche Verarmung äußere sich am Hauptbahnhof in ganz anderer Form, sagt Busch-Petersen. Obdachlose und Zeitungsverkäufer suchten dort verstärkt Zuflucht. „In dem ständig wechselnden Umfeld fallen sie dem Sicherheitspersonal nicht so schnell auf.“ Die Läden seien von den bettelnden Menschen aber nicht direkt betroffen.

Die wachsende Konkurrenz der Obdachlosen-Zeitungsverkäufer hatte schon vor Jahren dazu geführt, dass diese ihre „Gebiete“ am Bahnhof nach Nationen aufgeteilt haben. Dabei kommt es untereinander auch immer wieder zu verbalen Auseinandersetzungen und Gewalt. Ein Gerichtsprozess, den die taz 2019 beobachtet hatte, gewährte Einblick in diese Welten, die in der Regel verschlossen bleiben.