Infektionswelle überlastet Kinderkliniken: Selbstverschuldeter Skandal
Seit Einführung der Fallpauschalen ist es mit den Kinderkliniken bergab gegangen. Ärzt:innen haben die Politik vergeblich vor dem gewarnt, was jetzt dort herrscht: akuter Notstand.
B undesweite Verlegungen Schwerkranker nach dem Kleeblattprinzip, Aussetzen der Personaluntergrenze, Verschiebung planbarer Behandlungen – all das, so die Hoffnung, ist Schnee von gestern. Mit Wucht kommt es zurück und trifft diesmal die Kleinsten. Den Kinderkliniken macht aktuell die RSV-Infektionswelle zu schaffen. Jetzt, wo von Pandemie kaum noch die Rede ist. „Schon wieder eine Krise?“, stöhnen manche. „Wundert ihr euch wirklich?“, möchte man zurückrufen.
Es schnürt einem die Kehle zu, wenn man Geschichten aus den Kinderkrankenhäusern hört. Berliner Ärzt:innen berichten von einer Masse an kleinen Patient*innen und einer Krankheitsschwere, die den vergangenen schlimmen Winter schon jetzt deutlich übersteige. Sie berichten von zu wenig Sauerstoffgeräten, von Patient*innen, die auf dem Flur untergebracht und behandelt werden müssen, von Verlegungen bis nach Hannover und von Familien, die sie nach Hause schicken mit dem Hinweis, erst wiederzukommen, wenn es noch schlimmer wird. Und das, obwohl ihr Kind schon jetzt in stationäre Behandlung gehört.
Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Seit 2004 werden fast alle Krankenhausleistungen mit sogenannten Fallpauschalen vergütet. Sie richten sich vor allem nach der gestellten Diagnose, nicht nach dem tatsächlichen Zeit- und Personalaufwand. Besonders bittere Folgen hatte diese Reform für die Kinder- und Jugendmedizin, wo fürs Blutabnehmen schon mal eine halbe Stunde draufgeht, und wo nicht nur kleine Patient*innen, sondern auch besorgte Eltern versorgt werden wollen.
Wirtschaftlich wurde die Kinderheilkunde ein Desaster für die Kliniken. Es wurden Betten abgebaut und ganze Stationen geschlossen. Diese Entwicklung verschärft sich deutlich sichtbar seit Jahren, und das ist nur einer der fatalen Systemfehler. Laut Kinder- und Jugendärzteverband mangelt es seit Mitte der 1990er Jahre an Studienplätzen.
Der Traumberuf wurde unattraktiv
Mit der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung im Jahr 2020 wurde die Ausbildung zur Kinderkrankenpfleger*in ersetzt und damit eine Beschäftigung auf den Kinderstationen erklärtermaßen unattraktiver. Es gibt Stationen, die kleine Kinder nicht mehr ohne ihre Eltern aufnehmen, weil sie deren Versorgung nicht gewährleisten können.
Die Arbeitsbedingungen auf den unter Pflegekräftemangel ächzenden Stationen sind so belastend geworden, dass sich Beschäftigte in lange Krankheit oder andere Jobs verabschieden. Und wenn in saisonalen Krankheitswellen zu den hohen Patient*innenzahlen auch noch Infektionen bei den ohnehin zu wenigen Beschäftigten dazukommen, dann schafft das ausgezehrte System das einfach nicht.
In Berlin haben Kinderärzt*innen schon im vergangenen Winter einen Brandbrief an Landes- und Bundespolitik geschrieben, weil die Zustände so nicht mehr haltbar sind. Im September folgte ein zweiter Brandbrief mit der Befürchtung, dass es diesen Herbst und Winter noch schlimmer kommen werde. „Muss echt erst ein Kind sterben?“, fragte damals die Kinderärztin Songül Yürek, Mitinitiatorin des Brandbriefes, im taz-Interview.
Und nun ist er da, der Katastrophenherbst. Ein Berliner Kinderarzt berichtet von einem Säugling, der nach Brandenburg verlegt werden sollte, weil in Berlin kein Bett mehr frei war. Er sei in so schlechtem Zustand dort angekommen, dass man ihn zur Intensivbehandlung wieder nach Berlin zurückfuhr. Dort sei er gestorben. Es ist eine der Geschichten, bei denen man nicht weiß, ob das Kind ohne den langen Transport, ohne die Überlastung des Systems überlebt hätte.
Arbeitsverhältnisse wie im Krisengebiet
Es ist eine der Geschichten, die den einstigen Traumberuf in der Kinder- und Jugendmedizin zeitweise zur Hölle machen. Im Moment sind in Deutschlands Rettungsstellen und Kinderstationen junge Assistenzärzt*innen zum Teil ganz allein für Dutzende schwerkranke Kinder zuständig und müssen Entscheidungen treffen, die ihr Erfahrungslevel weit überschreiten. Ärzt*innen klagen über Arbeitsverhältnisse wie im Krisengebiet, über traumatische Erfahrungen.
Welche langfristigen Folgen das haben wird, ist kaum absehbar. Schon im vergangenen Winter konnten einzelne Kinder nicht mehr angemessen versorgt werden, inzwischen sei es der Großteil. Immer wieder haben die Ärzt:innen gemahnt. Niemand der Verantwortlichen in der Politik kann sagen, er oder sie habe es nicht gehört. Am Freitag wurde im Bundestag endlich ein Gesetz beschlossen, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendmedizin auskömmlicher finanzieren soll.
Ab 1. Januar 2023 und vorerst für zwei Jahre. Das ist immerhin eine Perspektive, nur: Selbst wenn man sofort investiert, wird es dauern, bis sich die Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten spürbar verbessern. Drei bis fünf Jahre schätzen die Expert*innen aus den Kliniken und fordern mehr sofortige Anstrengungen. Die Herbst-Winterwelle hat gerade erst angefangen, im vergangenen Winter zog sie sich bis Februar.
Wer jetzt noch länger wegschaut, muss sich der Frage, ob Kinder ohne die Überlastung des Systems noch leben würden, ganz persönlich stellen. Muss erst ein Kind sterben? Über diesen Punkt sind wir schon hinaus.
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