Femizide in Deutschland: „Ich glaubte ihm“
Gewalt in Partnerschaften ist in Deutschland Alltag. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau. Svenja Beck hat zwei solcher Mordanschläge überlebt.
Das erste Mal schlägt er zu, weil ihm ihre neuen Schuhe nicht gefallen. „Bring sie zurück“, fordert er. „Warum? Ich finde sie schön“, antwortet sie. Svenja Beck, eine große, selbstbewusste Frau, Mutter zweier Kinder, hat den Satz kaum zu Ende gesprochen, da landet seine Hand auf ihrer Wange. Sie erschrickt, auch er zuckt zusammen. Rasch entschuldigt er sich. Er mache das nie wieder, fleht er, es tue ihm leid. „Ich glaubte ihm“, sagt sie heute. Sie verzieh ihm.
Ihre Stimme ist fest und klar, als sie am Telefon und bei einem persönlichen Treffen von diesem Erlebnis berichtet. Fast auf den Tag genau zehn Jahre liegt es zurück. Es war ein feuchter Novembernachmittag in Otzberg, einer Gemeinde in Südhessen, in der Svenja Beck mit ihren beiden Kindern und ihrem damaligen neuen Freund wohnte, als dessen Hand auf ihre Wange klatschte und ihr Kopf zur Seite flog. Beck wusste noch nicht, dass jene erste Ohrfeige der Beginn einer jahrelangen Leidenstortur sein würde. Schläge, Tritte, Beschimpfungen, Demütigungen, zwei Mordversuche. Begangen von dem Mann, den sie liebte und von dem sie glaubte, er erwiderte dieses Gefühl. Vor Kurzem hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet.
Was die damals 27-Jährige erlebte, ist Partnerschaftsgewalt – eine Abfolge körperlicher und seelischer Misshandlungen. Von einem Mann, der es nicht ertrug, dass die Frau ihm widersprach. Die beiden Mordversuche sind versuchte Femizide – so bezeichnen weltweit Frauenrechtler:innen, etwa das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen, „begangene oder tolerierte Tötungen von Frauen und Mädchen wegen ihres Geschlechts“. In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin oder Expartnerin zu ermorden, und jeden dritten Tag gelingt so ein Mordversuch.
Es klingt makaber, dass Svenja Becks Gewaltmartyrium ausgerechnet im November begann, dem Monat, der auch Antigewaltmonat genannt wird. Der 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Seit 1981 finden in den Wochen um dieses Datum herum auch in Deutschland vielerorts Podiumsdiskussionen, Lesungen, Gedenkveranstaltungen für Opfer statt. Seit 2016 gibt im November auch das Bundeskriminalamt (BKA) alljährlich die Statistik zu Partnerschaftsgewalt bekannt. 2020 wurden demnach bundesweit 119.164 Fälle verzeichnet, in denen ein Mann seine aktuelle oder ehemalige Partnerin terrorisierte. 139 Frauen überlebten die Gewalt nicht. Die aktuellen Zahlen stellt BKA-Chef Holger Münch in wenigen Tagen vor.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass Svenja Beck zwei Femizidversuche überlebte, grenzt an ein Wunder. Beim ersten Mal, im Oktober 2013, versuchte ihr Partner, sie mit dem Auto zu überfahren. Svenja Becks 5-jährige Tochter ist dabei. In einer Tiefgarage wollen die drei ins Auto steigen, da klingelt Becks Handy. Sie nimmt ab, ihr linkes Bein hängt schon im Beifahrerraum, mit dem anderen steht sie noch auf dem Beton. Ihr Freund legt den Rückwärtsgang ein und rast los. Beck wird zu Boden gerissen und mehrere Meter mitgeschleift. Das Auto fährt Kurven, der Mann versucht, die Frau zu überrollen. Doch sie kann sich schützen und irgendwie hochhieven. Der Mann, den sie ihren Freund nennt, schwingt sich aus dem Auto und boxt ihr ins Gesicht. Eine Ärztin tippt später in den Krankenhauscomputer: doppelt gebrochene Nase, Augenlidprellung, Rissverletzung.
Jahrzehntelang wurde Partnerschaftsgewalt als „Familienstreit“ abgetan. 2002 hat sich das geändert. Seither gilt in Deutschland das Gewaltschutzgesetz und seit Anfang 2018 auch die Istanbul-Konvention, die Gewalt gegen Frauen verhindern soll. Allerdings existiert bis heute keine bundesweite Strategie, um dieses Abkommen durchzusetzen. Die Vereinten Nationen (UN) bezeichnen Gewalt gegen Frauen als „extreme Menschenrechtsverletzung“. UN-Generalsekretär António Guterres sagt: „Gewalt gegen Frauen und Mädchen macht Leben kaputt und bringt Schmerz für Generationen.“
Jeder Fall von Partnerschaftsgewalt ist individuell. Und doch gibt es sich wiederholende Muster: Zunächst ist die Nähe zwischen den Partner:innen groß, die Beziehung harmonisch. Doch irgendwann wird der Mann lauter, wenn das Paar miteinander redet, meist will er recht haben. Die Frau gibt immer wieder nach, sie will keine eskalierenden Streits. Irgendwann kommt es dann zum ersten Schlag, zum ersten Tritt, zum ersten Boxhieb.
So war es auch bei Svenja Beck. Etwa ein Dreivierteljahr bevor ihr Freund das erste Mal zuschlug, hatte sie ihn im Schwimmbad kennengelernt. Sie war gerade von ihrem Ehemann verlassen worden und mit zwei kleinen Kindern allein. „Ich war völlig aus der Bahn geworfen“, erzählt sie. „Ich bin religiös und meinte, eine glückliche Ehe zu haben.“ Mit dem jähen Beziehungsende hatte sie nicht gerechnet. Und dann war da plötzlich jemand, der ihr zuhörte, Trost spendete, mit den Kindern tobte. Sie sagt: „Er war einfach da.“
Nach dem Vorfall in der Tiefgarage erstattet sie Anzeige bei der Polizei, die konstatiert schwere Körperverletzungen. Doch Svenja Beck zieht die Anzeige gegen ihren Partner wieder zurück. Die beiden machen eine Paartherapie, die Beziehung scheint sich zu stabilisieren. Beck arbeitet bei einer Versicherung, ernährt die Familie. Doch es läuft nicht so, wie es sein sollte. Die Beziehung ist nicht warmherzig und liebevoll, sondern voller Angriffe. „Ich glaubte, mit mir stimmt etwas nicht“, sagt sie, „ich dachte, es liegt an mir, dass er so ist.“ Deshalb lässt sie sich im Herbst 2014 für einige Wochen in einer psychiatrischen Tagesklinik behandeln.
Bewährungsstrafe bei einem Mordversuch?
Zunehmend beschleicht sie die Vermutung, dass mit ihrem Partner etwas nicht stimmt. Dass er immer jähzornig sein und ausrasten wird, sobald etwas nicht so läuft, wie er es sich vorstellt. Svenja Beck recherchiert, befragt Expert:innen – und erkennt eine narzisstische Störung in dem Mann an ihrer Seite. Mit so jemandem kann sie nicht zusammen sein, das weiß sie und trennt sich. In der ersten Hälfte des Jahres 2015 lebt sie allein mit ihren Kindern, die durch die wiederkehrenden An- und Übergriffe längst verängstigt sind. Sie glaubt, sich befreit zu haben aus der Spirale aus Gewalt und Angst.
Doch richtig loslassen kann sie nicht. Sie trifft sich wieder mit dem Mann. Gewaltexpert:innen kennen das, Betroffene wie Svenja Beck brauchen durchschnittlich sieben Jahre, um sich komplett aus einer Gewaltbeziehung zu lösen. Und dann ist Svenja Beck schwanger. Mit drei Kindern allein? Das schaffe ich nicht, denkt sie. So bleibt sie in der Beziehung, bringt den gemeinsamen Sohn zur Welt und erträgt – so weit es geht – die Situation. Die Wutausbrüche, die Demütigungen, die grundlosen Eifersuchtsszenen, seinen Kontrollwahn: Wo willst du hin? Was machst du dort? Wer ist dabei?
Im April 2016, der Sohn ist neun Wochen alt, eskaliert es nach einem Spieleabend. Er verliert, rastet aus, fegt das Essen vom Tisch. Dann schleift er sie an den Haaren über den Boden ins Bad, steckt ihren Kopf in die Kloschüssel. Als sie sich befreien kann, greift er nach ihrem Hals und drückt zu. „Ich habe Sterne gesehen“, sagt Svenja Beck. „Und ich schrie so laut ich konnte:,Das Kind, das Kind!'“
Die Oberärztin im Krankenhaus begutachtet die Würgemale, die herausgerissenen Haarbüschel, die Svenja Beck eingesammelt hat, die blauen Flecken an ihren Oberschenkeln und Oberarmen. Sie stellt Strafanzeige wegen häuslicher Gewalt, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Am 1. November 2016 verurteilt das Amtsgericht Dieburg den Mann wegen „gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und Nötigung“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Eine Bewährungsstrafe bei einem Mordversuch? Der Bochumer Kriminologe Tobias Singlnstein erklärt es mit „Erziehung“ und „Resozialisierung“: Die Verurteilten sollten verstehen, was sie getan hätten und wie sie zu einem Leben ohne Straftaten kämen. „Je härter die Sanktion, desto höher auch die Rückfallrate“, argumentiert Singlnstein.
Svenja Becks Expartner darf sich ihr und den Kindern nun nicht mehr nähern. Widersetzt er sich dieser Auflage, muss er ins Gefängnis. Bisher hält er sich daran.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos