Nach Femizid in Nordhessen: Wo bleibt der Aufschrei?
Jüngst tötete ein 58-Jähriger seine Ex-Partnerin in einem Supermarkt. Kein Einzelfall, was zeigt: Es muss mehr über Femizide geredet werden.
Am Dienstagmittag schießt ein 58-jähriger Mann in einem Supermarkt im nordhessischen Schwalmstadt auf eine 53-jährige Frau. Kurz darauf schießt er sich selbst in den Kopf, beide sterben im Supermarkt. Die Polizei schreibt tags darauf in einer Pressemitteilung: Die beiden kannten sich, hatten von Ende 2021 bis Anfang 2022 eine Beziehung geführt, bis sie sich trennte. Am Vorabend der Tötung hatte es schon einen Polizeieinsatz bei der Frau gegeben, gegen den 58-Jährigen wurde ein Platzverweis ausgesprochen.
Am nächsten Morgen zeigt die Frau ihren Ex-Freund wegen Körperverletzung, Nötigung und Nachstellung an. Die Polizei sieht zu diesem Zeitpunkt keine konkrete Gefährdungslage für die Frau. Wenige Stunden später ist sie tot.
Der Name der getöteten Frau ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Sie ist eine von Dutzenden Frauen, die in diesem Jahr in Deutschland einem Femizid zum Opfer wurde – also aufgrund ihres Geschlechts getötet wurde. Offizielle Zahlen gibt es nicht und wird es auch nicht geben, denn Femizide sind in Deutschland kein eigener Strafbestand. Das BKA erhebt lediglich Zahlen zu tödlicher Partnerschaftsgewalt, im Jahr 2021 lag die Zahl der weiblichen Opfer bei 139. Lange wurden diese Morde von Polizeibehörden und Medien als „Beziehungstat“, „Familiendrama“, „Trennungstat“ oder „Eifersuchts“-Mord bezeichnet, diese verharmlosenden Begriffe werden zum Glück immer weniger genutzt. Der Begriff Femizid setzt sich langsam durch.
Doch der große Aufschrei bleibt trotz allem aus. Zwei Tage nach dem Femizid im nordhessischen Supermarkt scheint dieser schon wieder vergessen. Wir haben uns an diesen Zustand gewöhnt. Dass in Deutschland Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, ist unser Alltag – es ist unser Normalzustand. Selbst die Aussage „Jeden Tag versucht ein Mann seine Frau zu töten, jedem dritten gelingt es einem“, die häufig von Feminist*innen vorgebracht wird, klingt mittlerweile so routiniert, dass die Grausamkeiten dahinter unsichtbar werden. Dabei sollten wir uns das als Gesellschaft vor Augen halten: Jeden verdammten Tag!
Frankreich und Spanien gehen mit gutem Beispiel voran
Ein Zustand, an dem sich dringend etwas ändern muss, und zwar gesellschaftlich und institutionell. Femizide folgen meist auf eine längere Eskalation von Gewalt. In den meisten Fällen ist es zuvor zu häuslicher oder sexualisierter Gewalt gekommen. Und diese nimmt zu. Laut bundesweiter Kriminalstatistik hat sich die Zahl der Frauen, die durch ihre Familie Gewalt erfahren, seit 2000 verdoppelt. 2021 gab es erstmals in Deutschland mehr weibliche als männliche Mordopfer.
Damit sich an diesem grausamen Zustand etwas ändert, dafür wurde die Istanbul-Konvention geschaffen. Ein Gewaltschutzpaket für Betroffene patriarchaler Gewalt, das Dutzende Staaten mitunterzeichnet haben. In Deutschland ist es 2018 gesetzlich in Kraft getreten, vollständig umgesetzt ist es bis heute nicht. Und das – so klar muss das hier einmal benannt werden – ist ein Skandal. Bis heute fehlt es an belastbaren Daten, einer Koordinierungsstelle, Frauenhausplätzen und ein besonders wichtiger Aspekt, der häufig untergeht: Präventionsarbeit für Täter.
Femizide sind kein spezifisch deutsches Problem – ebenso wenig wie die unzureichende Bekämpfung dieser. Doch es gibt Länder, in denen der Zustand nicht mehr als ein Normal akzeptiert wird.
In Frankreich beispielsweise ist in den vergangenen Jahren eine Massenbewegung gestartet. Mit Demonstrationen, an denen allein in Paris Zehntausenden teilnahmen, und illegalen Plakataktionen, mit denen an die getöteten Frauen erinnert werden soll, wurde von Frauenorganisationen und der Zivilgesellschaft Druck auf die Politik ausgeübt. Und das mit ersten Erfolgen: Die französische Regierung hat einen runden Tisch zum Thema häusliche Gewalt gegen Frauen gegründet. Immerhin ein erster Schritt – auch wenn viele Forderungen noch ausstehen.
Auch in lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko oder Chile ist die feministische Bewegung, die regelmäßig gegen Femizide auf die Straße geht, enorm groß. In europäischen Ländern wie Italien und Spanien gingen in den vergangenen Jahren zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, dem 25. November, Zehntausende Menschen auf die Straße. In Deutschland sind es an diesem Tag immer eher mehrere Hunderte. Die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich von dem Thema wenig berührt.
In Spanien dagegen ist das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Femizide werden dort von einer unabhängigen staatlichen Stelle registriert. 2017 wurde ein Staatspakt gegen geschlechtsspezifische Gewalt verabschiedet, der Kampf gegen häusliche Gewalt und Femizide gilt Spanien als „Staatsauftrag“, es gibt deutlich mehr Schutz- und Aufklärungsprogramme als hier.
Die Rückendeckung aus der Gesellschaft fehlt
Diese Erfolge sind der hartnäckigen und ausdauernden Arbeit von Feminist*innen zu verdanken, die es geschafft haben, einen Druck auf die Politik auszuüben. Auch in Deutschland gibt es eine Vielzahl von Feminist*innen, die seit Jahrzehnten gegen Femizide ankämpfen – ihre Arbeit soll hier nicht geschmälert werden. In regelmäßigen Abständen werden Texte und Studien veröffentlicht, Organisationen kämpfen für politischen und juristischen Fortschritt, Aktivist*innen gehen auf die Straße. Doch ihnen fehlt die Rückendeckung aus der breiten Gesellschaft.
Vor wenigen Wochen gingen Demonstrant*innen in Berlin-Pankow auf die Straße, nachdem die sechsfache Mutter Zohra Muhammad Gul von ihrem Ex-Mann getötet wurde. Der Fall erregte medial vergleichsweise große Aufmerksamket, die Demonstration war gut organsiert, es gab zahlreiche Redebeiträge, die Stimmung war wütend und voller Drang, etwas zu verändern. Doch es kamen lediglich 300 Menschen.
Damit sich wirklich etwas ändert, benötigt es mehr als das. Die Bekämpfung von Femiziden muss der gesamten Gesellschaft ein Anliegen sein. Es braucht eine vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention und ein radikales gesellschaftliches Umdenken. Es braucht eine Massenbewegung, die dafür kämpft, dass Femizide in Deutschland endlich kein Alltag mehr sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?