Corona-Solidarität mit Italien: Leben ist Leben. Oder?

Wenn wir freie Intensivbetten haben, warum fliegen wir dann nicht kranke ItalienerInnen ein? Ein moralphilosophischer Zwischenruf.

Drei Männer mit Atemschutzmaske an einem Sarg mit Blumen.

In Italien wird gestorben, in Deutschland gibt es Kapazitäten bei den Intensivbetten Foto: Flavio Lo Scalzo/reuters

Aus Italien erreichen uns erschütternde Bilder: PatientInnen werden „triagiert“, also nach behandelbar und sowieso zum Tode verurteilt unterschieden, wobei die Letzteren dann sterben gelassen werden. Erschütternd ist das insbesondere deshalb, da diese Menschen nicht sterben müssten, wenn sie entsprechend intensivmedizinisch betreut würden, wozu Italien die Kapazitäten fehlen.

Gleichzeitig wird in Deutschland die Kapazitätsfrage beruhigend beantwortet: So erklärt Professor Rainhard Busse, Gesundheitswissenschaftler von der Technischen Universität Berlin, in „MDR Wissen“: „Insgesamt haben wir in Deutschland etwa 27.000 bis 28.000 Intensivbetten. Das sind im Vergleich zu Italien bezogen auf 1.000 Einwohner zweieinhalbmal so viele. Wir kommen mit unseren Kapazitäten also gut hin. Auch die italienischen Verhältnisse würden uns nicht überlasten.“ Derartige Statements findet man derzeit häufig, etwa auch von Professor Uwe Janssens. Er ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

Beruhigend, nicht wahr? Aber nicht für den Moralphilosophen. Der oder die muss ständig damit aufräumen, dass Moral sich nur auf die erstreckt, die uns „near and dear“ sind, denn diese Überzeugung ist uns vielleicht sogar genetisch von der Evolution eingeprägt. Aber was natürlich ist, ist noch lange nicht gut, wie ein Blick auf alle Naturkatastrophen lehrt. Jedenfalls zeigt die Geschichte, dass der Bereich der moralisch zu Berücksichtigenden immer größer wird: von den Mitgliedern der eigenen Sippe, zu den männlichen Bürgern Athens, zu allen Griechinnen und Griechen, dann spätestens seit der Französischen Revolution zu allen Menschen und heute wohl auch zu allen schmerzfühlenden Lebewesen, welcher biologischen Art auch immer.

Gründe für einen Universalismus

Die Gründe dafür sind klar: Erstens ist es reiner Zufall und somit unbedeutend, wann und wo jemand geboren wird. Rechte sollten nicht an solchen Zufällen hängen. Zweitens, Rechte hängen an den Eigenschaften, Schmerz zu empfinden und Wohlergehen erfahren zu wollen, also an den Bedürfnissen. Bei Bedürfnissen setzt die Moral an: Empfindungslose Dinge und Lebensformen kann man nicht schädigen, da sie kein Interesse haben, unversehrt zu bleiben. Es liegt ihnen nichts an ihrer Existenz oder Unversehrtheit. Mit der Empfindungsfähigkeit heben alle Interessen an und besondere Fähigkeiten wie die, Angst um die eigene Zukunft zu haben, erzeugen dann spezielle Interessen und Bedürfnisse.

Gleiche Bedürfnisse muss man gleich behandeln, sonst handelt man sich Widersprüche ein. Immer wenn wir keine relevanten Unterschiede zwischen zwei Dingen benennen können, müssen wir sie gleich behandeln. Das gilt schon rein sprachlich: Zwei Dinge, die beispielsweise rot, essbar und von einer gewissen chemischen Zusammensetzung sind, müssen wir beide als „Tomaten“ bezeichnen, wenn es keinen relevanten Unterschied gibt. So funktionieren Sprache, Argumentation und Ethik.

ItalienerInnen, ChinesInnen und Deutsche sind Menschen, die schon seit der Französischen Revolution erst einmal gleich zählen und gleichen Wert haben. Das ist Grundlage der Menschenrechte, auf die wir so stolz sind. Ob ItalienerInnen oder Deutsche sterben, ist – so gesehen – völlig egal, es sollte keiner mehr sterben, als unvermeidbar ist. Wenn wir also freie Betten haben, dann sollten wir kranke ItalienerInnen einfliegen, die darin versorgt werden, wenn dies medizinisch Sinn macht. Oder wir sollten nicht benutzte Atemgeräte nach Italien ausleihen.

Ob das angesichts der langen Dauer, die Corona-Kranke beatmet werden müssen, der Fall ist, ob man also in dem Zeitintervall, von heute, wo unsere Geräte noch unausgelastet sind, bis zu dem Zeitpunkt, wo alle Geräte in Deutschland benötigt werden, Menschen retten kann, das müssen Mediziner beantworten.

Genauso sollten wir Atemschutzmasken und Schutzhandschuhe nach Deutschland schaffen, wenn es in Schweden zum Beispiel mehr als genug davon gäbe. So sollte wenigstens ein europäischer, letztlich aber ein globaler Austausch organisiert werden. Denn wem ist geholfen, wenn es nach Ende der Corona-Krise noch tausende ungenutzter Atemschutzmasken in Schweden gibt? Wir sollten gerade knappe Ressourcen so verteilen, dass sie optimalen Nutzen schaffen.

Vorteile nationaler Organisation

Aber dagegen sprechen ein allgemeiner und ein praktischer Einwand: Allgemein gesehen, ist es eben nicht so, dass wir global organisiert sind. Das hat auch Vorteile. Jeder weiß vor Ort am besten, wie die Dinge effizient oder gerecht zu organisieren sind. Erfüllt jeder Nationalstaat diesen Job, geht es letztlich allen damit besser.

Aber dieses Argument ist lediglich organisatorischer Art. Man ist sich einig darüber, dass Menschen prinzipiell gleich viel wert sind, schlägt aber ein verglichen mit dem Globalismus gegebenenfalls besseres Mittel vor, um die Menschen am besten zu schützen: den funktionierenden Nationalstaat. Was aber, wenn dieses Mittel eben nicht mehr funktioniert?

Der praktische Einwand lautet: Wenn wir wirklich ItalienerInnen in deutsche Betten legen oder Beatmungsgeräte verleihen und der Höhepunkt der Krise bei uns schneller einsetzt als erwartet, könnten noch italienische Patienten die deutschen Betten oder Maschinen belegen, die dann „für uns“ blockiert sind. Gemäß der obigen ethischen Grundsätze könnte man wiederholen: „Ob ItalienerInnen oder Deutsche sterben, ist völlig egal.“ Aber wir sind nun mal national organisiert und deutsche KassenpatientInnen haben vielleicht vorrangig Anspruch auf deutsche Betten.

Zudem ist ein konsequenter Universalismus weder durchsetzbar noch durchhaltbar, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. Es führt also kein Weg an einem Kompromiss vorbei, der aber eben internationaler gedacht sein muss als unser jetziges Denken. Daher sollten wir zum Beispiel nicht völlig an die Grenzen gehen und eine gewisse Anzahl an Betten oder Maschinen als Notfallreserve zurückhalten.

Jedenfalls sollte man die Diskussion auf dieser Ebene führen, denn es kann nicht sein, dass mit der Wiederkehr der Grenzen auch unsere Moral wieder ins antike Griechenland zurückkehrt. Europa gibt derzeit mit dem wiederkehrenden Nationalismus ein erbärmliches Bild ab.

Nationale Vorteile ohne Nationalismus

Auch wenn sich mit der Message, in diese Richtung zu diskutieren, kein Wahlkampf gewinnen lässt: Erst solches Denken berechtigt uns, uns über Donald Trump und seinen peinlichen Versuch zu erheben, deutsche Impfstoffforschung ausschließlich für die USA zu erwerben. Und dann wird klar, dass universelles Denken sogar Win- win-Situationen schaffen könnte: Wenn wir den Ländern helfen, die auf dem Höhepunkt der Krise sind, würden diese auch uns leichter helfen, wenn die Krise bei ihnen bereits wieder abflaut. Das könnte beispielsweise geschehen, indem sie bereits von Corona geheilte, immune Pflegekräfte anbieten, wenn sie bei uns knapp werden sollten.

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Bernward Gesang ist Professor für Philosophie und Wirtschaftsethik an der Universität Mannheim. Sein neuestes Buch „Mit kühlem Kopf. Vom Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte“ erscheint im Herbst im Hanser Verlag.

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