Flüchtlinge in der Corona-Krise: Die Welt wird zur Festung
Geflüchtete sind besonders hart betroffen. Hilfsorganisationen warnen vor „Massensterben“. Aus Deutschland wird weniger abgeschoben.
Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR und die UN-Migrationsorganisation IOM hatten bereits am Dienstag ihre Umsiedlungs- und Evakuierungsprogramme weltweit bis auf weiteres eingestellt. Grund sei, dass viele Staaten die Einreisemöglichkeiten drastisch reduziert hätten und immer mehr Flüge gestrichen würden, heißt es in einer Erklärung der beiden Organisationen.
Das betrifft zum einen das sogenannte Resettlement-Programm, bei dem ausgewählte, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Staaten wie Syrien, Kongo oder Myanmar in westliche Aufnahmestaaten wie die USA, Kanada, Großbritannien oder Deutschland gebracht werden.
Im letzten Jahr betraf das im Schnitt weltweit pro Monat etwa 5.000 Menschen. Ab jetzt bis Mai waren allerdings nur 2.000 Menschen für eine solche Umsiedlung vorgesehen. Sie müssen nun warten.
Programme gestoppt
Darüber hinaus gibt es zwei Sonderprogramme für Flüchtlinge in den libyschen Lagern. Sie wurden ebenfalls gestoppt. Die IOM evakuiert seit 2017 Migranten aus Libyen in ihre Herkunftsländer wie etwa Nigeria oder Senegal. Das betraf seit Anfang des Jahres rund 1.300 Menschen.
Manche Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr Herkunftsland unmöglich ist, fliegt der UNHCR vorübergehend in die afrikanischen Staaten Ruanda und Niger aus. Das betraf seit Beginn des Jahres 289 Menschen, zuletzt kamen vor einer Woche 128 Flüchtlinge nach Niger. Weil beide Mechanismen eingestellt sind, müssen mehr Menschen als sonst in den libyschen Lagern bleiben.
Wer versucht, in diesen Tagen das Land Richtung Europa zu verlassen, den fängt meist die libysche Küstenwache ein: Allein am vergangenen Wochenende holte diese nach UNHCR-Angaben 406 Menschen vom Mittelmeer zurück.
Keine Möglichkeiten
Auch Deutschland hat seine humanitären Programme zur Flüchtlingsaufnahme ausgesetzt. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums bestätigte am Mittwoch einen entsprechenden Bericht der Funke-Mediengruppe. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei angewiesen worden, die Verfahren auszusetzen.
Davon betroffen sind unter anderem die Aufnahmen nach dem EU-Türkei-Abkommen. Die EU hat sich verpflichtet, für jeden irregulär eingereisten Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, einen anderen Bürgerkriegsflüchtling aufzunehmen. Auf diesem Weg waren seit Beginn des Jahres 986 Menschen aus der Türkei in die EU gebracht worden.
Ausgesetzt ist aber auch die Beteiligung am Resettlement-Verfahren des UNHCR. Hierfür hatte die Bundesregierung für dieses Jahr insgesamt 5.500 Plätze zugesagt. „Wir haben die faktischen Möglichkeiten dafür im Moment nicht“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. De facto seien die Programme schon seit Freitag zum Erliegen gekommen.
Nicht ausgesetzt sind die Bemühungen, minderjährige Flüchtlinge von den griechischen Inseln auf EU-Länder zu verteilen. Deutschland hatte kürzlich erklärt, einen Teil eines Kontingents von 1.500 Minderjährigen aufnehmen zu wollen. Auf den Ägäis-Inseln halten sich aber Schätzungen zufolge deutlich über 5.000 unbegleitete Minderjährige auf.
Die EU-Kommission lehnte es am Mittwoch ab, angesichts der absolut katastrophalen Menschenrechtslage in den griechischen Camps ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Athen einzuleiten. Man sei sich der „schwierigen Situation“ auf den Inseln bewusst und versuche sie zu verbessern, erklärte eine Sprecherin am Mittwoch auf Anfrage in Brüssel.
Starker Rückgang
Auch Flüchtlinge, die auf eigene Faust unterwegs sind, dürften durch die Corona-Krise zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Am Dienstag hatte die EU die Einreise von Nicht-EU-Bürgern weitgehend verboten.
Schon zuvor war die Zahl der Ankünfte stark zurückgegangen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex registrierte im Februar EU-weit insgesamt 6.200 irreguläre Grenzübertritte. Damit werden Einreisen von Menschen ohne Papiere bezeichnet, oft stellen diese dann einen Asylantrag. Gegenüber Januar war dies ein Rückgang um 42 Prozent.
Grundsätzlich haben Ankommende auch ohne Pass und Visum einen Anspruch, für einen Asylantrag ins Land gelassen zu werden. Doch dieser dürfte sich jetzt nur noch schwer einlösen lassen, da fast alle EU-Staaten sich abschotten.
In Deutschland betrifft das Einreiseverbot für Drittstaatler vor allem die Flug- und Seehäfen, aber auch an den Landesgrenzen wird wegen der Pandemie verstärkt kontrolliert. Ins Land gelassen werden hier nur noch Nicht-EU-Bürger, wenn sie einen „dringenden Einreisegrund“ nachweisen können.
Polizei entscheidet
Konkret genannt hat das Bundesinnenministerium (BMI) dabei nur ärztliche Behandlungen, familiäre Todesfälle und berufsbedingte Gründe. Letztlich liege die Entscheidung, welche Reise als „zwingend notwendig“ anzusehen sei, im „pflichtgemäßen Ermessen des Beamten vor Ort“, heißt es vom BMI. Sprich: Die Polizei entscheidet, ob jemand zur Asylantragstellung ins Land gelassen wird.
Umgekehrt wird wegen der Corona-Krise allerdings auch weniger abgeschoben. Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, aber ihr Asylverfahren laut der Dublin-Verordnung in Italien durchführen müssten, werden vorerst nicht dorthin überstellt.
Einen generellen Abschiebestopp in Staaten mit besonders schwerem Corona-Ausbruch wie Iran, China oder Südkorea gibt es bislang nicht. Allerdings gelte weiter, dass Abzuschiebende reisefähig sein müssten, heißt es vom BMI. Ob ein an Covid-19 erkrankter abgelehnter Asylbewerber abgeschoben werden kann, entscheidet also ein Amtsarzt. In der Praxis dürfte eine solche Abschiebung aber mit Sicherheit schon wegen des Infektionsschutzes für Polizisten abgeblasen werden.
Insgesamt, so das BMI, dürfte in der kommenden Zeit aber weniger abgeschoben werden: Angesichts der „vorrangigen Schutzaufgaben“ der Polizei bei der Bekämpfung des Corona-Virus könne es „zu weiteren Einschränkungen bei Rückführungsmaßnahmen kommen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt