Wildtiere im Zirkus: Eine Frage der Haltung
Wildtierhaltung im Zirkus ist Tierquälerei, behauptet Julia Klöckner und will den Übeltätern das Handwerk legen. Nur: Leiden die Tiere tatsächlich?
E s ist Samstagnachmittag in Waltersdorf, als der Regen eine kurze Pause macht und Mario Spindler nach seinen Tieren sieht. Waltersdorf ist einer dieser Vororte, deren Namen man vor allem mit dem Besuch schwedischer Einrichtungshäuser verbindet. Die Autobahn ist gleich um die Ecke, ein paar Kilometer weiter hat letztes Jahr klammheimlich der Berliner Flughafen seinen Betrieb aufgenommen. Ein kleines, schon etwas verblasstes, grünes Schild an einer Straßenlaterne weist den Weg zum Erlebnispark Waltersdorf, der zugleich das Winterquartier des Circus Berolina ist. Wenn kein Lockdown ist, kommen Familien hierher – um Elefanten zu füttern, Ponys zu reiten oder sich eine kurze Zirkusvorstellung anzusehen.
Heute sind Tiere und Zirkusleute unter sich. „Tantor“ ruft Spindler, als er bei einem der Gehege angelangt ist. Sofort kommt der Nashornbulle angetrabt, der Zirkusdirektor krault ihn hinterm Ohr. Seine Eltern haben den traditionsreichen Zirkus vor 25 Jahren aus den Resten des zerschlagenen Staatszirkus der DDR aufgekauft. Noch heute bereist er vorwiegend den Osten Deutschlands, 15 bis 20 Städte im Jahr.
Wäre nicht das Virus, wäre Berolina seit Anfang März auf Tournee. Nashornbulle Tantor war jedoch schon ein paar Jahre lang nicht mehr dabei. Wie auch Mara, Indra und Conny, die Spindler im Nachbargehege mit tiefen Grolllauten begrüßen. Knapp 60 Jahre alt sind die drei asiatischen Elefantenkühe. Außer ihnen hat Berolina noch vier afrikanische Elefanten. Im letzten Programm hat einer von ihnen Mario Spindlers Neffen mit dem Schleuderbrett in die Luft katapultiert.
Ihr Publikum begeistern die Spindlers mit solchen Nummern, doch für Tierrechtsorganisationen sind sie nichts als Tierquälerei. Die Dressur von Elefanten und anderen Wildtieren basiere „immer auf Gewalt und Zwang“, behauptet etwa Peta – und hat neuerdings eine hochrangige Mitstreiterin in der Politik.
Berlin, November 2020, Auftritt Julia Klöckner. Die Bundeslandwirtschaftsministerin stellt bei einer Pressekonferenz den Entwurf einer Verordnung vor. „Ich werde in den Wanderzirkussen verbieten“, sagt sie und zählt auf: Giraffen, Flusspferde, Nashörner, Primaten, Großbären und Elefanten. Sie alle sollen künftig nach dem Willen der Ministerin nicht mehr in reisenden Zirkussen gehalten werden. Denn das Leben dort bedeute „große Strapazen, großen Stress“ für die Tiere.
Klöckner ist ein tierlieber Mensch. Seit Monaten postet sie auf Facebook Fotos ihres Australian Labradoodle Ella: wie sie im schicken Hundeanzug im Schnee herumtollt, wie sie Frauchen am Geburtstag während einer Dienstreise in Brüssel besuchen kommt. Übermäßiges berufliches Engagement in Sachen Tierwohl wird Klöckner dagegen selten unterstellt. Kritiker halten ihr vielmehr vor, dass sie beispielsweise die Verbote des Kükentötens und der betäubungslosen Ferkelkastration hinausgezögert hat und die Haltung von Muttersäuen im Kastenstand für weitere 17 Jahre erlauben wollte.
Die unmittelbaren Auswirkungen von Klöckners neuer Verordnung scheinen zunächst nicht weiter der Rede wert zu sein, denn die wenigen aktuell gehaltenen Tiere der genannten Arten sollen die Zirkusse behalten dürfen. Und ihre Zahl ist überschaubar: insgesamt fünf, vielleicht sieben Elefanten, zwei Giraffen, ein Flusspferd … Neuanschaffungen sind kaum möglich. In wenigen Jahren wird es keines dieser Tiere mehr im Zirkus geben – ob mit oder ohne Verordnung.
Klöckners Bauchgefühl
Dennoch herrscht in der Zirkusbranche helle Aufregung. Solche staatlichen Eingriffe seien wegen ihrer rufschädigenden Wirkung existenzbedrohend für viele Unternehmen. Er akzeptiere, wenn jemand keine Tiere im Zirkus sehen möchte, sagt etwa Jochen Träger-Krenzola vom Vorstand des Berufsverbandes der Tierlehrer. „Aber es hört bei mir auf, wenn sie versuchen, andere Leute zu missionieren, und mich dafür diskreditieren wollen.“
Besonders ärgern sich Zirkusse und Tierlehrer, weil sie auf ausdrücklichen Wunsch Klöckners eine Selbstverpflichtung vorgeschlagen haben, die weit über die bisherigen Haltungsvorschriften hinausging. Das Ministerium dankte und lobte das Konzept, ließ die Zirkusleute allerdings wissen: „Die Leitung unseres Hauses möchte aus politischen Gründen einen anderen Weg verfolgen.“
Was unter solchen „politischen Gründen“ zu verstehen ist, ist für Volker Kauder klar: „Das ist natürlich, weil die Tierrechtler Druck machen“, sagt der ehemalige Unionsfraktionschef im Bundestag, „und dem will sich Klöckner entziehen.“ Er halte nichts von einem grundsätzlichen Wildtierverbot, sagt der Parteifreund Klöckners. „Mir ist wichtig, dass die Tiere anständig gehalten werden – egal, ob das nun Wild- oder Haustiere sind.“
Verbote, so monieren die Zirkusse, bringen einen erheblichen Imageschaden mit sich. „Ankommen wird bei den Leuten: Beim Zirkus ist etwas faul, denen muss man sogar die Tiere verbieten. So schürt man Vorurteile und verunglimpft eine ganze Branche“, sagt etwa Helmut Grosscurth, Geschäftsführer der European Circus Association. „Am Ende heißt es wieder: ‚Leute, nehmt die Wäsche rein …‘“ Auch das Argument, dass es immer wieder Verstöße gegen die geltenden Haltungsvorschriften gebe, will er nicht gelten lassen: „In Berlin gab es im Jahr 2019 über vier Millionen Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Trotzdem ist da, soweit ich weiß, der Straßenverkehr nicht abgeschafft worden. Stattdessen hat man die Straßenverkehrsordnung verschärft.“
Katharina Lameter, Projektleiterin bei Pro Wildlife
Vor allem fürchten die Zirkusvertreter, dass die jetzt genannten Tierarten nur der Anfang sind. Nicht zu Unrecht, denn Klöckners erklärtes Ziel ist es, das Verbot auf alle Wildtiere auszuweiten – vor allem auch auf Raubkatzen, die besondere Attraktion einiger größerer Zirkusse: „Wenn ich jetzt nur von meinem Bauchgefühl spreche, sage ich: Großkatzen haben in der Manege nichts zu suchen.“ Mit einem bedauernden Lächeln fügt die Ministerin hinzu: „Aber wir müssen uns auch an die Grundrechte halten.“
Die Debatte, die durch Klöckners Initiative neuen Zündstoff bekommt, ist schon über 30 Jahre alt. In Deutschland gibt es rund 25 Millionen Schweine, über zehn Millionen Hunde und um die 300.000 Reitpferde – doch über kaum eine Tierhaltungsform wird ähnlich emotional gestritten wie über die von ein paar hundert Wildtieren im Zirkus.
Wenig weiß der Mensch über das Wohlbefinden der Tiere
Pauschale Urteile und Klischees prägen den Streit. Dialog findet längst nicht mehr statt. Mit denen – gemeint sind immer die anderen – kann man ja ohnehin nicht reden, heißt es. Stattdessen stellen Peta und Co. die Zirkusleute an den Pranger, diese wiederum deklarieren die Tierrechtler als verbohrte Ideologen. Beiden Seiten geht es vor allem ums Prinzip, und alle nehmen für sich in Anspruch, stellvertretend für die Tierwelt zu sprechen. Kritischen Nachfragen gegenüber sind beide Seiten skeptisch – und sie sind gut vernetzt. Man stimmt sich untereinander ab, bevor man mit Journalisten redet. Ein Tierrechtler sagt zur Begrüßung am Telefon gleich ganz offen: „Man hat mich vor Ihnen gewarnt.“
Katharina Lameter holt tief Luft. So wie man eben Luft holt, wenn man mal wieder an der Begriffsstutzigkeit des Gegenübers verzweifelt. Die 28-jährige Biologin ist bei der Arten- und Tierschutzorganisation Pro Wildlife in München zuständig für die Kampagne gegen Wildtierzirkusse.
Die Frage, die das erhöhte Sauerstoffbedürfnis ausgelöst hat, ist die, warum die „Wildheit“ von Tieren das ausschlaggebende Kriterium bei ihrer Haltung sein soll. Die Frage ist zentral, weil ihre Beantwortung begründen könnte, warum etwa für Hundehaltung oder Reitsport andere Regeln gelten sollen. Und es lägen ja auch andere Kriterien nahe: So könnte man annehmen, dass sich manche Tierarten für ein Leben im Zirkus eignen, andere dagegen nicht, unabhängig davon, ob sie domestiziert sind oder nicht. Man könnte auch vermuten, dass es vom Charakter des individuellen Tiers abhängt oder davon, in welcher Haltung es aufgewachsen ist. Annahmen, die nicht völlig absurd wären.
Lameter hält dennoch nichts von ihnen. „Ob ein Löwe, ein Zebra oder ein Elefant – diese Tiere sind und bleiben Wildtiere und haben dementsprechend an ihre Haltung ganz andere Ansprüche als eine Katze oder ein Hund, die sich über einen langen Prozess hinweg an das Leben mit dem Menschen angepasst haben“, sagt sie.
Hinter ihr, in der Ecke des Büros, liegt eines dieser angepassten Wesen und schläft: der Hund der Aktivistin, zehn Jahre alt. Geht es ihm gut? Ist er glücklich? Können Tiere glücklich sein? Wenig weiß der Mensch über das Wohlbefinden der Tiere. Es gibt Hinweise, ja: die körperliche Gesundheit, das Verhalten. Und natürlich behauptet jeder Tierhalter: Niemand kennt mein Tier besser als ich; ich werde ja wohl wissen, wie es ihm geht. Da unterscheiden sich Tierlehrerinnen wenig von Hundehaltern.
Mario Spindler führt in den Küchenwagen. Eine großzügige Einbauküche plus Sitzecke. Auch im Winterquartier leben die Spindlers in ihren Wohnwagen. Mario Spindler und seine Frau Melanie erzählen von ihrem Zirkus, ihren Tieren und wie sich alles geändert hat in den letzten Jahren. In den Neunzigern, da sind sie noch mit dem größten Drei-Manegen-Zirkus Europas gereist. „Dann kam die Playstation, dann das Handy“, sagt Melanie Spindler. „Der Zirkus war zwar nebenan – aber keiner hatte mehr Interesse.“ Gleichzeitig kamen aber auch die Tierrechtler, die Demonstranten vor dem Zelt. Und jetzt Klöckner.
Helmut Grosscurth, Geschäftsführer der European Circus Association
„Wir werden von der Politik kriminalisiert“, schimpft Mario Spindler. Das Direktoren-Ehepaar redet sich in Rage, fällt sich gegenseitig ins Wort, gestikuliert, eine Kaffeetasse wird umgestoßen. „Frau Klöckner soll doch mal herkommen“, fordert Melanie Spindler. „Sie soll sich das anschauen, in einen Zirkus mit Wildtieren gehen. Sie muss sich doch selber überzeugen, ob die Zustände da so sind, wie sie es darstellt.“
Aber die Ministerin kommt nicht. Das letzte Mal, bekennt sie, war sie als Kind in ihrem Dorf in einem Zirkus. Auch sonst wurde niemand aus ihrem Ministerium in einem Zirkus vorstellig, um dort einmal die Tierhaltung in Augenschein zu nehmen. Und auf die Ankündigung in der Pressekonferenz, man werde nun Studien in Auftrag geben, angesprochen, reagiert Klöckner mit einem Rückzieher: Man müsse erstmal sehen, welche Lücken noch bestünden und wie man diese wissenschaftlich schließen könne.
Kann das Tier mit dem Menschen?
Einen Mangel an Lücken gibt es jedenfalls nicht. So argumentieren Klöckner und die Tierrechtler unter anderem damit, dass Wildtiere keinerlei emotionale Bindung zum Menschen eingehen könnten und für sie der Kontakt zu ihm grundsätzlich schon ein Stressfaktor darstelle. Es wäre ein gewichtiges Argument, denn in diesem Falle wäre natürlich jede Dressur mit Leid für das Tier verbunden, doch die Behauptung ist nicht belegt. Der Verhaltensforscher Immanuel Birmelin etwa ist überzeugt davon, dass Wildtiere enge Beziehungen zum Menschen eingehen können. „Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier“ heißt das jüngste Buch Birmelins. Darin schildert er Fälle, in denen Wildtiere – vom Delfin bis zum Elefanten – ohne Futterreiz die Nähe des Menschen gesucht hätten.
Auch René Strickler ist Birmelins Meinung: „Man kann zu einem Löwen eine genauso enge Beziehung aufbauen wie zu einem Hund“, sagt er. Strickler spricht nicht aus wissenschaftlicher Betrachtung, sondern aus Erfahrung. Jahrelang war der Raubtierlehrer der Star beim Circus Roncalli. Strickler war einer der ersten und konsequentesten Vertreter der sanften Dressur. „Ich wollte den Besuchern keine Pranken schlagenden und Zähne fletschenden Tiere zeigen, sondern wie vertrauensvoll das Zusammenspiel zwischen Tier und Mensch sein kann.“ Über 40 Jahre lang arbeitete der heute 72-Jährige mit Raubtieren. Er argumentiert, dass die Dressur das Leben für die Tiere interessanter und abwechslungsreicher mache. Ohne sinnvolle Beschäftigung werde man so intelligenten Lebewesen nicht gerecht.
„Der Schlüssel ist Vertrauen“, erklärt der Schweizer am Telefon. Mit Gewaltandrohung erreiche man, anders als es die Tierrechtler behaupteten, gar nichts. Niemals wäre Blacky, der Schwarze Panther, ihm aus drei Metern Entfernung in die Arme gesprungen, sagt Strickler. „Wissen Sie, was das heißt? Dieses Vertrauen – er springt ja eigentlich ins Nichts.“
In der Tat lässt das Verhalten von Zirkustieren oft auf ein enges Vertrauensverhältnis schließen. Ein Beweis ist es nicht. Für Katharina Lameter ist es noch nicht einmal ein Indiz. „Nein, das sind Wildtiere, die sich entsprechend ihrem Verhaltensrepertoire verhalten wollen, wie sie es auch in der freien Wildbahn ausleben würden. Und dazu gehört kein Mensch.“
Die These, dass es bestimmte Tierarten gibt, die sich nicht für die Haltung im Zirkus eignen, hat auch unter Fachleuten, die im Zirkus wissenschaftlich gearbeitet haben, ihre Anhänger. So zeigten sich beispielsweise der mittlerweile verstorbene Wildtierbiologe Fred Kurt wie auch der Verhaltensforscher Immanuel Birmelin mit der Zeit skeptisch, was die Haltung von Elefanten anbelangt. Auch die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz, die kein grundsätzliches Wildtierverbot befürwortet, ist gegen Wildtiere wie Elefanten und Giraffen im Zirkus.
Da es von diesen Arten jedoch nur noch einige wenige Bestandstiere gibt, läge es nahe, das Augenmerk nicht auf die Spezies, sondern auf das Individuum zu legen. Für ein Tier, das seit Jahrzehnten das Leben im Zirkus gewohnt ist, kann es unter Umständen einen Schock bedeuten, wenn es aus der vertrauten Umgebung genommen und in eine Auffangstation gegeben wird.
Aber lässt sich tatsächlich so kategorisch zwischen Wild- und domestizierten Tieren unterscheiden? Anruf bei einem, der es wissen muss: Kai Frölich ist habilitierter Veterinär, promovierter Biologe, Tierparkdirektor und vor allem: Experte in Sachen Domestikation. Nein, sagt Frölich, solche pauschalen Aussagen seien nicht möglich. Auch Wildtiere könnten emotionale Bindungen zu Menschen eingehen, und Interaktionen mit ihnen bedeuteten zwar oft, aber nicht grundsätzlich Stress für die Tiere.
Streitthema Transport
Davon, alle Wildtiere in eine Schublade zu stopfen, hält Frölich wenig. Die Anpassungsfähigkeit von Wildtieren sei sehr unterschiedlich. Auch in Fragen der Haltung lasse sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Wild- und domestizierten Tieren ziehen. Natürlich lasse sich ein Tiger in Haltungsfragen in vielerlei Hinsicht mit einer Hauskatze besser vergleichen als mit einem Zebra – schon allein, weil beide Fleischfresser seien. „Auch wenn Tiger und Zebra Wildtiere sind, die Katze nicht.“ Aber letztendlich könne man immer nur Vermutungen anstellen, wie es dem Tier geht. „Der Löwe wird uns nicht sagen, ob er lieber in der Savanne auf Jagd gehen würde oder sich lieber im Zirkus das Fressen vorsetzen lässt“, sagt Frölich. „Das sind sehr schwere Fragen, auf die es keine leichte Antwort gibt, so gern mancher das vielleicht hätte.“
Bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Wildtierverbots geht es zudem nicht darum, ob man gerne Elefanten beim Männchenmachen oder Seehunden beim Ballspielen zusieht. Es geht um die Frage, ob Leid von Wildtieren in einem reisenden Zirkusunternehmen unvermeidlich ist, es also beispielsweise nicht durch strengere Vorschriften oder Kontrollen zu verhindern wäre. Solange es alternative Maßnahmen gibt, ist ein Verbot laut Tierschutzgesetz nicht zulässig.
Ted Friend, Verhaltensforscher
Neben der Frage nach der Anpassungsfähigkeit von Wildtieren ist der Transport das zentrale Thema in der Debatte. Denn er unterscheidet den Zirkus von den meisten anderen Tierhaltungsformen und würde rechtfertigen, warum nur er Ziel eines Verbotes ist. Natürlich kennt auch Tierlehrer Strickler die Vorwürfe, die Tiere würden durch die häufigen Transporte ungeheurem Stress ausgesetzt. „Ich wollte mir dann mal selber ein Bild machen, wie sie damit zurechtkommen, und habe eine ganze Fahrt im geschlossenen Wagen mit meinen Löwen mitgemacht: Nach zehn Minuten haben alle Tiere im Stroh geschlafen.“ Auch die Standortwechsel bedeuten in Stricklers Augen keinen Stress, sondern einen „Riesenvorteil“ gegenüber manchem Zoo. „Da haben sie neue Gerüche, neue Nachbarn, neue Bodenbeschaffenheit. Das erhöht die Lebensqualität natürlich, weil die Tiere stunden-, manchmal tagelang damit beschäftigt sind, die neue Umgebung zu erkunden.“
Und die kleinen Käfigwagen, in denen die Tiere die meiste Zeit ausharren müssen? Die hat es in der Tat einmal gegeben – vor Jahrzehnten. Er sei der erste gewesen, der mobile Außenanlagen für die Raubkatzen aufgebaut habe, sagt Strickler stolz, schon 1978. Später brauchte er zehn Lkws und 34 Anhänger allein für seine Requisiten: „Die Außenanlagen meiner Tiere haben sich kaum von denen in Zoos unterschieden: Da gab’s Wasserfälle, Baumstämme Felswände, Rückzugsmöglichkeiten.“ Das sei auch in einem reisenden Unternehmen alles möglich.
Erfahrungswerte, die freilich keinen Eingang in Klöckners Verordnung finden, die in ihrer Argumentation den Tierschutzverbänden folgt. Darin wird darauf verwiesen, dass Transporte „naturgemäß“ mit Belastungen speziell für Wildtiere einhergingen. Auf Nachfrage der taz, mit welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen man dies begründe, nennt Klöckners Haus vier Arbeiten – exemplarisch für eine „Vielzahl von Studien“.
Klingt nach einer eindeutigen Quellenlage. Doch sieht man sich die genannten Arbeiten näher an, stellt man fest: Nur eine der Publikationen, ein elfseitiger Aufsatz, streift das Thema Transporte überhaupt: Die Autoren bekunden darin Zweifel an den Ergebnissen älterer Untersuchungen, die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sich etwa Raubkatzen und Elefanten sehr gut an den regelmäßigen Transport gewöhnten – ohne diese jedoch zu widerlegen.
Die Argumentationsdecke ist dünn
Für die Tierschutzverbände steht das Leid der Zirkustiere dennoch außer Zweifel. Ihnen geht Klöckners Verordnung daher nicht weit genug. So fordern 15 Verbände in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ministerin auf, das Verbot sofort auf alle Wildtierarten auszuweiten und auf einen Bestandsschutz für die aktuell gehaltenen Tiere zu verzichten. Ihre Halter müssten demnach ihre Tiere rasch in Auffangstationen abgeben.
Die Stellungnahme ist ein gutes Beispiel für die dünne Argumentationsdecke, auf der die Verbotsverfechter wandeln. Die Tierrechtler fahren darin eine ganze Armada an Argumenten und Quellen auf. Doch betrachtet man sie näher, stellt man fest, dass sich die meisten Studien auf andere Haltungsformen beziehen. Das Argumentationsschema läuft dann, etwas vereinfacht, oft so: Wenn schon bei den Tieren beispielsweise im Zoo dieser und jener Missstand zu belegen ist, um wie viel schlimmer muss es dann um die Zirkustiere stehen, denen es ja bekanntlich viel schlechter geht. Dass gerade das der Punkt ist, der zu beweisen wäre – geschenkt.
Ähnlich funktioniert auch eine von der walisischen Regierung in Auftrag gegebene Arbeit, auf die sich auch deutsche Tierrechtler immer wieder beziehen. Auch die Macher dieser Studie haben nur andere Veröffentlichungen ausgewertet. Und diese beschäftigen sich in den seltensten Fällen mit der Tierhaltung im Zirkus. Stattdessen geht es um Transporte zum Schlachthof, Verhaltensbeobachtungen im Zoo, Kannibalismus unter Ratten oder den Gewichtsverlust weiblicher Rentiere im Winter.
An einer anderen Stelle in der Stellungnahme schreiben die Verfasser pauschal, in der Dressur würden „nicht selten brachiale Gewalt, wie Stockschläge, angewendet“. Dahinter die Fußnote Nummer 120, die Behauptung scheint also belegt zu sein. Folgt man der Fußnote, findet man einen Verweis auf die Autobiografie eines Tierlehrers. In dieser beschreibt er tatsächlich, wie er einmal nach einer lebensbedrohlichen Ausnahmesituation auf einen Löwen eingeschlagen hat. Das Buch ist von 1988, der Fall trug sich 1965 zu. Ein Beweis für das, was heute „nicht selten“ bei der Dressur stattfindet? Zumindest ein Hinweis auf die Qualität der Argumentation.
College Station, Texas. Ted Friend war gerade mit der Kettensäge draußen, hat ein paar Bäume zersägt, die der Schneesturm auf die Zufahrt geweht hatte. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer vor seinem Computer und lässt seinem Ärger via Zoom freien Lauf: „Diese Tierrechtsaktivisten sind genau wie die Anhänger von Donald Trump.“ Mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen seien sie nicht zu erreichen.
Eines der Lieblingsargumente von Tierrechtsaktivisten ist der europäische Vergleich. So ein Blick auf die Karte ist ja auch wirklich sehr eindrücklich: In den meisten europäischen Ländern gibt es inzwischen schon generelle Wildtierverbote oder Verbote bestimmter Wildtierarten. Daran müsse sich auch die Bundesregierung orientieren, heißt es dann.
Andererseits hat kaum ein EU-Land eine ähnlich strenge Tierschutzgesetzgebung wie Deutschland. Die Zirkusbetreiber argumentieren, besagte Länder hätten es sich schlicht einfach gemacht und statt entsprechender Haltungsvorschriften generelle Verbote erlassen. Da es zumeist Länder ohne große Zirkustradition waren, blieb das Verbot dort ohne größeren Widerstand und ohne größere Auswirkungen. Griechenland verbot sogar alle Tierzirkusse – und niemand störte sich daran. Freilich gab es in Griechenland auch keine Zirkusse.
Friend trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug seiner Uni: „Texas A&M University“. 38 Jahre hat er hier geforscht und gelehrt. Schwerpunkt: Tierwohl. Zahlreiche seiner Arbeiten beschäftigten sich mit der Haltung von Wildtieren in Zirkussen. Der Verhaltensforscher ist einer der wenigen Wissenschaftler, die sich tatsächlich vor Ort ein Bild gemacht haben. Er hat sich einen Wohnwagen zugelegt und ist regelmäßig mit Zirkussen mitgereist – in den USA, aber auch in Italien.
Auch in Deutschland gibt es Bäume
Das Pikante: Ausgerechnet Friend ist einer der wichtigsten Kronzeugen der Tierrechtler. Immer wieder berufen sie sich auf seine Studien, insbesondere diejenigen zu stereotypem Verhalten. Und tatsächlich: Friend hat stereotypes Verhalten bei Zirkustieren festgestellt, etwa Tiger, die unruhig am Gitter auf und ab laufen. Doch seien seine Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich hier nicht um eine Verhaltensstörung gehandelt habe, sondern um eine Reaktion auf äußere Umstände wie die anstehende Fütterung oder die Vorstellung. Stereotypien könnten unterschiedliche Ursachen haben, und die gelte es zu unterscheiden. „Die missdeuten alle meine Studien“, schimpft Friend. Und die meisten hätten noch nie Feldforschung in einem Zirkus betrieben.
Die mangelnde wissenschaftliche Basis ihrer Behauptungen über das Leid der Wildtiere im Zirkus scheint aber weder Tierrechtler noch Julia Klöckner zu beunruhigen.
April 2019. Julia Klöckners Ministerium antwortet auf eine Kleine Anfrage der Grünen: „Die in Zirkusbetrieben bei Tierschutzkontrollen festgestellten Verstöße gegen tierschutzrechtliche Bestimmungen belegen aus Sicht der Bundesregierung nicht, dass eine tierschutzgerechte Haltung bestimmter Wildtierarten in Zirkusbetrieben mit wechselnden Standorten grundsätzlich nicht möglich ist.“
November 2020. Im Referentenentwurf der Klöckner’schen Verordnung heißt es: „Die Haltung von Tieren bestimmter wildlebender Arten wirft systemimmanente Tierschutzprobleme auf, die unter den Bedingungen des reisenden Zirkus nicht durch Änderungen der Haltungsbedingungen oder der Transportbedingungen beseitigt werden können.“
Januar 2021. Auf taz-Anfrage, worin dieser Sinneswandel begründet sei, antwortet Klöckner schlicht, es gebe keinen Sinneswandel.
Entsprechend schludrig präsentiert sich auch Klöckners Papier. So behauptet das Ministerium darin, Breitmaulnashörner seien gute Schwimmer, was bei der Haltung berücksichtigt werde müsse. In Wirklichkeit können diese Tiere überhaupt nicht schwimmen. Weiter heißt es, Flusspferde bräuchten ein Wasserbecken, in dem sie vollständig eintauchen könnten, was im Zirkus kaum umsetzbar sei. Dass es in Deutschland nur noch ein Flusspferd gibt, das mit einem Zirkus reist, und dieser ein solches Becken mitführt – egal. Unfreiwillig komisch wird es auch, wenn das Ministerium findet, dass eine adäquate Ernährung von Giraffen „im Zirkusbetrieb deshalb nur schwer umsetzbar“ sei, da diese gewöhnlich von Baumblättern und -trieben lebten – und sich der Tierlehrerverband daraufhin tatsächlich bemüßigt fühlt, das Ministerium darüber in Kenntnis zu setzen, „dass in ganz Deutschland Bäume wachsen“.
Es bleiben viele Fragen. Man bekäme sie von der Ministerin gerne beantwortet. Ein Gespräch mit der taz lehnt Klöckner jedoch ab. Und schriftlich eingereichte Fragen werden zwar pro forma beantwortet, dabei geht die Politikerin jedoch auf die meisten Fragen gar nicht ein, sondern wiederholt lediglich Statements aus der Pressekonferenz.
In der Zirkusbranche gilt noch immer Marthe Kiley-Worthingtons Untersuchung von 1990 als Standardwerk zum Thema. Die unter dem Titel „Animals in Circuses and Zoos: Chiron’s World?“ erschienene Arbeit wurde zunächst von der britischen Tierschutzorganisation RSPCA angestoßen. Kiley-Worthington kommt zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass Tiere im Zirkus notwendigerweise litten. Die RSPCA zog ihre Unterstützung für die über zwei Jahre angelegte Studie zurück, als sich das Ergebnis abzeichnete. Kiley-Worthington zufolge haben ihre Erkenntnisse auch nach 30 Jahren ihre Gültigkeit nicht verloren.
Auch ein Bericht im Auftrag der britischen Regierung, der sogenannte aus dem Jahr 2007, kommt zu dem Ergebnis, es gebe keine zwingenden Argumente dafür, dass es Wildtieren in Zirkussen besser oder schlechter gehe als in anderen Haltungseinrichtungen. Weitere Untersuchungen seien hierfür notwendig. Dennoch entschied sich Großbritannien nach Vorlage des Reports für ein Wildtierverbot.
Mit dem tatsächlichen status quo in Deutschland beschäftigte sich 2008 die . Sie untersuchte die Haltungsbedingungen der Tiere in 25 deutschen Zirkussen. Sie musste feststellen, dass nur die Hälfte der Tiere in Gehegen untergebracht waren, die den Haltungsempfehlungen entsprachen – wobei der Schnitt bei Wildtieren etwas besser war als bei domestizierten Tieren.
Eine kommt im Auftrag der walisischen Regierung 2016 zu dem Ergebnis, dass eine artgerechte Haltung von Wildtieren im Zirkus nicht möglich sei. Die herangezogenen Studien haben allerdings nur in sehr wenigen Fällen Untersuchungen im Zirkus angestellt.
Eines der Hauptargumente bleibt denn auch der Zeitgeist. „Die Zeit hat sich geändert, und auch die Sichtweise von Zirkusbesuchern hat sich geändert“, behauptet Klöckner auf der Pressekonferenz. Was sie nicht sagt: dass, wenn sie recht hätte, Wildtierzirkusse ohnehin kein Publikum mehr fänden und sich die Frage nach einem Verbot erledigt hätte.
Demnächst soll der Bundesrat über die Verordnung befinden. Eine Zustimmung gilt als sicher, da von der Länderkammer selbst in der Vergangenheit schon mehrfach ähnliche Initiativen ausgegangen waren. Klöckners Ziel ist es, die Verordnung noch vor der Bundestagswahl in Kraft treten zu lassen. Die Zirkusunternehmen haben für diesen Fall eine Klage angekündigt.
Volker Kauder hat bereits resigniert. Er wisse, dass seine Position nicht mehrheitsfähig sei, sagt der Politiker. „Leider. Die nächste Nummer wird sein, dass die Haltung von Tieren im Zirkus komplett verboten wird“, prophezeit Kauder. „Frau Klöckner ist auf dem besten Weg, aus dem Gesamtkunstwerk Zirkus ein Varieté im Zelt zu machen.“
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