Wie der Traum vieler Linker aussieht: Das Ende von Hartz IV
Das Kernstück der Agenda 2010 soll abgeschafft werden. Das fordern Teile der SPD. Doch wie sähe ein Deutschland ohne Hartz IV aus? Ein Szenario.
Betroffene: Mehr Geld, weniger Sanktionen
Zunächst müssten die knapp 6 Millionen Hartz-IV-Empfänger nicht mehr fürchten, wegen verpasster Termine oder ausgeschlagener Jobangebote und Fortbildungen im Jobcenter sanktioniert zu werden. Allein in den ersten neun Monaten 2017 wurden fast 720.000 Sanktionen ausgesprochen. Für Betroffene würde „die Angst vor den Sanktionen wegfallen, die viele Menschen überhaupt erst davon abhält, zu Terminen zu erscheinen“, sagt die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin und heutige Linke-Politikerin Inge Hannemann.
Sebastian Koch, der seit zwölf Jahren im Jobcenter Rhein-Sieg arbeitet, würde die Abschaffung etwaiger Sanktionen hingegen nicht befürworten: „Die Konsequenz aus der Abschaffung von Sanktionen wäre, dass wir nur noch mit Erwerbslosen arbeiten könnten, die freiwillig mitmachen. Gegenüber allen anderen hätten wir kein Instrument mehr, um Mitwirkung einzufordern.“ Diese Menschen würden laut Koch in ihren Lebenssituationen allein zurückbleiben – eine Aktivierung würde nicht mehr stattfinden. Trotz Kochs Zweifeln würden Betroffene aber über ein festes Einkommen verfügen, das nicht sinken könnte. Die Gefahr von Zahlungsunfähigkeit, Verschuldung und Obdachlosigkeit dürfte geringer werden.
Ob das Einkommen spürbar steigt, hängt allerdings davon ab, wie hoch die Miete der jetzigen Hartz-IV-Bezieher ist, denn die Übernahme der Unterkunftskosten, würde, wenn es ein Grundeinkommen gäbe, möglicherweise nicht zum Tragen kommen.
Behörden: Mehr Zeit für Jobvermittlung
Gäbe es ein sanktionsfreies Grundeinkommen, würden sich Erwerbslose und Arbeitsvermittler zwangsweise auf Augenhöhe begegnen. Ohne die Möglichkeit, Leistungen zu streichen, müssten die Jobcenter allein auf positive Motivation setzen. Vor allem Klienten mit Suchtproblemen oder gesundheitlichen Problemen würden intensiver betreut. Vermittler müssten außerdem attraktivere Arbeitsplätze anbieten, damit Erwerbslose sie annehmen.
Nach Informationen des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung hat der Bund 2017 etwa 5,1 Milliarden Euro Verwaltungskosten für die Grundsicherung bereitgestellt, die wegfallen würden. Die Kosten für die Verhängung von Sanktionen würden ebenfalls nicht mehr anfallen. An jeder Sanktion sind laut Inge Hannemann vier Mitarbeiter beteiligt, jede Maßnahme kostet ihren Berechnungen zufolge 150 Euro. Dazu kommen die Widerspruchs- und Klagekosten. 2017 wurden laut Bundesagentur für Arbeit fast 640.000 Widersprüche und 116.000 Klagen gegen Bescheide registriert. Diese Kosten fielen weg.
„Ohne Sanktionen könnten sich die Jobcenter-Mitarbeiter auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, die Beratung, Betreuung und Vermittlung der Erwerbslosen“, sagt Inge Hannemann. Viele Jobcenter-Mitarbeiter würden viel lieber ganzheitlich pädagogisch arbeiten, statt sich mit verwaltungsintensiven Sanktionen zu beschäftigen.
Arbeitsmarkt: Löhne würden steigen
Der Wegfall von Sanktionen und die höheren Leistungen würden Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber stärken. Gerade im Niedriglohnsektor müssten Arbeitgeber höhere Löhne zahlen, um ihren Mitarbeitern ein Einkommen oberhalb des Grundeinkommens zu bieten. „Ein Grundeinkommen von 1.050 Euro würde eine fundamentale Erschütterung des Niedriglohnsektors bedeuten“, sagt Stefan Sell, Sozialpolitikforscher an der Hochschule Koblenz. „Das bestehende niedrige Lohnniveau wäre nicht länger zu halten.“
Dem gegenüber steht die Befürchtung, dass Jobs wegfallen, weil sie für Arbeitgeber zu teuer würden. Sell hält diesem Einwand die Erfahrungen mit dem Mindestlohn entgegen. Vor dessen Einführung „haben konservative Volkswirtschaftler aber auch behauptet, es würden 900.000 Jobs verloren gehen – bestätigt hat sich das nicht.“
Konjunktur: Konsum dürfte steigen
Ein Grundeinkommen oder auch nur die Erhöhung der Regelsätze würde den Konsum stark ankurbeln“, ist Stefan Sell überzeugt. Im Einkommensbereich von Hartz-IV-Empfängern könne man jede Erhöhung zu 100 Prozent in Konsum umrechnen. „Das wäre ein konjunktureller Stimulus“, sagt Sell. Die Sparquote sei bei Hartz-IV-Empfängern negativ. „Die Menschen geben mehr aus, als sie haben. Sie verschulden sich. Jeder Euro mehr, den man diesen Menschen gebe, würde „sofort investiert“. Über die Mehrwertsteuer flösse ein Teil dieser Ausgaben wieder direkt an den Staat zurück.
Gesellschaft: Ende eines Stigmas
Die Hartz-IV-Gesetzgebung orientiert sich am Prinzip des „Forderns und Förderns“. Arbeitslosigkeit wird darin weniger als gesellschaftliches Problem bewertet, sondern fällt in die Verantwortung des Individuums. Sanktionen und die Vorgabe, jeden zumutbaren Job anzunehmen, zeichnen das Bild von Menschen, die durch Zwang dazu animiert werden müssen, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Dieses Bild (Gerhard Schröder: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“) prägt noch immer die öffentliche Debatte über Arbeitslosigkeit.
Ein Ende von Hartz IV würde auch ein Ende dieses Menschenbilds bedeuten. An dessen Stelle träte die Grundhaltung, dass jedes Mitglied der Gesellschaft das Recht auf ein Einkommen hat, das gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Die Beseitigung von Arbeitslosigkeit würde damit als Aufgabe der Gemeinschaft wahrgenommen. Bei der Arbeitsmarktpolitik würde es nicht mehr in erster Linie darum gehen, wie man Erwerbslose schnell in Arbeit bringt, sondern vielmehr darum, wie man ihnen ermöglichen kann, einer zufriedenstellenden Arbeit nachzugehen.
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