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Wahlprogramm von CDU und CSUDer Zeitgeist als Wählerklient

Sabine am Orde
Kommentar von Sabine am Orde

Der Rückschritt im Unions-Wahlprogramm schreit einen geradezu an. Trotzdem wollen es viele Menschen offenbar genau so.

Friedrich Merz und Markus Söder bei der Vorstellung des gemeinsamen Wahlprogramms von CDU und CSU Foto: Michael Kappeler/dpa

B eginnen wir mit dem Positiven: Die Zeiten, in denen die Parteien der Mitte kaum unterscheidbar waren, sind vorbei. In dieser Ähnlichkeit und der daraus entstandenen Lücke auf der rechten Seite des Parteienspektrums lag ja einer der Gründe für den Aufstieg der AfD. Laut den Wahlprogrammen, die in dieser Woche vorgestellt wurden, ist damit Schluss. Die SPD rückt in ihrem Kurs wieder ein bisschen nach links, die Union stellt sich deutlich konservativer und wirtschaftsliberaler auf als bei den Bundestagswahlen zuvor.

Es gibt also klare Alternativen: Auf der linken Seite wollen SPD, Grüne und die Linkspartei – grob gesagt – Schulden machen, um in Zeiten knapper Kassen in die Infra­struktur zu investieren, um Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral zu ­gestalten und dabei das Sozia­le nicht zu vergessen. Und auf der anderen Seite setzen Union und FDP auf die Schuldenbremse und wollen unter anderem mit Steuersenkungen, von denen vor allem Unternehmen und Besserverdienende profitieren würden, sowie Kürzungen beim Bürgergeld und den Geflüchteten die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Weil Wirtschaftswachstum die Grundlage für alles sei, wird diesem alles untergeordnet. Wie die Union das Ganze bezahlen will, bleibt allerdings unklar. Ökonomen haben eine Finanzierungslücke von bis zu 100 Mil­liarden Euro ausgemacht.

Nun kann man sagen: Die CDU ist keine Programmpartei, in der Vergangenheit hat sie sich oft herzlich wenig um das geschert, was sie zuvor schriftlich auf vielen Seiten ausgearbeitet hat, wenn es dann um die Macht ging. Aber dieses Wahlprogramm der Union sollte man ernst nehmen. Der Rückschritt darin schreit einen geradezu an, 79 Seiten lang.

Der Zeitgeist hat sich nach rechts verschoben, und die Wirtschaftskrise und die Sorge um die Arbeitsplätze überlagern vieles

CDU und CSU wollen nicht nur die Fortschritte der Ampelregierung wie erleichterte Einbürgerungen, das Selbstbestimmungsgesetz und die Teillegalisierung von Cannabis rückabwickeln sowie das Bürgergeld und das Heizungsgesetz wieder abschaffen. Sie wollen auch gleich noch die Merkel-CDU hinter sich lassen. „Das ist nicht mehr die Groko-Union“, tönte CSU-Chef Markus Söder bei der Vorstellung des Programms. Mit neuen Leuten wolle man künftig „eine sehr konservative Law-and-Order-Politik“ umsetzen.

Das Bild des „faulen Arbeitslosen“ zieht wieder

Besonders deutlich wird das beim Thema Migration: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen verspricht die Union nun, darüber hatten sich CDU und CSU dereinst unter Merkel fast zerlegt; die Ex-Kanzlerin hielt sie für rechtlich unzulässig und gefährlich für den Zusammenhalt der EU. Hinzu kommen: die Abschaffung des subsidiären Schutzes und Asylverfahren in sichereren Drittstaaten außerhalb der EU, wo Geflüchtete auch nach ihrer Anerkennung bleiben sollen. Selbst von Kontingenten, die man aufnehmen will, ist nicht mehr die Rede. Das alles wäre, wenn man überhaupt ein Aufnahmeland finden würde, nicht nur humanitär fragwürdig und sehr teuer, es ist auch mehr als unklar, ob das rechtlich überhaupt zulässig ist.

Letzteres trifft übrigens auch auf die hohen Einsparmöglichkeiten beim Bürgergeld zu, die die Union verspricht. Aber nachdem CDU und CSU das Bürgergeld, das sie einst mit beschlossen haben, mit ihren zahlreichen Attacken in Verruf gebracht haben, lässt sich mit dem alten Bild vom „faulen Arbeitslosen“, dem man einheizen will, eben wunderbar Wahlkampf machen. Was im Übrigen auch für jenes vom „kriminellen Ausländer“ gilt.

Nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 war eine Analyse in der CDU-Zentrale: Die Niederlage habe auch damit zu tun, dass die CDU als Partei der sozialen Kälte wahrgenommen worden sei. Davon ist heute keine Rede mehr. Und das vielleicht aus gutem Grund: Der Zeitgeist hat sich nach rechts verschoben, und die Wirtschaftskrise samt Inflation und der Sorge um die Arbeitsplätze im Land überlagern vieles. Möglicherweise wünschen sich viele Menschen genau die Politik, die die Union mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz verspricht. In den neusten Umfragen sind CDU und CSU jedenfalls wieder angestiegen.

Natürlich ist noch nichts entschieden, bis zur Bundestagswahl sind es noch zwei Monate. Da kann Merz noch viele Fehler machen, Söder zahlreiche Spaltpilze in die Union treiben. Und natürlich wird diese, sollte sie tatsächlich stärkste Kraft werden, einen Koalitionspartner brauchen. Merz’ Lieblingsoption ist dabei eine Ausgangslage wie im vergangenen Jahr in Hessen: Dort wollten sowohl SPD als auch Grüne unbedingt mitregieren, die CDU konnte die Preise dafür extrem hochtreiben. Im Bund wird es dann darauf ankommen, wie klein sich die potenziellen Partner machen – und wie viel Rückschritt mitzutragen sie bereit sind.

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Sabine am Orde
Innenpolitik
Jahrgang 1966, Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Seit 1998 bei der taz - in der Berlin-Redaktion, im Inland, in der Chefredaktion, jetzt als innenpolitische Korrespondentin. Inhaltliche Schwerpunkte: Union und Kanzleramt, Rechtspopulismus und die AfD, Islamismus, Terrorismus und Innere Sicherheit, Migration und Flüchtlingspolitik.
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10 Kommentare

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  • Zitat: "Ökonomen haben eine Finanzierungslücke von bis zu 100 Mil­liarden Euro ausgemacht."

    Stimmt nicht. Auf hundert Milliarden wurden die Steuermindereinnahmen geschätzt. Die Frage, auf wieviel sich die Lücke zwischen den derart geschmälerten Einnahmen und ausgeweiteten Ausgaben belaufen würde, ist seriös wohl kaum zu beantworten. Ins Kalkül gezogen, daß Lindner im Haushalt 65 Milliarden fehlten und mit Trump nicht gerade ein Freund der Europäer ins Weiße Haus einzieht, müßten es mehr als 200 Milliarden sein.

  • "Auf der linken Seite wollen SPD, Grüne und die Linkspartei – grob gesagt – Schulden machen, um in Zeiten knapper Kassen in die Infra­struktur zu investieren, um Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral zu ­gestalten und dabei das Sozia­le nicht zu vergessen. "

    Ähm. Das will doch auch die CDU.

    Das wurde doch bereits mehrmals auch öffentlich gesagt. Die Differenz ist, das die CDU neben der Reform der Schuldenbremse auch auf Einsparungen pocht um die notwendigen Investitionenin wie Wirtschaft, Schulen, Bildung oder Klima finanzieren zu können.

  • Der Artikel ignoriert leider das Problem, dass linke Positionen im heutigen Zeitgeist genau nicht mehr als progressiv wahrgenommen werden.

    Gesellschaftliche Dynamik inklusive Provokation und APO findet sich rechts.

    Die Systemfrage wird heute von rechts gestellt.

    Links ist man mit Systemerhalt beschäftigt.

    "Rückschritt" trifft es deshalb nicht.

    Wer heute Anfang 20 ist, für den ist Merkels "Wir schaffen das." ggf. das Althergebrachte.

    Wer um die 40 ist, erkennt heute beim Thema Migration den Diskurs aus den 90ern wieder.

    Bei dem zweiten großen Thema Wirtschaft haben Linke keine Antworten.

    Vielleicht lohnt sich zudem die Reflexion, weshalb Law and Order offenbar so gefragt ist.

    Die CDU würde es ja nicht reinnehmen, wenn sie nicht überzeugt wäre, damit ein Bedürfnis zu bedienen.

    Wichtige Bedürfnis der Wähler zu ignorieren, kann nicht progressiv sein.

  • Angenommen, nächstes Jahr regiert überraschend Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün mit eigener Bundestagsmehrheit.



    Sie machen viele neue Schulden, das Bundesverfassungsgericht kassiert das aus offensichtlichen Gründen.



    Was ist dann anders als mit der Ampel seit Ende 2023?

    Auch dann passen die Sätze



    "Wie [sie] das Ganze bezahlen will, bleibt allerdings unklar. "



    und "es ist auch mehr als unklar, ob das rechtlich überhaupt zulässig ist."

    Allerdings werden viele nicht erfahren, dass auch dieses Szenario zum Scheitern verurteilt ist - denn so ein Wahlergebnis ist doch eher unwahrscheinlich.

  • Es ist zu einfach, mal eben zu sagen, dass SPD, Grüne und Linkspartei die geplanten Ausgaben durch mehr Schulden finanzieren wollen.



    Wie die Schulden gemacht werden sollen, wird nicht erzählt. Dagegen wird bei der CDU aufgeführt, dass die Finanzierung der Pläne nicht geklärt sei.

    Wie sollen die Schulden denn gemacht werden? Bei der Schuldenbremse wohl ohne Notlage kaum möglich. Wird Herr Scholz nochmal eine Klatsche vor dem Bundesverfassungsgericht abholen wollen?

    Insofern sind die Pläne aller Parteien unseriös finanziert.

  • "Schulden machen, um in Zeiten knapper Kassen in die Infra­struktur zu investieren, um Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral zu ­gestalten"



    genau das ist das Missverständnis, es geht nicht ums Schuldenmachen, um Wünsche (denn das sind Klimaneutralität und Soziales aus der Perspektive von cdu, fdp etc) zu finanzieren.



    Es geht darum die Wirtschaft anzukurbeln und das mit einem Impuls zu verknüpfen, der Klimaneutralität und Soziales befördert.



    Das Ziel ist Rezessionsbekämpfung, der gewünschte Nebeneffekt (der nicht minder wichtig ist) natürlich Absicht.



    Die Verdrehung von neoliberaler Seite ist, dass es nur um Wünsche geht...

  • Wie ich schon an anderer Stelle sagte. Noch nichts, aber auch gar nichts entschieden. Lass die LINKEN ihre Silberlocken-Wahlkreise gewinnen, oder sogar 5% erreichen, LINDNER draussen.



    Dann wollen wir mal sehen, wer sich mit einem Söder oder Merz ins Bett legt.

  • Wenn die Zuhunft das Gestern ist leben wir ja heute schon im Morgen...

    • @Vidocq:

      Geil! Endlich zurück in der Zukunft!

  • "Mehr Fortschritt wagen" war der Titel des Koalitionsvertrages dieser Legislaturperiode. Da klingt "Rückschritt" doch wirklich sehr verlockend.