Wahlen in Ostdeutschland: Im Westen nichts Neues
Für die alte Bundesrepublik hat sich 1989 wenig geändert. Nur eins: Rechtsextremismus und Demokratiemüdigkeit sind nicht mehr ihr Problem.
O sten ist überall. Von Berlin aus gesehen. Genauso wie Westen, Süden und Norden. Ich bin Berlinerin, geboren am dreckigen Nabel der Welt. Der Rest derselben existiert für unsereins nur als Erholungsort. „Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt“, ätzte Tucholsky schon vor hundert Jahren. Jedoch hat meine Hassliebe zu dieser Stadt dazu geführt, dass ich mich – anders als andere Ostdeutsche meiner Generation – meiner Herkunft nie geschämt habe.
Ost-Berliner hielten sich schon zu DDR-Zeiten für was Besseres, vor allem assimilierte Intellektuelle, Künstler, Akademiker, überzeugte Antifaschisten, die sich dem kleinbürgerlichen Parteikader in Wandlitz haushoch überlegen fühlten. Bei Lichte besehen ist Berlin aber von jeher nur ein Klumpen Dörfer in einer Sandkiste, den jemand nach dem Zusammenfegen vergessen hat wegzuschmeißen.
Weil jedoch die einzelnen Bezirke so tun, als wären sie verschiedene Welten, vergessen Berliner bisweilen, dass auch ein Leben jenseits der Stadtgrenzen möglich ist. Vor sechs Jahren war ich mal drei Monate raus aus dem Loch, Literaturstipendium in Baden-Württemberg. Mein Sohn war gerade geboren, mein Mann in Elternzeit. Ich schrieb an meinem Wendekinderroman „Hufeland, Ecke Bötzow“.
„Alle oder keiner“, beschlossen wir und zogen nach Hausach im Schwarzwald, wo es Industrie gibt und Tourismus, Bahnanbindung, Autobahn und Fahrradwege, Supermärkte, Einzelhandel und Vereinswesen. Auf dem Wochenmarkt verkaufen die Landwirte ihre Produkte. Sogar die migrantische Bevölkerung ist einigermaßen integriert. Man empfing uns herzlich, ein Kinderbett für die Stipendiatenwohnung wurde besorgt.
„Die Mama kommt gleich“
Und wenn mein Mann den Kinderwagen durch die perfekt asphaltierten Straßen der Kleinstadt schob, beugten sich die badischen Hausfrauen zum Baby hinunter und gurrten: „Die Mama kommt gleich.“ Ich hätte mich innerhalb Deutschlands weder topografisch noch gesellschaftlich weiter vom Gegenstand meiner Arbeit entfernen können. Damals verstand ich endlich, warum sich außerhalb Ostdeutschlands niemand für den Osten interessiert.
Denn anders als Dirk Oschmann konstatierte, hat keineswegs der Westen den Osten erfunden, sondern möchte im Gegenteil am liebsten nicht mehr über ihn reden oder nur nachdenken. Wobei zu betonen ist, dass die westliche Entsprechung zum Ostdeutschen als Eigendefinition nicht existiert. Die Leute nennen sich Norddeutsche oder Bayern, Kölner oder Badener, die Bezeichnung westdeutsch wird dort als Abwertung empfunden, als konstruierte Einheit gegen das Ostdeutsche, dessen Existenz deshalb ebenfalls negiert wird.
„Negation von Alterität“ nennt Steffen Mau das Phänomen, das jede Person kennt, die schon einmal versucht hat, darauf hinzuweisen, dass ihre Erfahrung (ob als Ostdeutsche, Jüdin oder Behinderte) nicht mit dem übereinstimmt, was gemeinhin als Normalität verstanden wird. Für die Menschen im Schwarzwald war es völlig wurscht, dass in Berlin drei Jahrzehnte zuvor eine Mauer gefallen war.
Die Umbrüche von 1989 und der Nachwendezeit, die im Osten und in Ostberlin auf einen Schlag das Unterste zuoberst gekehrt, Existenzen zum Einsturz, Weltbilder zerstört und den Alltag jedes einzelnen Ostdeutschen vom Kind bis zum Rentner bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten, waren hier nur als leises Klirren der Tassen im Küchenschrank spürbar. Niemand hatte im Schwarzwald das Gefühl, ihm wäre die Kontrolle über sein Leben aus der Hand genommen worden.
Kein Platz für eigene Erfahrungen und Fehler
Hier hatte es nie einen Elitentausch gegeben, nicht einmal nach 1945. Denn während der Marshall-Plan der BRD das Wirtschaftswunder bescherte, musste die DDR der Sowjetunion Reparationszahlungen leisten. Während die Alliierten im Westen den Deutschen Alt-Nazis die Steigbügel hielten, damit sie auf sanfte Art die Demokratie lernen konnten, führte die explosionsartige Geschwindigkeit der deutschen Wiedervereinigung im Anschluss an die friedliche Revolution von 1989 zur Ausbremsung des Demokratisierungsprozesses im Osten.
„Genau in jenem Moment, als sich die Ostdeutschen als politische Subjekte erfanden, setzte mit der Weichenstellung Richtung Westen eine starke Entpolitisierung ein“, schreibt Mau. Der Strukturwandel nach 1990 war eine Reform von oben, welche die Revolution von unten 1989 ablöste und gewissermaßen im Keim erstickte. Stattdessen kamen Experten aus dem Westen, die den demokratieunerfahrenen Ossis bei der Angleichung an das bundesdeutsche System helfen sollten, das nun zum Ideal geadelt worden war.
Für eigene Erfahrungen, Fehler oder Modelle blieb kein Platz. Und anders als ursprünglich geplant, zogen die westdeutschen Eliten sich nicht zurück wie die Alliierten, sondern blieben sitzen auf ihren Posten. Weil sie schon mal da waren. Nun wird in Deutschland wieder gewählt und den fast ausschließlich altbundesrepublikanisch sozialisierten Entscheidungsträgern und Medienschaffenden fällt ein, dass sie diesen großen Vorteil gegenüber allen anderen westlichen Nationen haben, die sich wundern müssen, woher die Attraktivität der Männer mit den einfachen Antworten bei den Wählern und Wählerinnen kommt.
Denn Deutschland hat den Osten und kann so die internationale Ausnahme – das wohlhabende Westdeutschland – zur Normalität erklären und die antidemokratischen Tendenzen, die sich weltweit abzeichnen, hierzulande als Ostproblem externalisieren, zum Erbe der DDR erklären, entgegen jeder Evidenz. Je böser die DDR und mit ihr der Osten in diesem Narrativ erscheint, desto paradiesischer erscheint im Gegensatz dazu die gute alte Bundesrepublik, die sich im kollektiven Vatermord von 1968 angeblich auch selbstständig all ihrer Nazivorfahren entledigt hat.
Zwei Prozent der Erbschaftssteuer
Am letzten Augustwochenende war in Brandenburg Einschulung, eine Woche früher als in Berlin. Freunde von uns sind vor Jahren in die Prignitz zurückgezogen. Mit dem dritten Kind war die Mietwohnung in Berlin zu klein geworden, eine größere weder zu bekommen noch zu bezahlen. Während der Pandemie kehrten sie der verseuchten Stadt den Rücken. Nun wohnen sie im Eigenheim auf dem Dorf, in der Nähe der Eltern und Großeltern, hochverschuldet.
Denn anders als Freunde, die aus Bayern nach Berlin gezogen sind, konnten die Prignitzer nicht auf das angesparte Vermögen der Eltern und Großeltern zurückgreifen. Sie mussten zur Bank. Steffen Mau schreibt: „Das Vermögen der Haushalte ist in Westdeutschland doppelt so hoch, nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftsteuer werden in Ostdeutschland (ohne Berlin) gezahlt.“ Zwei Prozent. Von denen wiederum 90 Prozent vermutlich in Potsdam gezahlt werden.
Dem Pavillon der Superreichen vor den Toren der stinkenden Hauptstadt. Für jene, denen Wilmersdorf zu heruntergekommen und Prenzlauer Berg zu billig ist. Diejenigen, die in Berlin die Statistik versauen, sind vermutlich auch eher die Nachkommen derjenigen, die sich nach 1945 am Marshall-Plan sattgefuttert haben und mit dem Geld der Eltern schon in den Siebzigern die schönen Altbauwohnungen in Westberlin gekauft oder seit den Neunzigern Prenzlauer Berg, Mitte und Pankow „aufgewertet“ haben.
Meine Familie besaß vier Grundstücke im Großraum Berlin, die zu DDR-Zeiten verkauft werden mussten, weil sich Wohneigentum im Sozialismus nicht rechnete. Die Instandhaltung war zu teuer. Es kann aber auch sein, dass sich meine jüdischen Vorfahren einfach gar nicht für Geld, sondern nur für Bücher interessierten. Eines der Grundstücke hat mein parteitreuer Großvater dem Staat nämlich sogar geschenkt. Ich darf nicht zu lange darüber nachdenken, sonst fange ich an zu heulen.
Vorsicht vor den reichen Erben echter Nazis
Vorher hatte mein Urgroßvater, der als Jude von den Nazis enteignet worden war und bis zu seinem Tod 1955 in Westberlin lebte, vergeblich auf Entschädigungszahlungen als Opfer des Faschismus gewartet. Ich möchte hier keineswegs die Normalisierung rechtsextremer Positionen in Ostdeutschland relativieren. Der Sitznachbar des Prignitzer Einschulungskindes hat offen rechtsextreme Eltern. Der Vater trägt Naziparolen-Tattoos auf dem Unterarm. Das Kind ist sehr nett. Unsere Freunde laden es manchmal zu sich ein. Seine Eltern sucht sich schließlich niemand aus.
Die Großeltern des Einschulungskindes saßen bei der Feier freundlich-brummig um den Tisch herum. Mit Politik wollen sie nichts zu tun haben, erklärten sie. Sie fühlten sich nicht gemeint. Wählen gingen sie schon lange nicht mehr. Sie guckten verschmitzt, als sie das sagten. Ein Relikt. Zu DDR-Zeiten herrschte Wahlpflicht. Nicht zu wählen oder die eigene Stimme zu entwerten, galt als Rebellion.
Unsere Freunde engagieren sich in der Prignitz, einen Sportwettbewerb und ein Konzert haben sie schon organisiert. Zum Arbeiten fahren beide nach Berlin. Vor einiger Zeit gab es eine Initiative im Ort, vom Kreisabgeordneten der SPD. Die Schulkinder wurden eingeladen, den Bundestag in Berlin zu besuchen. Schauen, wie Politik gemacht wird. Das älteste Kind unserer Freunde war die einzige Teilnehmerin aus dem Ort. Alle anderen Familien verzichteten. Sie misstrauen „der Politik“.
Geld beruhigt. Das hab ich vor sechs Jahren im Schwarzwald verstanden. Wohlstand macht großzügig, Sicherheit milde, Teilhabe an Entscheidungsprozessen schafft Selbstbewusstsein. Ich bin Berlinerin. Als jüdische Frau mit sichtbarer Behinderung ohne finanzielle Sicherheiten betrachte ich die Normalisierung rechtsextremer Positionen im ländlichen Osten mit Sorge.
Aber die reichen Erben der echten Nazis, die mit ihrem Geld und ihrem Einfluss heimlich, still und leise in der Lage sind, die Gesellschaft umzugestalten, wie es ihnen passt, die machen mir, ehrlich gesagt, fast genauso viel Angst. Von rechtsextremen antisemitischen amerikanischen Milliardären mit Allmachtsphantasien fange ich gar nicht erst an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“