Vorrücken der ukrainischen Armee: Aggressor im Rückwärtsgang
Die These vom unvermeidlichen russischen Sieg wankt. Waffenlieferungen helfen der Ukraine, das ist klar. Unklar ist aber, wie Putin jetzt reagiert.
A ls Russland im Februar seinen Krieg begann, boten die USA dem ukrainischen Präsidenten an, ihn schnellstens ins sichere Ausland zu evakuieren. Es schien ausgemacht, dass das Ende des unabhängigen Staats Ukraine unmittelbar bevorstand. Die Antwort von Wolodimir Selenski ist legendär: „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich benötige Munition“, sagte der Präsident.
Trotz der anschließenden ukrainischen Erfolge rund um Kiew, trotz des hinhaltenden Widerstands im Süden und Osten des Landes galt es unter westlichen Experten wie bei den vielen Freizeitgenerälen in Redaktionsstuben und im Internet lange als ausgemacht, dass die Ukraine letztlich keine Chance gegen die russische Militärmacht hat. Daraus rührt wiederum die umstrittene Forderung nach einem möglichst raschen Waffenstillstand und einem territorialen Kompromiss zulasten der Ukraine her. Wenn dieser Krieg schon nicht zu gewinnen sei, so die eingängige Argumentation, dann sollte er doch möglichst wenige Menschenleben fordern.
In diesen Tagen gerät die These vom unvermeidlichen russischen Sieg ins Wanken. Die ukrainische Armee macht erhebliche Geländegewinne, russische Einheiten flüchten, ihr Gerät zurücklassend, während die Militärs in Moskau von Umgruppierungen faseln. Ganz offenbar hat die Ukraine dank der Unterstützung mit Waffen doch die Möglichkeit zu großen Erfolgen. Von einem Sieg zu sprechen, wäre allerdings verfrüht, denn niemand weiß, ob sich die Rückeroberungen werden halten oder ausweiten lassen.
Politisch folgt aus den Geländegewinnen dreierlei. Erstens zeigt sich damit, dass die westliche Waffenhilfe den Krieg nicht nur verlängern hilft, sondern dass die russische Militärmaschine tatsächlich besiegbar ist. Das ist eine Bestätigung für die Richtigkeit der Unterstützung und wird die Diskussion über die Lieferung weiterer schwerer Waffen forcieren. Zweitens wird die ukrainische Staats- und Militärführung angesichts des Erfolgs ganz gewiss nicht dazu neigen, die russischen Angreifer für ihr Verhalten nun auch noch zu belohnen, also auf einen Kompromiss einzugehen, und sie hat recht damit. Und drittens destabilisiert die militärische Niederlage tendenziell das Regime in Moskau. Ob daraus eine Zivilisierung folgt, ein Regimewechsel gar, oder nicht im Gegenteil eine noch stärkere Brutalisierung, das wissen wir nicht.
Einstweilen hat Wladimir Putin am Samstag in Moskau ein Riesenrad eingeweiht. Der russische Präsident simuliert einen friedlichen Alltag, den es so nicht mehr gibt. Es fragt sich, wie lange er diesen Kurs angesichts Tausender Tote noch durchhalten kann.
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