Virologin über Omikron-Variante: „Wir stehen vor einer Wand“
Die neu entdeckte Variante des Coronavirus breitet sich global rasant aus. Wie gefährlich Omikron ist, erklärt die Virologin Isabella Eckerle.
taz: Frau Eckerle, aktuell geht die Zahl der Neuinfektionen leicht zurück, es wird so viel geimpft wie nie zuvor. Zugleich hält wohl auch die noch sehr viel ansteckendere Omikron-Variante Einzug in Deutschland. Wo genau stehen wir derzeit?
Isabella Eckerle: Wir haben in Deutschland nicht so einen guten Überblick über die zirkulierenden Varianten wie etwa Großbritannien oder Dänemark, die insgesamt viel mehr sequenzieren (also die Proben genetisch untersuchen, Anm. der Red). Hinzu kommt, dass die Daten dazu vom Robert-Koch-Institut recht zeitverzögert veröffentlicht werden. Wir wissen also nicht genau, wie viel Prozent der Infizierten sich bereits mit der Omikron-Variante angesteckt haben.
Die neuesten Daten sind etwa zwei Wochen alt. Da lag der Anteil noch bei 0,5 Prozent. Von Großbritannien und Dänemark wissen wir, dass sich der Anteil der Omikron-Infizierten alle zwei bis drei Tage verdoppelt. In London etwa liegt der Anteil bereits bei etwa 70 Prozent. Diese Entwicklung auf Deutschland übertragen bedeutet, dass der Omikron-Anteil wahrscheinlich schon bei 10 bis 20 Prozent liegt, in einigen Regionen vielleicht sogar noch mehr, und Omikron an Weihnachten dominant sein dürfte.
Und Delta ist noch gar nicht überstanden.
41, ist Virologin und Leiterin des Zentrums für neuartige Viruserkrankungen an der Uni Genf. In der Pandemie untersuchte sie die Rolle der Kinder bei der Übertragung der Viren.
Was wir im Moment sehen, ist wahrscheinlich eine leichte Stabilisierung der Delta-Daten. Das zeigt: Die kürzlich ergriffenen Maßnahmen wirken. Das ist schon mal eine gute Nachricht. Wobei: Um wirklich wieder Luft holen zu können, reicht es nicht aus, die Inzidenz lediglich zu stabilisieren. Sie ist immer noch zu hoch, und die Situation in den Kliniken bleibt angespannt. Ohne Omikron hätten wir aber den Peak dieser vierten Welle wahrscheinlich überstanden.
Bis in den Herbst hinein schien Dänemark sehr gut durch die Pandemie zu kommen. Die Impfquote dort ist hoch. Mit Omikron schießen die Zahlen bei unserem nördlichen Nachbarn in die Höhe. Dort ist nicht mehr nur von einer Welle die Rede, sondern angesichts der steilen Kurve nach oben von einer Wand.
Anderswo:
Dänemark und die Niederlande sind bereits im Lockdown. Gegenüber Großbritannien schottet sich Deutschland wegen der dominierenden weit ansteckenderen Omikron-Variante ab. Hier haben sich die Fallzahlen binnen zwei Tagen verdoppelt.
Hierzulande:
Die Lage in Deutschland ist wegen des Meldesystems immer ein paar Tage zurück. Das RKI meldet am 13. Dezember 112 Omikron-Fälle. Tatsächlich dürften sie bei rund 1.000 liegen.
Aussichten:
Sollte Omikron sich weiter so rasant verbreiten, dürfte die Fallzahl zum Jahreswechsel bei rund 130.000 Fällen liegen, zwei Tage später bei 260.000.
Mir fällt kein Grund ein, warum sich das Virus in Deutschland anders verhalten sollte als in Dänemark oder in England. Genau vor einer solchen Wand stehen wir also auch. Welche Krankheitsschwere Omikron hervorruft, kann man allerdings noch nicht präzise sagen. Es gibt zwar Daten aus Südafrika, die darauf hinweisen, dass der Krankheitsverlauf bei Omikron milder ist. Das wäre natürlich erfreulich. Doch darauf setzen würde ich nicht.
Warum nicht?
Südafrika hat eine viel jüngere Population und sehr viel mehr Menschen dort waren auch schon mit früheren Varianten infiziert. In England sehen wir aktuell schon einen Anstieg der Krankenhausaufnahmen, das spricht nicht gerade für einen besonders milden Verlauf. Viel erschreckender aber ist die extrem hohe Übertragbarkeit bei Omikron. Schon bei Delta haben wir gedacht: Biologisch hat das Virus alles ausgereizt, was es auf Lager hat. Diese hohe Ansteckungspotenzial lässt sich nicht noch mehr steigern.
Nun kommt die Omikron-Variante um die Ecke, die plötzlich ganz viele unbekannte Mutationen hat und so viel ansteckender ist. Wie ein Virus in der Lage ist, so schnell so viele Menschen anzustecken, ist schon sehr furchteinflößend und hat auch mich und viele meiner Kollegen erstaunt.
Auch Virologe Christian Drosten, der auf Corona spezialisiert ist, meinte im Sommer: Viel schlimmer als mit Delta kommt es nicht. Eine Fehleinschätzung der Wissenschaft?
Das ganze erste Jahr über hatten wir den Eindruck, das Virus sei schon ziemlich gut an den Menschen adaptiert. Es gab zwar eine Veränderungen am Spike, also dem Stachel auf dem Virus, aber viel passiert ist sonst nicht. Und dann hat man eben gedacht, dass sich das Virus wie andere Coronaviren verhält, die anders als etwa die Influenza, die sich jedes Jahr verändert, genetisch ebenfalls relativ stabil sind.
Doch Ende 2020 ging es dann plötzlich los mit den Varianten. Die Alpha-Variante machte schon eine etwa zehnmal höhere Viruslast als der Wildtyp. Beta und Gamma kamen auf einmal auf, die ja schon eine Immunflucht machen konnten …
… also den Schutz von Geimpften und Genesenen umgingen …
Ja. Beta und Gamma verschwanden wieder. Und dann tauchte Delta auf. Wir hatten alle gedacht, die nächste Variante würde wahrscheinlich eine Unterlinie von Delta sein, ansteckender, vielleicht mit etwas mehr Immunflucht, aber nicht komplett anders. Was an Omikron so ungewöhnlich ist: Dieses Virus hat sich nicht aus einer der anderen Varianten entwickelt, sondern geht wahrscheinlich auf ein ursprünglicheres Virus aus Mitte 2020 zurück.
Diese Möglichkeit hatten glaube ich nicht viele auf dem Schirm. Wobei schon Wissenschaftler darauf hinwiesen, dass noch einmal was ganz anderes um die Ecke kommen könnte. Etwas, was die bisherige Immunität austricksen kann. Das Problem dieser Pandemie ist ja auch: Wir haben keine Erfahrungswerte, auf die wir zurückgreifen können. Wir verstehen zwar schon ein bisschen was von Virusevolution, aber das heißt nicht, dass wir alle diese jetzt auftretenden Entwicklungen vorhersagen oder erklären können.
Was sollte jetzt passieren?
Wenn es eine gute Nachricht gibt, dann diese: Wir wissen, was an nicht-pharmazeutischen Maßnahmen funktioniert. Es sind im Prinzip die gleichen wie bisher und wirksam gegen alle aerosolübertragenen Viren: Kontaktreduktion, FFP2-Masken, lüften. Je ansteckender das Virus ist, desto konsequenter muss man sie natürlich anwenden. Das Problem ist halt, die Maßnahmen, die gut schützen, sind so wenig mit unserem Leben kompatibel.
Kontaktreduktion würde den Omikron-Ausbruch nur verzögern. 100 Tage dauert es, laut Hersteller, bis der Impfstoff gegen Omikron angepasst ist. Drei lange Monate.
Ja, das ist richtig. Dennoch ist Zeit zu gewinnen auch bei Omikron extrem wichtig. Gesellschaftlich gibt es ein Problem, wenn sehr viele Menschen gleichzeitig krank werden. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der Krankheitsverlauf bei Omikron etwas milder ist als bei Delta, wird dies an der Gesamtdynamik nicht viel ändern.
Wenn zeitgleich viele Menschen auch nur einen fieberhaften Infekt haben oder in Quarantäne müssen, fallen sie aus. Nicht nur Intensivstationen werden überfordert sein, sondern auch Arztpraxen, Schulen, Arbeitsstätten. Dann werden auch Busfahrer, Polizisten und die Müllabfuhr nicht arbeiten können. Die Auswirkungen werden überall zu spüren sein.
Sie schildern, wie dramatisch Omikron werden könnte – gleichzeitig twittern Sie, dass sie der Ausweg aus der Pandemie sein könnte.
So ansteckend wie Omikron ist, ist es wahrscheinlich, dass früher oder später jeder von uns infiziert wird, auch die Geimpften. Wenn das Virus in den kommenden Wochen sämtliche Immunitätslücken schließt, kann ich mir vorstellen, dass sich das Infektionsgeschehen danach auf einem endemischen Level einpendelt, weil wir dann einfach keine Immunnaiven mehr haben werden, also Personen ohne Abwehrkräfte. Jede Kurve, die steigt, geht auch wieder runter.
Das geht natürlich einher mit einem hohen Preis. Es wird heißen, dass auf dem Weg dahin sehr viele krank und viele auch sterben werden, weil die Infektionen innerhalb ganz kurzer Zeit akkumulieren. Was ich da beschreibe, liegt in der Biologie des Virus, in seiner hohen Ansteckungsfähigkeit. Es handelt sich für uns aber nicht um eine gute Nachricht.
Die Strategie der neuen Ampelregierung unter Gesundheitsminister Karl Lauterbach lautet: Impfen, boostern, impfen. Wird das reichen?
Impfen ist auf jeden Fall total wichtig. Denn obwohl es schon bei Delta zu Impfdurchbrüchen kam, verpufft die Wirksamkeit der Impfung wohl auch bei Omikron nicht völlig. Die Antikörperantwort ist wahrscheinlich bei Omikron weniger wirksam, aber niemand geht davon aus, dass wir wieder bei null beginnen. Und die Immunantwort besteht ja nicht nur aus Antikörpern: Erste Studien zu T-Zellen belegen, dass sie weniger wählerisch dabei sind, ob sie Delta oder Omikron bekämpfen.
Aber selbst wenn sich morgen alle impfen und boostern lassen, käme der Schutz zu spät.
Ich würde es dennoch jedem empfehlen. Aber ja, Sie haben recht. Nur impfen wird nicht reichen.
Was dann? Wir haben doch schon fast überall 2G …
2G, 3G ist meines Erachtens bei Omikron weitgehend hinfällig. In Norwegen gab es eine Weihnachtsfeier, bei der sich trotz Impfung und negativer Tests vor Beginn über 70 Prozent der Anwesenden an einem einzigen Infizierten angesteckt haben. Das ist Wahnsinn. Ich denke, um die Welle zu brechen, werden wir um massive Kontakteinschränkungen nicht herumkommen. Das sehen wir bereits in anderen Ländern, die keine andere Möglichkeit mehr sehen als einen Lockdown.
Das sagen Sie kurz vor Weihnachten!
Einen schlechteren Zeitpunkt gibt es sicherlich nicht. Ich will und kann hier keine politischen Empfehlungen geben. Aber aus virologischer Sicht kann ich nur sagen: So ansteckend wie diese Variante ist, sollte jeder überprüfen, welches persönliche Treffen, welcher Restaurantbesuch, welche Urlaubsreise jetzt wirklich unbedingt notwendig ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene