Niedrige Impfquote in Rosenheim: Hier gibt's koa Pandemie
Markus Reum pflegt im bayerischen Rosenheim Covidpatienten. Er hat Menschen erlebt, die noch schwer erkrankt die Coronapandemie leugnen.
M arkus Reum kann sich noch gut erinnern. Es war ziemlich am Anfang der Pandemie und er befand sich in dem Glauben, man könne doch mit allen Menschen reden. An einem Samstag war er mit seinen beiden Kindern in der Rosenheimer Innenstadt beim Einkaufen, als er an einer dieser wöchentlichen Demonstrationen vorbeikam, Coronaleugner, Querdenker, Impfgegner, so genau weiß er es auch nicht mehr, jedenfalls waren sie dagegen. Gegen den vermeintlichen Mainstream, der sich in blindem Vertrauen in die Regierenden und die von ihnen kontrollierte Presse für deren Experimente einspannen lässt. Gegen Bill Gates, gegen Angela Merkel. Das Übliche halt.
Reum setzte seine Kinder schnell ins Auto und ging noch mal zurück. „Ich hatte damals noch so viel Motivation, dass ich das Gespräch gesucht habe.“ Umsonst. „Ich bin auf so viel aggressive Gegenwehr gestoßen. Die haben mich gar nicht wirklich zu Wort kommen lassen, sondern mehr oder weniger ausgelacht.“ Eine neue Situation für Reum. Er halte sich ja schon für ziemlich weltoffen, aber die Ansichten dieser Menschen seien so völlig konträr zu seinen gewesen – und sie hätten so gar keine Gesprächsbereitschaft gezeigt. „Das war schon ein bleibendes Erlebnis.“
Nun ist Markus Reum keiner, der nicht wüsste, wovon er redet, wenn es um die Gefahr geht, die von Corona ausgeht. Was in Rosenheim los ist – pandemisch gesehen – bekommt er Tag für Tag hautnah mit. Reum ist Krankenpfleger, arbeitet seit 2003 am Klinikum in Rosenheim, dem größten Krankenhaus im regionalen Klinikverbund RoMed, seit zwei Jahren ist er Stationsleiter auf der internistischen Intensivstation.
Seit dieser Begegnung in der Innenstadt, so erzählt Reum, habe er für sich entschieden: Auf solche Diskussionen wird er sich nicht mehr einlassen. Mögen sie doch reden und denken, was sie wollen, mit Argumenten seien diese Menschen ohnehin nicht mehr zu erreichen. Davon ist Reum mittlerweile überzeugt. Seine Lebenszeit ist ihm für solche Auseinandersetzungen zu wertvoll. Und seine Nerven sind an anderer Stelle gefragt.
Arbeit auf der Intensivstation
41 Jahre ist der gebürtige Chemnitzer alt, groß gewachsen, Glatze, Ohrring, hinter der Maske macht sich ein blonder Vollbart bemerkbar. Reum sitzt in einem Konferenzsaal im Verwaltungsgebäude des Klinikums. Ein langgezogener Konferenztisch zu Füßen eines riesigen Bildschirms. Hier lässt es sich mit ausreichend Abstand sitzen. Reum hat sich an diesem Vormittag kurz mal aus der Station abgeseilt, er trägt die blaue Klinikkleidung. Die Sieben-Tage-Inzidenz der Stadt liegt an diesem Tag bei 483, Tendenz fallend. Es ist noch nicht lange her, da lagen Stadt und Landkreis Rosenheim noch deutlich über 1.000 und standen gemeinsam mit ein paar anderen Landkreisen an der unrühmlichen Spitze der Corona-Hitliste.
Momentan liegen drüben auf Reums Station sechs Coronapatienten, eine Etage drüber in der operativen Intensivstation sind es noch einmal so viele, im gesamten Haus werden derzeit 47 Covidpatientinnen und -patienten behandelt. Natürlich sind darunter auch Impfdurchbrüche, doch der Großteil von ihnen ist ungeimpft; genaue Angaben hierzu macht das Klinikum nicht.
Auf der RoMed-Facebook-Seite versucht man, etwas Adventsstimmung zu versprühen, etwas Normalität. Einen schönen Advent wünscht man den Leserinnen und Lesern, gibt sich betont locker. „Habt ihr schon eure Stiefel geputzt?“, heißt es in einem Beitrag zuvor: „Wer vom Nikolaus heute ein kleines Geschenk oder Süßigkeiten haben möchte, der war dieses Jahr hoffentlich auch schön brav. Nicht, dass der Kramperl noch die Rute zückt …“ Doch natürlich ist der Kramperl – sprich: der Krampus, dieser im Alpenraum gefürchtete Begleiter des Nikolaus – aktuell die kleinste Sorge der hier Beschäftigten.
Die Belastung für das Personal ist enorm. „Man steht im Dauerfeuer“, erzählt Markus Reum. „Wie es jetzt in den letzten zwei Jahren gelaufen ist, das nagt einfach an uns allen.“ Es fange ja schon bei der Hygiene an. Etwa die Hälfte der internistischen Intensivstation ist Covid-Bereich, gewissermaßen ein hygienischer Hochsicherheitstrakt. Wer hier arbeitet, muss sich erst in die entsprechende Montur werfen. Ganzkörperanzug mit Kapuze, Handschuhe, in der Regel zwei übereinander, dazu die wenig atmungsfreundliche FFP3-Maske und darüber das Visier. „Da stehst du in deinem eigenen Schweiß und hast Durst, kannst schlecht atmen und pflegst Patienten. Das ist körperlich schon extrem beanspruchend.“
Acht Stunden ohne Wasser und Toilettengang
Denn bis auf eine kurze Pause verbringt das Pflegepersonal die gesamte knapp achtstündige Schicht im Covid-Bereich und in dieser Kleidung. „Ich bin da drin gefangen“, sagt Reum. Mal kurz auf die Toilette? Fehlanzeige. Einen Schluck Wasser trinken? Ist nicht. Mal kurz am offenen Fenster die Maske abnehmen und tief durchatmen? Keine Chance. „Wir haben schon auch Kollegen gehabt, die dann kollabiert sind.“ Selbst ein kleiner Juckreiz kann zur Tortur werden, wenn man weiß, dass es noch Stunden dauert, bis man sich hinterm Ohr kratzen kann.
Und dazu kommt die Belastung durch die eigentliche Arbeit. Zu Beginn der vierten Welle wussten sie zum Teil nicht mehr, wohin mit den Kranken. Operationen, sofern nicht akut und unbedingt notwendig, waren ohnehin alle abgesagt, sind es bis heute. Patienten wurden verlegt, weil für sie einfach kein Platz mehr da war. Sie kamen dann in andere Krankenhäuser in der Region, aber auch nach Lübeck wurden sie ausgeflogen.
Ende November sandte man dann aus den Intensivstationen in Rosenheim einen Hilferuf: Abends zum Schichtwechsel schalteten die Pflegekräfte die LED-Beleuchtung in den Zimmern der Stationen für ein paar Minuten auf Rot. Wer unten auf der Straße vorbeiging, dem bot sich ein beeindruckendes Bild. „Wir wollten damit zeigen: Auch wenn die Krankenhaus-Ampel auf Grün steht, bei uns ist sie gefühlt auf Rot“, erklärt Markus Reum.
Und er selbst? Ist er bereits am Limit? „Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, wo mein Limit ist. Aber ich weiß, dass es Phasen gab, in denen sich 80 Prozent meiner Gedanken um die Arbeit gedreht haben und in denen ich viele andere Dinge habe schleifen lassen.“ Ein Fernstudium hatte Markus Reum vor Corona begonnen. BWL. Das hat er bald abgebrochen. Auch für die Familie würde er sich mehr Zeit wünschen. Immerhin: Erklären muss er zu Hause nichts. Seine Frau arbeitet selbst als Krankenschwester, kennt die Situation. Dass sie das letzte Mal so richtig loslassen, entspannen konnten, ist schon eine ganze Weile her. Markus Reum weiß noch genau, wann das war: im Juni. Da haben sie am Gardasee Urlaub gemacht.
Inzwischen fällt die Inzidenz. Mit entsprechender Verzögerung bemerkt Reum seit ein, zwei Tagen auch eine leichte Entspannung auf seiner Station. Aktuell sind sogar zwei Betten im Covid-Bereich frei. Doch über Weihnachten, befürchtet der Pfleger, könnten die Zahlen wieder ansteigen – erst die Inzidenz, dann – zwei, drei Wochen später – die der belegten Intensivbetten. Omikron wird die Station füllen. Und mit der Befürchtung ist er nicht allein. Im Nachbarlandkreis Miesbach hat das Landratsamt vorsorglich eine Leichensammelstelle eingerichtet, um notfalls Krematorien und Bestattungsinstitute zu entlasten.
60 Prozent Geimpfte
Die hohe Sieben-Tage-Inzidenz im Süden Bayerns korreliert direkt mit einer anderen Zahl – der der Ungeimpften. Nur rund 60 Prozent der Bevölkerung in der Region Rosenheim sind laut Wolfgang Hierl, dem Leiter des Gesundheitsamts Rosenheim, geimpft. Und die wöchentlichen Zuwächse seien minimal, klagte er vor wenigen Tagen im Oberbayerischen Volksblatt. „Das ist für einen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen viel zu gering.“ Weiterhin steckten sich täglich bis zu 450 Menschen mit dem Virus an.
60 Prozent. Das ist nicht viel, der Bundesdurchschnitt liegt bei 70, in Bremen sind es sogar über 80 Prozent. Bleibt also immer wieder die Frage: Warum? Warum verweigern sich just hier so viele Menschen dem schützenden Vakzin? Warum flog jüngst ausgerechnet auf einem Bauernhof keine zehn Kilometer nördlich von Rosenheim eine illegale Schule auf, die dem Querdenker-Milieu zugeordnet wird?
Michael Blume hätte da eine Antwort: Die Berge sind schuld. Okay, Blume formuliert es nicht ganz so schlicht. Er sagt stattdessen: „In Gebirgsregionen organisieren sich Menschen über ihre jeweiligen Sprachen selbst. Sie werden skeptisch gegenüber Obrigkeiten und Wissenschaften, und das ist eine sehr positive Sache, die aber leider oft auch umschlagen kann in Verschwörungsglauben.“
Die Bergbewohner und die Pandemie
Die „Alpenraum-Medien-These“ nennt sich der Ansatz, ein ganzes Seminar am Karlsruher Institut für Technologie bestreitet der Politik- und Religionswissenschaftler mit dem Thema. Die Berge – oder vielleicht sollte man eher sagen: die Täler – haben demzufolge die Kommunikation der Menschen über Jahrtausende nach innen fokussiert. „Das heißt“, erklärt Blume am Telefon, „die Leute haben sich auf der Basis von Sprache selbst organisiert und verwaltet und dabei ein föderales, aber eben nicht unbedingt liberales Gesellschaftsverständnis entwickelt.“
Nirgends auf der Welt seien staatliche Einheiten so klein wie im Alpenraum, wo 80 Millionen Menschen in 48 Regionen, Bundesländern und Kantonen mit eigenen Parlamenten lebten. „Das sind natürlich, wenn wir das Erzgebirge noch dazunehmen, genau die Regionen, wo wir heute auf die niedrigen Impfquoten kommen.“
In dem sehr eigenen Gesellschaftsverständnis dieser Regionen sieht Blume die Skepsis gegenüber den Vorschriften, die von außen kommen, begründet. „Da kommt hier die Staatlichkeit mit ihren Gesetzen, dort die Wissenschaft mit ihren Ansprüchen, die Medizin. Und jetzt auch noch die Hauptstadtpresse.“ Die prompte Reaktion: Wir lassen uns von denen doch nichts vorschreiben.
Für Michael Blume, der auch Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg ist, erklärt die These eine ganze Reihe von Phänomen, die im Alpenraum eine besondere Ausprägung erfahren haben und die sich jetzt in einer Melange mit Querdenkertum, kruden Verschwörungstheorien und Impfablehnung wiederfinden: Naturromantik, Esoterik, Anthroposophie bis hin zu rechtsradikalem und antisemitischem Gedankengut.
So gehört der Austrofaschismus ebenso dazu wie die Kinderromanfigur Heidi, deren Mythos Michael Blume besonders bezeichnend findet: „Auf den Bergen ist die Gesundheit, und nicht nur Heidi, die mit der Natur eng verbunden ist, wird dort ganz gesund, sondern auch die Romanfigur Klara Sesemann, die in Frankfurt noch an den Rollstuhl gefesselt ist und von Schulmedizinern erfolglos behandelt wird, lernt dort wieder zu laufen.“ Etwas Bergluft, mehr braucht es nicht, die Natur wird’s schon richten. Ansichten, denen auch Impfgegner nachhängen.
Klingt natürlich hart. Als seien die Bewohner des Alpenraums allesamt etwas zurückgebliebene Bergbewohner, die noch nie den Blick über den eigenen Talrand gewagt hätten. Aber genau das wäre eine Interpretation – Blume nennt sie die „Hinterwäldlerthese“ –, gegen die sich der Wissenschaftler ausdrücklich verwahrt. „Es geht nicht darum, dass die Leute rückständig wären oder nichts mitbekommen von der Welt. Im Gegenteil: Sie sind Händler. Sie haben mit der ganzen Welt zu tun. Sie bestehen jedoch auf föderale Selbstverwaltung, das kann eine sehr liberale Ausprägung haben. Daneben gibt es aber leider auch ganz starke verschwörungsmythologische Strömungen.“ Kurz: Auf den Bergen wohnt die Freiheit, wie der Bayer singt. Aber eben auch der Wahnsinn.
So habe er festgestellt, erzählt Blume, dass allein die Tatsache, dass der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité komme und Hochdeutsch spreche, es schwierig mache, mit seiner Expertise zu vielen Leuten in den Gebirgsregionen durchzudringen. „Da heißt es dann, die aus der Hauptstadt, die wollen uns jetzt auch noch vorschreiben, wie unser Immunsystem funktioniert.“ Monatelang habe dann im Ranking der Suchanfragen „Christian Drosten Jude“ weit oben gestanden. Was wiederum zur jüngsten Pressemitteilung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern passt, die allein in den ersten beiden Dezemberwochen 15 antisemitische Vorfälle mit Coronabezug gezählt hat.
Jeden Mittwoch demonstrieren die Impfgegner
Würde Krankenpfleger Markus Reum jetzt aufstehen, das Zimmer verlassen, den Gang des Verwaltungsgebäudes bis zum Ende gehen, zur Tür raus und einmal kurz um die Ecke, stünde er auf dem Rosenheimer Ichikawa-Platz. Keine halbe Minute bräuchte er dazu. Die Sonne kämpft sich hier gerade durch den Nebel, wirft ihre Strahlen auf die kargen Silhouetten der Kirschbäume, die auf dem ansonsten gepflasterten Platz gepflanzt wurden und die längst ihr Laub haben fallen lassen. Ein Mann kreuzt mit seinem Hund den Platz, sonst ist hier an diesem Morgen nichts los.
Es ist ein Platz der Freundschaft, benannt nach der japanischen Partnerstadt von Rosenheim. Seit Wochen ist es allerdings vor allem der Platz der Querdenker und Impfgegner. Jeden Mittwochabend treffen sie sich hier, mitunter zu Hunderten, und demonstrieren gegen ihre Feindbilder – die Politik, die Medizin, die „Lügenpresse“.
Als er das erste Mal auf dem Heimweg von der Arbeit an der sogenannten Mahnwache vorbeigefahren sei, sei er schon ziemlich erschrocken, erzählt Reum. Wie diese Menschen da im Dunkeln mit ihren Fackeln gestanden hätten, das habe schon etwas einen Ku-Klux-Klan-Charakter gehabt und auf den ersten Blick sehr beängstigend gewirkt. Gleichzeitig macht ihn die Veranstaltung allerdings auch wütend. „Am liebsten“, sagt er, „würde man da schon mal einen packen, auf die Station mitnehmen und sagen: ‚Schau’s dir an!‘ Geht halt nicht.“
Geht nicht. Und bliebe vielleicht auch ohne Wirkung. Denn es gibt sie ja, die Impfgegner, die sich die Intensivstation von innen ansehen – als Covidpatienten. Manche von ihnen hätten zwar nach ihrer Genesung eine neue Sicht auf die Dinge, doch das sei keineswegs der Normalfall. Gerade zu Beginn der vierten Welle, erzählt Reum, seien Aggression und Mangel an Einsicht besonders groß gewesen. „Unsere Oberärztin kommt dann immer wieder kopfschüttelnd aus den Krankenzimmern und sagt: Ich weiß gar nicht mehr, was ich denen noch erzählen soll, die glauben mir einfach nicht.“
Leugnen bis kurz vor dem Tod
Einmal habe ein junger, schwer erkrankter Coronapatient sogar Pflegekräfte bedroht und versucht, aus der Station zu flüchten. In seinem Zustand sei er zwar nicht weit gekommen; bevor er zusammengebrochen sei, habe er aber noch einem Pfleger ins Gesicht gespuckt und zwei Kolleginnen mit Tritten verletzt. Man kann nur mutmaßen, wie viel Professionalität nötig ist, um in einem solchen Fall ruhig zu bleiben. „Wir haben immer den Patienten im Blick“, erklärt Reum. „Da ist ein Mensch, und der braucht jetzt unsere Hilfe – und sei er auch noch so quer im Kopf.“
Von Schwierigkeiten mit teils radikalen Impfgegnern berichtet auch der Rosenheimer Arzt Martin Schmid. Er hat einen Bericht über die örtlichen Impfbemühungen verfasst und ihn sogar als 47 Seiten starkes Büchlein herausgebracht. Darin beschreibt er, wie viel Mut und Kraft es erfordere, trotz dieses Widerstands die Impfkampagne weiter energisch voranzutreiben.
Die weisen Aufzeichnungen des Martin Schmid
Mit Martin Schmid hat es dabei eine ganz besondere Bewandtnis: Der Mann ist schon lange tot. Seine Zeilen brachte er vor über 200 Jahren zu Papier. „Bericht über die Schutzpocken-Impfung im Physikatsdistrikte Rosenheim“ nannte er das Bändchen. Passagenweise sind es nur die heute nicht mehr gebräuchlichen Wendungen oder die nicht mehr gängige Orthografie, die auf das Alter der Schrift hinweisen: „Diese wohlthätige Entdeckung“, schreibt Schmid über die damals noch neue Impfmöglichkeit gegen die Pocken, „theilte das Schicksal alles Neuen, das man blos darum, weil es neu ist, verächtlich von sich weiset; ja man wollte sogar bemerken, daß der Vortheil, wenn sich welcher gäbe, vom Nachtheil, der daraus entstünde, verschlungen werde.“
Für die Gegenwehr macht er den „Geist des Volkes“ verantwortlich, „der eine schnelle Metamorphose selten zu ertragen pflegt“. Im Einzelnen führt er unter anderem folgende Hindernisse für die Impfung auf: die „Abneigung gegen alles, was neu ist“, den „religiösen Irrwahn, als würde der Vorsehung und Anordnung Gottes vorgegriffen“, den „Starrsinn der Eltern, und absurde Vorstellung von dem Akte des Impfens“ sowie die „Bosheit übelgesinnter Menschen, die die abgeschmacktesten Berichte von entstanden Unglücksfällen ausstreuten“. Kommt einem nicht ganz unbekannt vor.
Am 26. August 1807 wurde die Pockenschutzimpfung qua königlicher Verordnung für Kinder ab drei Jahren verpflichtend. Bayern war damit das erste Land weltweit, das eine Impfpflicht einführte. „Diese königliche Verordnung“, so der Arzt in Rosenheim, „machte tiefen Eindruck auf die Gemüther, überraschte den Starrsinnigen, und überzeugte den Vernünftigen.“
Eine Erfahrung, aus der man nach Ansicht von Alpenraum-Kenner Michael Blume durchaus lernen kann. Wer jetzt noch seinen Verschwörungstheorien nachhänge, dürfte rational kaum noch zu erreichen sein, meint Blume. Deshalb sei es jetzt angezeigt, eine Impfpflicht durchzukämpfen. „Das wird erst mal heftig, aber dann befriedet es auch.“
Bis dahin werden sich Markus Reum und seine Kolleginnen und Kollegen wohl damit abfinden müssen, dass vor der Klinik Coronaleugner ihre Fackeln entzünden, während sie selbst drinnen versuchen, das Leben der Infizierten zu retten.
An diesem Abend jedoch werden es andere Menschen sein, die auf den Ichikawa-Platz kommen. Eine Vereinigung mit dem Namen „Rückenwind Gesundheitspersonal“ hat zu einer Solidaritätskundgebung aufgerufen, will dem Protest der lautstarken Minderheit endlich etwas entgegensetzen.
Markus Reum und seine Frau haben für den Abend bereits einen Babysitter organisiert.
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