Urteil gegen Sekretärin im KZ Stutthof: Biologie schlägt Strafjustiz

Das Urteil im Stutthof-Prozess ist wegweisend – und führt gleichzeitig ins Leere. Denn knapp 80 Jahre nach dem NS-Staat leben fast keine Täter mehr.

Das ehemalige KZ Stutthof Foto: Jan Dzban/dpa

Neunundsiebzig Jahre, drei Monate und zwölf Tage nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sind die Voraussetzungen für eine Verfolgung der NS-Verbrecher endlich so weit gediehen, wie es wünschenswert ist.

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass, wer in einem KZ gearbeitet hat, auch dann Schuld auf sich geladen hat, wenn er oder sie keine Waffe in der Hand trug, sondern die Massenmorde dienstbeflissen am Schreibtisch und mit der Schreibmaschine begleitete. Das Gericht hat auch klargestellt, dass es nicht unbedingt einer Pistole, einer Schlinge oder des Giftgases Zyklon B bedurfte, um zu morden, sondern dass auch die grausamen Lebensbedingungen für die Häftlinge als Mord zu werten sind.

Dieses Urteil schreibt Rechtsgeschichte und ist zugleich bedeutungslos, jedenfalls soweit es die NS-Täter betrifft. Denn fast 80 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes gibt es keine Täter mehr, die man noch verurteilen könnte. Die Biologie hat die Strafjustiz geschlagen, was so einiges über das Tempo der NS-Aufarbeitung aussagt. Die letzten noch lebenden Beschuldigten sind um die einhundert Jahre alt.

Die meisten Täter blieben unbestraft

Sie werden aller Voraussicht nach davonkommen, so wie das Gros der NS-Täter unbestraft geblieben ist – dank einer schlafmützigen Justiz, die bis zur Jahrtausendwende die allermeisten Beschuldigten laufen ließ. Eine Justiz, die mit der Lüge von der alleinigen Schuld Hitlers, Himmlers und Konsorten aufräumte, passte nicht in die Anfangsjahre der Bundesrepublik.

Wer doch vor Gericht geriet, galt den Richtern, von denen viele zuvor selbst im Dienst der Nationalsozialisten gestanden hatten, oft genug als „Irregeleiteter und Verführter“ und kam mit ein paar Jahren davon – so geschehen 1955 beim Kommandanten des KZ Stutthof, Paul Werner Hoppe, dem Vorgesetzten der jetzt verurteilten Irmgard Furchner.

Das Urteil zeigt, dass sich die Bundesrepublik gewandelt hat

Dennoch hat das Urteil des Bundesgerichtshofs eine weitere Bedeutung über die Rechtsgeschichte hinaus. Es macht gegenüber den Kindern und Kindeskindern der Opfer deutlich, dass sich die Bundesrepublik gewandelt hat. Der Staat entschuldigt die Verbrechen der Nazis nicht länger, er stellt sich nicht schützend vor die Täter. Er verurteilt sie.

Zweitens aber ist dieses Urteil selbstverständlich keines, das man nur auf NS-Straftäter beziehen kann. Auch im Völkerstrafrecht könnte es künftig um furchtbare Lager, grausame Lebensbedingungen und kleine Angestellte, die jene Zustände schaffen, gehen. Und auch dort gilt: Schuld sind nicht nur die hohen Tiere und die bewaffneten Befehlsempfänger, sondern auch diejenigen, die die E-Mails der Mörder bearbeiten und die Zahlungen auf ihre Konten abwickeln.

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Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024

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