Unistadt Chemnitz: Wo bleiben die Wessis?
In Deutschland wird immer mehr studiert, doch die drittgrößte Universität Sachsens verliert Studierende. Auf der Suche nach den Gründen.
Doch seit 2015 hat die Universität mehr als ein Viertel ihrer Studierenden verloren. Und das entgegen dem allgemeinen Trend: Die Zahl der Studierenden in Deutschland stieg insgesamt. Woran liegt das?
Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden
Laut dem Statistischen Landesamt Sachsen hat sich die Zahl der Studienanfänger in Chemnitz sogar halbiert. Besonders auffällig ist der Rückgang der Studienanfänger aus westdeutschen Bundesländern seit 2014 um drei Viertel. Auch andere sächsische Hochschulen verzeichnen Rückgänge, jedoch nicht so stark wie in Chemnitz.
Zwei Ereignisse könnten diese Entwicklung erklären: Ende 2014 und Anfang 2015 entstand Pegida im Osten. Wieder berichteten Medien über Ostdeutschland im Zusammenhang mit Rassismus und Rechtsextremismus. Begriffe wie „Dunkeldeutschland“ und „brauner Osten“ tauchten erneut auf. Der Ruf des Ostens verschlechterte sich. Der Anteil westdeutscher Studienanfänger in Chemnitz sank von 2014 auf 2015 um ein Viertel auf 11,5 Prozent. In ganz Sachsen ging der Anteil um ein Zehntel zurück.
Ausschreitungen 2018 führten zu Rückgang
Im August und September 2018 kam es in Chemnitz zu rechtsextremen Ausschreitungen. Nach dem tödlichen Messerangriff auf Daniel H. – mutmaßlich von drei Asylbewerbern – gab es tagelange Demonstrationen in der Stadt.
Die Stimmung war erhitzt. Zeitungen schrieben von der Aufgabe des Rechtsstaates und von Pogromstimmung. Die Zahl der Erstsemester aus den alten Bundesländern fiel um mehr als ein Drittel auf 7 Prozent. Seitdem ist die Zahl der Studienanfänger aus den alten Bundesländern noch etwas gesunken.
Mario Steinebach, Pressesprecher der TU Chemnitz, erklärt, dass die Zahlen des Statistischen Landesamts Studierende, die zuerst woanders studierten und für den Master nach Chemnitz kommen, nicht berücksichtigen. Der Anteil der Studienanfänger aus den alten Bundesländern liege bei 13 Prozent und sei im Durchschnitt der letzten zehn Jahre nur leicht zurückgegangen.
Es fehlt an Geld
Die sinkenden Studierendenzahlen stellen die Universität vor finanzielle Probleme: In einer internen Mitteilung über den Haushalt 2024/25 wird auf ein drohendes Haushaltsdefizit hingewiesen und dass Stellen nicht mehr nachbesetzt werden. Wegen gesunkener Studierendenzahlen könnten 2,2 Millionen Euro aus einer Zielvereinbarung nicht ausgezahlt werden.
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Westdeutsche Studierende äußern Mitleid mit der Universität. Der 27-jährige Marvin aus Metzingen sagt: „Ich verteidige die Uni, weil sie einen sehr guten Job macht. Sie leidet unter dem schlechten Ruf von Chemnitz.“ Valerie vom Bodensee, die in Chemnitz ihren Master in Psychologie macht, berichtet: „Ich habe die Verwaltung und das Lehrpersonal immer als sehr entgegenkommend erlebt.“ Die 26-Jährige habe an ihrer letzten Universität in Würzburg andere Erfahrungen gemacht.
Beide kamen 2022 nach Chemnitz und berichten, dass die TU nicht ihre erste Wahl war. Valerie witzelte zur Bewerbungsphase, dass sie am Ende in Chemnitz landen könnte, freundete sich aber schnell mit der Stadt an. „Ich habe noch nie so viele kulturelle Angebote besucht wie hier.“
Sie erzählt, dass Freunde und Bekannte nicht immer positiv reagierten: „Da sind ja nur Nazis“ und „Wegen der politischen Lage würde ich da nie hingehen“. Auch sie war erschrocken über das Ergebnis der Europawahl und kann verstehen, dass Leute denken, es sei schwierig, hier zu leben. Manche Reaktionen wie „Dann bauen wir die Mauer wieder auf“ machen sie wütend.
Im Vergleich zum Umland eher links
Marvin hatte keinen guten Start. Als er am ersten Abend in der Innenstadt joggen ging, kam ihm die 250.000-Einwohner-Stadt menschenleer und wie eine Geisterstadt vor. „Das liegt sicher auch an der Altersstruktur, weil die Stadt so alt ist.“ Für ihn war das Masterstudium in Data Science in Chemnitz ein Abenteuer. Niemand aus seinem Freundeskreis war vorher in Ostdeutschland gewesen. Viele wussten nicht mal, wo Chemnitz liegt, man wusste zwar: im Osten, jedoch nicht, ob es in Sachsen liegt.
Johannes findet es inzwischen schön hier und verteidigt die Stadt gegen Vorurteile. „Das entspricht nicht meiner Erfahrung.“ Es gebe viele Projekte und Initiativen. Selbst seine Schwester aus Berlin war überrascht, als sie ihn besuchte. „Man muss erst hier gewesen sein, um zu urteilen.“ Chemnitz sei im Vergleich zum Umland eher links, der Oberbürgermeister ist Sozialdemokrat.
Er kritisiert jedoch die schlechte juristische Aufarbeitung der Ausschreitungen von 2018. Mehr als fünf Jahre nach dem Messerangriff läuft am Landgericht Chemnitz die juristische Aufarbeitung des Geschehens weiter. Solche Nachrichten könnten Studienanfänger abschrecken, glaubt Johannes.
Johannes Fromm, 25, aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, ist für das Studium nach Chemnitz gezogen.
FOTO: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
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