Ukrainisches Leben in Dresden: Aneinander vorbei
In Dresden verläuft ein Riss zwischen integrativ denkenden Sowjetnostalgikern und Geflüchteten aus der Ukraine. Auch die Stadtbewohner sind gespalten.
E in gutes Jahr nach dem russischen Überfall fällt es in einer Halbmillionenstadt wie Dresden nicht leicht, eine ukrainische Community zu identifizieren. Schon der erste Anlaufpunkt scheint sich zu verstecken. Unweit vom Bahnhof Mitte, gegenüber dem wuchtigen historischen Gewerkschaftshaus, fallen an einem der gesichtslosen Nachwendebürohäuser Schilder des Kolibri e. V. kaum auf.
Dabei wuselt es dort ständig auf der Treppe und erst recht auf den engen Fluren des Kinder- und Elternzentrums. Ruhepunkte zwischen Unterrichtsräumen, Bibliothek und Büro bilden die wartenden Mütter, während ihre Zöglinge in den Räumen elementaren Vorschulunterricht, Sprachkurse oder musisch-künstlerische Ausbildung erhalten. Sie sprechen gedämpft, meist auf Russisch oder Ukrainisch.
Der bunte Eindruck im Büro, wo Souvenirs aus aller Welt neben ukrainischen, russischen oder deutschen Fähnchen stehen, verstärkt sich hinter den anderen Zimmertüren. Derzeit proben alle ganz speziell für ein gemeinsames Fest, also einen „Prasdnik“ am 11. März, das Vereinigungsfest eines Vereins über alle Unterschiede hinweg.
Im Musikzimmer ist eine Kindergruppe etwa im Schulanfängeralter um das Klavier versammelt. Der Kommandoton, mit dem sie dirigiert werden, erinnert an den in sowjetischen Schulen und auch an Musikschulen üblichen Drill.
Die gute alte Zeit in der SU
Doch dann überrascht der Text: „Ukraina nasha mati – Ukraine, unsere Mutter“ klingen die von einem sonoren Bass geführten Kinderstimmchen. Ein patriotisches ukrainisches Lied im Marschtritt! Der 73-jährige Musiklehrer, Pianist und Komponist aus Kyjiw hält für den Nachwuchs im Exil die Heimatbindung aufrecht.
Eine Tür weiter, bei der Sprachlehrerin Olga, wartet der Kontrast. Eben noch hatte ihre für die Vorschulkinder tätige Kollegin energisch den Kopf geschüttelt, als sie nach möglichen Spannungen mit Kindern deutsch-russischer Spätaussiedler und jüdischer Kontingentflüchtlinge gefragt wurde. „Es gibt keine Spaltung, wir sprechen alle Russisch!“
Ein deutscher Vater über den Verein kolibri e. V.
Auch Olga spaltet nicht, zeigt aber auf, welche Breite von Prägungen Kolibri ausbalancieren muss. Sie berichtet von einem kleinen ukrainischen Mädchen, das im Vorjahr von seinen geflohenen Eltern gebracht wurde. Als es erfuhr, dass andere Kinder hier russische Eltern haben, entfuhr es ihm: „Ich hätte sie getötet!“ Das Mädchen blieb künftig fern. Olga hat sogar Verständnis dafür, dass Kinder in diesem Alter nicht nur ihre Eltern verteidigen, sondern auch das, was sie von ihnen hören.
Dieser Hass aber entsetzt sie auch, und zwar aus einem bestimmten anderen Grund. „In der Sowjetunion gab es in meiner Jugendzeit keinen Unterschied nach Herkunft!“ Im Jahr 2000 kam sie aus Kasachstan mit ihrem russischen Mann nach Deutschland. Ihr Vater war Ukrainer, die Mutter deutschstämmig aus einem Dorf bei Luhansk. Und ihr Sohn ist mit einer belarussischen Frau verheiratet.
Unerträgliche Putin-Bewunderung
Der früher einigenden oder vereinheitlichenden Zeit trauert sie nach. „Sollen wir uns jetzt mit Messern zerschneiden?“ Dass Putin und sein Regime selbst für eine neue Todfeindschaft zwischen ehemaligen Brudervölkern gesorgt haben, kommt ihr nicht in den Sinn.
Was sie als „Blick von der Seite“ einer Besserverstehenden bezeichnet, ist vielmehr unüberhörbare Putin-Verehrung. Er habe versucht „zusammenzuhalten, was in den 1990ern in Fetzen gerissen wurde“. Das sei für Russland gut. „Putin ist schon ein Krieger“, sagt sie bewundernd.
Nach der russischen Invasion in der Ukraine haben wegen ähnlicher Einlassungen einzelne deutsche Eltern ihre Kinder bei Kolibri wieder abgemeldet, obschon viele, wie ein Vater, von den „wirklich wunderbaren Lehrkräften“ speziell im Russischunterricht begeistert waren. „Die Diskussionen und Äußerungen zu Putin unter den Eltern sind für uns nicht länger zu ertragen“, sagte der Vater damals.
Der Geist von Kolibri pegelt solche Spannungen aus. Im Tanzsaal zum Beispiel, wo die schon etwas Größeren eine poppige Choreografie zu Musik von Michael Jackson und damit dessen Hüftknick proben. Die junge Leiterin der Tanzgruppe kommt wie fünf der zwölf Kinder aus der Ukraine.
Es gibt nicht nur eine Identität
„Der Umgang mit Menschen, die Kinder sind uns das Wichtigste“, bekräftigt mit der ihr eigenen Vehemenz die Vereinsvorsitzende und Musiklehrerin Galina Jefremova. Längst ist sie eine vitale Rentnerin, aber auf sie geht hier eine künstlerische Jugendgruppe zurück, die zunächst beim Deutsch-Russischen Kulturinstitut wenig gefördert worden war.
Auch von der Stadt Dresden gab es anfangs nur ein paar Tausend Euro, bis Kolibri ein Domizil fand, sich etablierte und heute mit deutlich höheren Summen gefördert wird. So wirksam, dass das Begegnungszentrum ab dem kommenden Jahr in das Kulturkraftwerk Mitte umziehen und zum Träger der Villa der Kulturen avancieren wird.
Jegliche Polarisierung würde die integrativen Intentionen dieses Begegnungszentrums konterkarieren. „Menschen besitzen nicht nur eine Identität“, lautet ein Leitsatz von Geschäftsführerin Kristina Daniels. Die in Belgrad geborene promovierte Slawistin und Osteuropahistorikerin wuchs in Süddeutschland auf und hat viele Jahre sowohl in Moskau als auch in Kyjiw gearbeitet. „Politik und Religion stehen nicht im Vordergrund, aber wir positionieren uns klar gegen diesen Krieg“, ergänzt sie.
„Wer soll jetzt der oder die Schlechte sein?“, fragt Galina Yefremova, die selbst eine sehr mehrdeutige Herkunft hat: Geboren als Jüdin in Russland und ab dem ersten Lebensjahr in der Ukraine aufgewachsen, ist auch ihre Identität nicht eindimensional.
Der Traum von der Goldenen Generation
Kolibri versucht Ähnliches wie die Jüdische Gemeinde zu Dresden, mit der es wegen der Kontingentflüchtlinge eine enge Verbindung gibt. Schon seit 2014 gleicht man dort die Spannungen zwischen Ukrainern und Russen durch die Besinnung auf das gemeinsame Judentum aus, seit einem Jahr auch durch die gemeinsame Hilfe für Flüchtlinge.
Entsprechend werden die beiden Damen der Leitung nicht müde, auf die Vielfalt und Internationalität von Kolibri zu verweisen. Afrikanische Männer kämen her, um Russisch zu lernen, weil sie in eine Russin verliebt sind. Es gebe indonesische, afghanische oder iranische Gruppen.
Die Jugendfilmgruppe hat einen vielbeachteten 40-minütigen Spielfilm über latenten Antisemitismus im Schulalltag gedreht. Einer der Hauptdarsteller ist Malik, Sohn tschetschenischer Flüchtlinge. „Wir arbeiten für die Zukunft des Landes, für eine Goldene Generation, die viele Sprachen spricht“, schwärmt Galina Yefremova.
Unter den geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern sind integrative Ausgleichsbemühungen verständlicherweise seltener anzutreffen. Ausgerechnet am 7. November, an dem nach dem Gregorianischen Kalender die Sowjetunion den Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 feierte, eröffnete im Vorjahr ein Ukrainisches Haus in Dresden.
Ukrainisches Haus im Keller
Ein wenig hoch gegriffen wirkt die Bezeichnung für den großen Raum plus Vorraum im Souterrain, zusammen etwa 200 Quadratmeter. An der Decke verlegte Kabel- und Lüftungskanäle verstärken den Kellereindruck. Wie ein Raumteiler wirkt ein Regal mit etwa 400 ukrainischen Büchern für jedes Alter. An den Wänden hängen Collagen, Symbole der Zerrissenheit.
Dafür kann dieser neue Ukrainetreff mit umso noblerer Lage glänzen. Im Untergeschoss des QF-Einkaufsquartiers an der Frauenkirche gelegen, soll es erklärtermaßen auch der Begegnung mit Dresdnern dienen. Das Management des Einkaufscenters stellt die Räume vorerst kostenfrei bis Oktober 2023 zur Verfügung. Die Stadt übernimmt für ein Jahr die Betriebskostenpauschale von monatlich 1.300 Euro netto. Nur den elektrischen Strom muss der Trägerverein Plattform e. V. selbst bezahlen.
Doch dessen Wirken hier unten beobachten zu können, erweist sich als schwierig. Immerhin waren zum Jahreswechsel 8.861 Ukrainer in Dresden registriert. Die Glastüren des Ukrainischen Hauses aber bleiben meistens geschlossen. Nur alle paar Tage öffnen sie sich für einen Entspannungskurs oder einen bildkünstlerischen Workshop. Man kann dann junge Frauen beobachten, die einzeln ankommen, insgesamt kaum mehr als zehn. Deutsch spricht keine von ihnen.
Dafür geht es zwei Tage vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns beim deutsch-ukrainischen Stammtisch umso lebhafter zu. Etwa 40 Gäste jeden Alters sind gekommen. Bei der Einzelvorstellung stellt sich heraus, dass sie fast paritätisch zuzuordnen sind. Nach zweisprachiger Moderation finden sich die Gäste an fünf Tischen bei einem Pappbecher Bier oder Saft ein. Die Stimmung bleibt aber gedämpft und tendiert eindeutig contra Russland, obschon einige Teilnehmer schon vor vielen Jahren aus der Ukraine gekommen waren.
Steht Putin in zehn Jahren vor Berlin?
Nadija zum Beispiel, um die vierzig, winkt nur ab, wenn sie von der Trauer über die aufgelöste Sowjetunion hört. „Die Sowjetunion war eine Illusion“, meint sie mit Blick auf die seit 1922 immer schwelende Nationalitätenfrage. Sie kann sich wie alle Geflohenen hier überhaupt nicht über konkrete deutsche Hilfsbereitschaft beklagen, obschon die Sachsen zuerst für billiges Gas demonstrierten. Sie lebt bei Freunden im 20 Kilometer entfernten Dippoldiswalde.
Gert, ein Ingenieur, der mit seiner Firma länger als ein Jahrzehnt Kontakte mit der Ukraine pflegt, hat schon vor der Krim-Annexion eine bestimmte Stimmung dort erlebt: „Putin kommt, es ist nur die Frage, wann.“ Die Fernsehauftritte eben dieses Putin beobachtet er genau, insbesondere dessen Körpersprache. „Ich frage mich, ob wir in zehn Jahren nicht vor demselben Problem stehen wie die Ukraine“, orakelt er und denkt dabei an russische T72-Panzer, auf denen „Nach Berlin“ steht.
Hellwach spricht die 31-jährige Alexa, die hier von einer Modelagentur angeworben wurde. Zu Hause, im mittlerweile russisch besetzten Donbass, saß sie an leitender Stelle einer Oblastverwaltung. „Bei Rückkehr droht mir der Tod“, muss sie eine Träne unterdrücken. Gern würde sie auch hier zum Beispiel in der Staatskanzlei arbeiten.
Auch Alexa lobt geradezu überschwänglich die sächsische Hilfsbereitschaft und lässt sich davon nicht durch die russlandfreundlichen Demonstrationen abbringen. Ungeachtet gesellschaftlicher Zerrissenheit imponiert ihr hier besonders die funktionierende Ordnung, kein Einzelfall unter Flüchtlingen.
Ein Abbild der ukrainischen Gesellschaft
Ratlos und kopfschüttelnd aber reagiert Alexa, als sie von den Animositäten zwischen Plattform e. V. und dem Kolibri-Begegnungszentrum erfährt. Auch das zu Plattform gehörende Ukrainische Koordinationszentrum rückt den Interkulturellen Verein in die Nähe Moskaus.
Tetiana Ivanchenko, Journalistin und Vorsitzende des Ukrainischen Vereins Plattform
Der lange Arm des Krieges hat offenbar ein Umgangsproblem radikalisiert, das lange kein offenes mehr war. Ein schwelendes Misstrauen zwischen denen, die den integrativen Gedanken über alles stellen, und jenen, die sich spätestens seit 2022 als Kriegspartei herausgefordert fühlen.
Hinzu kommt das Gefühl einer gewissen Ungleichbehandlung wegen der guten institutionellen Förderung der „Konkurrenz“, während die Mitglieder von Plattform e. V. und das Koordinationszentrum bis zur Erschöpfung ehrenamtlich arbeiten.
Vorstandsvorsitzende ist die junge promovierte Wissenschaftlerin und Journalistin Tetiana Ivanchenko. Vor fünf Jahren kam sie für ein journalistisches Projekt und ihre Promotion nach Berlin – und blieb. Für ein Treffen hat sie keine Zeit. Aber in geschmeidigem Deutsch beschreibt sie schriftlich die Situation der ukrainischen Community in Dresden, die in ihrer Heterogenität ein „Abbild der Gesellschaft in der Ukraine“ sei.
Vermeintlich „prorussisch“
Auf die heikle Frage nach dem Verhältnis zur Dresdner Stadtgesellschaft wie auch zu vermeintlich konkurrierenden Institutionen angesprochen, antwortet Tetiana Ivanchenko ausweichend, aber vielsagend. Der Vorstand habe beschlossen, sich dazu nicht zu äußern, und möchte „nicht in eine für uns unerwünschte Diskussion hineingezogen werden“.
Und sie fügt erklärend hinzu: „Wir begegnen heute schon neben der sehr großen Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung auch unangenehmen Vorurteilen.“
Deutlicher wird bei aller Freundlichkeit der ukrainischstämmige Pfarrer Bohdan Luka, der seit 2004 in den sächsischen und thüringischen Großstädten die ukrainischen Christen der griechisch-katholischen Kirche betreut. In Dresden ist der liebenswürdige Mann mit dem rundlichen Gesicht sehr populär, wird von seinen Landsleuten nur „Vater Luka“ genannt. Auf Kolibri angesprochen, ist aber von der Bergpredigt nach Matthäus 5 nicht viel zu spüren.
Den Verein bezeichnet Pfarrer Luka als „prorussisch“. Frau Yefremova habe zwar mehrmals versucht, einen Kontakt herzustellen, räumt er ein „Sie sind von Kopf bis Fuß ein sowjetischer Mensch“, habe er ihr entgegnen müssen.
Geld aus Moskau – und vom Rathaus
Der Krieg hat die Erinnerung an die Verbrechen der vor hundert Jahren begonnenen Sowjetherrschaft gegenüber den Ukrainern wieder kollektiv wachgerufen, auch bei einem Priester. Und der Ex-Geheimdienstler Putin gilt als ein Exponent dieser Sowjetunion und sorgt für makabre Kontinuitäten. Die Ukrainer beobachten gerade jetzt Pilgerzüge zur ehemaligen Putin-Villa aus seiner Zeit als KGB-Offizier in Dresden, heute Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft.
Kolibri-Geschäftsführerin Kristina Daniels möchte zu den ukrainischen Anwürfen am liebsten nur beredt schweigen. „Unerfreulich“ seien das Verhältnis und die Ausladung seitens des Ukraine-Hauses, mehr kommentiert sie nicht.
Auch das Deutsch-Russische Kulturinstitut in einer hübschen Zwiebelturmvilla wollte sich schon vor einem Jahr nicht äußern, verlangt aber jetzt von der taz eine Entschuldigung für damals aus anderen Quellen beschaffte Angaben.
Zum Beispiel zu der Frage, ob es weiterhin von der für die russische Propaganda in der Diaspora gegründeten Stiftung Russki Mir (Russische Welt) getragen wird, also eine Exklave des russischen Staates ist. Das Institut erhält jährlich noch 15.000 Euro Förderung aus dem Dresdner Kulturrathaus. Es bedient aber mit einem schmalen, lediglich retrospektiv-folkloristischen Programm eher eine geschlossene Gesellschaft.
Die Kirche mischt vorne mit
Ähnlich isoliert ist die Dresdner Russisch-Orthodoxe Kirche. An ihrer Stelle äußert sich auf der Homepage der Moskauer Patriarch Kirill in einer Botschaft an alle „Kinder der Kirche“ vom 17. März des Vorjahres, die an Demagogie nicht zu überbieten ist:
„Doch selbst in den schwierigsten Zeiten der Prüfung hat unser Volk stets Hilfe von der Allheiligen Gottesmutter erfleht, die sich immer als inständige Fürsprecherin der Heiligen Rus erwiesen hat. Richten wir unseren Blick und unser Seufzen an die inständige Fürsprecherin der Christen, sodass auf ihre unablässige Fürsprache der menschenliebende Herr Seine Gnade über unsere Völker kommen lässt und uns festen und unerschütterlichen Frieden schenkt.“
Um Frieden bitten und den Krieg unterstützen – die Dresdner Orthodoxe Kirche gehört zum Moskauer Patriarchat, einer waffensegnenden Stütze der Putin-Clique.
Und wie verhält sich das sächsische Gastgebervölkchen? Pfarrer Bohdan Luka begegnet „die gesamte menschliche Bandbreite – von sehr herzlich bis zur kompletten Ablehnung“. Zur leisen Kundgebung vor der Frauenkirche, die am 24. Februar den Jahrestag des Kriegsbeginns betrauerte, kam immerhin fast die doppelte Anzahl der erwarteten tausend Teilnehmer.
Auch Dresden ist gespalten
Die AfD-Pegida- und Schwurblerdemo auf dem Theaterplatz, einen Tag vor der Wagenknecht/Schwarzer-Demo in Berlin, brachte es nicht ganz auf diese Zahl. Aber elf Tage zuvor, am Zerstörungsgedenktag Dresdens im Zweiten Weltkrieg, wurde Oberbürgermeister Dirk Hilbert eben auch als „Kriegstreiber“ ausgebuht, als er von der russischen Aggression sprach.
Der Volksneid giftet und sieht in den Kaufhäusern nur noch reiche ukrainische Frauen. Die Kassiererin im Supermarkt macht ihrem Ärger Luft, schon mit 63 Jahren verrentete Ukrainer bekämen angeblich von uns üppige Rentenzahlungen, während sie selbst bis 67 schuften müsse. Die Friseurin hat von Flüchtlingen gehört, die hier absahnen, reisen und währenddessen ihre Wohnungen in der Westukraine vermieten. Auch Kinder nicht arbeitender geflüchteter Mütter bekämen privilegiert Kindergartenplätze.
Alexa aus dem Ukraine-Haus hat Ähnliches noch nicht erfahren und verteidigt die Sachsen. Sie sei aber von Russen als „Schlampe“ und schlimmer beschimpft worden, sobald sie als Ukrainerin erkennbar war.
Neben Ressentiments und Stereotypen machen aber auch gutwillige Helfer unangenehme Erfahrungen: Eine Musikerin aus Langebrück, die gleich eine Vierer-WG aufnahm, beobachtete insbesondere bei der jungen „Generation Handy“ bereits das typisch westliche Anspruchs- und Versorgungsdenken.
Differenzierung? Eine Utopie
Und dass Flüchtlinge der ersten Stunde, die seither mit ihrem SUV hier fahren, als Flüchtlinge erster Klasse erscheinen, ist keine Erfindung. Auch hier zeigt sich das von Plattform-Chefin beschriebene Abbild der gesamten ukrainischen Gesellschaft in seiner ganzen Heterogenität
Differenzierte Wertungen und ein tolerantes Miteinander werden in Dresden aber auf absehbare Zeit eine große Herausforderung bleiben. Die 64-jährige Walentyna, die sich im 18 Kilometer entfernten Radeberg endlich eine Einraumwohnung einrichtet, kann kaum noch an einen Frieden glauben. Denn sie kann sich nicht mehr vorstellen, dass sie und ihre Landsleute die russischen Gräuel jemals verzeihen.
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