Studie zu „Querdenken“ in BaWü: Esoterik als Nährboden für Proteste
Eine Studie untersuchte, warum „Querdenken“ in Baden-Württemberg so stark wurde. Nicht Rechtsextreme, sondern die Mitte habe den Protest radikalisiert.
Frei, Nachtwey und ihr Team konstatieren hingegen ebenfalls, dass es vom in Baden-Württemberg besonders verbreiteten christlich-evangelikalen Milieu nur geringe Schnittmengen zu den Corona-Protestierer:innen gibt, obwohl sich beide Gruppen durch Staatsskepsis auszeichnen. Noch schwächer sei der Zusammenhang mit dem bürgerlichen Protestmilieu etwa gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“.
Die Forschungsgruppe des soziologischen Seminars der Universität Basel hatte bereits Ende 2020 eine Studie zu den Motiven und politischen Einstellungen der Corona-Verharmloser:innen vorgelegt. Ihre neue Untersuchung nun, die im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg entstand, konzentriert sich auf Baden-Württemberg. Querdenken wurde im Südwesten gegründet und hat am Stammsitz mit der Gruppe „711“ eine Stuttgarter Vorwahl.
Die Bewegung ist hier besonders stark verwurzelt, sowohl auf der Straße als auch im Netz. Das Publikum war zunächst sehr heterogen. Es einte laut den Soziolog:innen der vermeintlich notwendige Widerstand gegen eine angebliche Anmaßung der Regierung, mit ihrer Coronapolitik demokratische Freiheitsrechte außer Kraft zu setzen.
BaWü und Sachsen sind die Protesthochburgen
Bei einer Auswertung der Mitgliedschaft in coronaskeptischen Kanälen des Messengerdienstes Telegram ergibt sich, dass Baden-Württemberg – hier vor allem die Region Stuttgart – und Sachsen aktuelle Hotspots der Protestbewegung sind. Es gebe aber, schreiben die Wissenschaftler:innen, grundlegende Unterschiede zwischen beiden Regionen.
Die Querdenken-Proteste hätten sich auch in Ostdeutschland, vor allem in Sachsen, etablieren können – „doch sind diese stärker von der extremen Rechten geprägt und tragen deutlich weniger esoterische und anthroposophische Züge“. Speziell im Osten gelinge es der AfD, über den Widerstand gegen die Coronamaßnahmen neue Milieus zu erschließen.
In Baden-Württemberg seien hingegen unter den Studienteilnehmer:innen auch viele ehemalige Wähler:innen der Grünen und der Linken. „Somit hat sich aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Quellen in Baden-Württemberg und den neuen Bundesländern eine ähnliche Dissidenz gegenüber der Pandemie-Politik herausgebildet“, heißt es in der Studie. Und das, obwohl in Baden-Württemberg das Vertrauen in Politik und Institutionen dem bundesdeutschen Durchschnitt entspricht – anders als in Sachsen, wo die Staatsskepsis deutlicher ausgeprägt ist als im Durchschnitt.
Selbstbild der „mutigen Widerstandskämpfer:innen“
In ihrer Selbstwahrnehmung sehen sich die Corona-Kritiker:innen laut Studie „als nüchterne Expert:innen und mutige Widerstandskämpfer:innen“. Von „Konspirationsdenken“ ist die Rede, und von drastischen Vergleichen, „um ihren widerständigen Mut zu beweisen und ihre politische Praxis zu heroisieren“. Viele der von den Baseler Forscher:innen Befragten hätten sich inszeniert „als Eingeweihte, geradezu als Erwählte, die auch angesichts gesellschaftlicher Ächtung, Stigmatisierung und Repression an ihrer Expertise festhalten“.
Der Soziologe Nachtwey hatte erst vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk deutlich gemacht, dass eine solche Haltung dann in diesen Kreisen auch oft zu Impfskepsis führe. „Da kommen quasi linke kulturelle Merkmale mit rechter Politisierung zusammen und das macht diese extrem toxische Mischung der Impfverweigerung gerade aus“, sagte er dem Sender. Sachliche Aufklärung sei bei den Maßnahmenkritikern „relativ wirkungslos“.
Nachtwey, Frei und ihr Team beobachten in Baden-Württemberg eine Radikalisierung auch der politischen Mitte im Zusammenhang mit der Bewegung gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Sie zitieren die Grünen-Politikerin Heike Schiller, langjährige Vorsitzende der Böll-Stiftung Baden-Württemberg. Diese sagte über Querdenken-Gründer Michael Ballweg, die Wende sei gekommen, als dieser „begonnen hat, diese rechten Zustände nicht nur zu marginalisieren, sondern zu rechtfertigen, damit er die Masse kriegt“. Eine neue Aggressivität habe auf diese Weise Raum bekommen. „Rechte waren nicht auf Krawall gebürstet, sondern auf Präsenz. Auf Krawall gebürstet waren dann eher die, welche nicht hinter rechten Fahnen hinterherlaufen, sondern die, welche ihre Grundrechte überall gefährdet sehen.“
Die Basler Wissenschaftler:innen schlussfolgern in ihrer Studie ähnlich: Es seien nicht unbedingt die extremen Rechten selbst gewesen, die für eine Radikalisierung gesorgt hätten. „Häufig konnten wir affektuelle Aufladungen, emotionale Ausbrüche und die Möglichkeit der Gewalt auch in und aus der Mitte der Coronamaßnahmen-Kritiker:innen beobachten.“
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