Streit um tote Geiseln in Israel: Alle haben versagt
Vier israelische Geiseln aus dem Gazastreifen sollten freikommen. Jetzt sind sie tot. Weder der Hamas noch Netanjahu lag ihr Schicksal am Herzen.
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Von ihm könnte man viel erzählen: über den Auszug der Juden aus den arabischen Ländern, ihre Flucht vor dem Islamismus – heute eine der ideologischen Grundlagen der Hamas. Über Menschen auf beiden Seiten, für die 1948 ein Schicksalsjahr wurde.
Am Mittwochabend berichtete reuters, dass der Palästinensische Islamische Jihad den Körper von Oded Lifshitz am Mittwoch übergeben wolle. Mehr noch als die Namen von Mansour oder Lifshitz sorgen die drei bisher Unbestätigten für „Verwirrung, Trauer und Wut“, wie die Times of Israel titelt. Die Hamas erklärte am Dienstag: Shiri Bibas und ihre kleinen Söhne Ariel und Kfir sollen nun nach Israel zurückkehren, tot.
Als das Trio am 7. Oktober 2023 aus dem Gaza-nahen Kibbutz Nir Oz entführt wurde, wurden Bilder der Szenerie schnell zum Symbol des Leids, das die Hamas-Kämpfer über die an Gaza angrenzenden israelischen Gemeinden brachten: Eine junge Mutter, die mit panikverzerrtem Gesicht ihre beiden rothaarigen Kinder an sich presst, Kleinkind Ariel mit Schnuller im Mund, von dem einjährigen Kfir ist nur das Köpfchen zu sehen.
Allgegenwärtig sind die Portraits der Familie Bibas auf dem „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv. Auch Vater Yarden Bibas, der jüngst aus der Geiselgefangenschaft nach Israel zurückkehrte, ist zu sehen. Jemand hat einen herzförmigen Aufkleber auf seinem Plakat hinterlassen: „Ich bin zurückgekehrt“.
Shiri, Ariel und Kfir blicken von verwitterten Aufklebern und frisch gedruckten Plakaten. Statt einen herzförmigen Sticker aufzukleben, bringt eine Passantin ein Herz mit Widmung an die Familie an: „Entschuldigt“ hat sie auf Hebräisch darauf geschrieben. „Dass wir sie nicht rechtzeitig zurückholen konnten“, fügt sie hinzu.
Allgegenwärtig sind sie nicht nur, weil das Schicksal der beiden kleinen Kinder und ihrer Mutter so fürchterlich tragisch ist. Sondern auch, weil sich daran so viel erzählen lässt über die vergangenen fünfzehn Monate und die Momente, die sie charakterisierten.
Auf militärische Stärke gesetzt
Da ist einmal der Fakt, dass auch das Schicksal zweier Kleinkinder die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu nicht bewegen konnte, echte Konzessionen zu machen, um einen Geiseldeal zu verhandeln. Dass man weiter auf militärische Stärke setzte und auf einen – wie rückblickend klar wird – aussichtslosen Kampf gegen eine tief in die zivilen Strukturen Gazas eingegrabene Hamas.
Dass die Geiseln, wenn auch ihre Befreiung stets als Kriegsziel genannt wurde, in den Prioritäten hintangestellt wurden: Nur wenige von ihnen konnten vom Militär gerettet werden. Der Großteil kam durch den ersten Geiseldeal im November 2023 und den derzeit anhaltenden frei.
Dann ist da die Meldung der Hamas, dass die Drei bereits im November 2023 ums Leben gekommen seien – bei einem israelischen Luftangriff. Das ist bisher nicht bestätigt und damit nicht mehr als ein Gerücht. Doch dass Israel bis zuletzt kaum Angaben zu den Bibas-Kindern und ihrer Mutter machte, außer der schwammigen Anmerkung, man habe „schwere Bedenken“, bereitet vielen Schmerzen.
Auch weil im kollektiven Gedächtnis blieb, dass das israelische Militär im Dezember 2023 drei Geiseln, die sich selbst befreit hatten und bei Truppen Hilfe suchten, erschoss – trotz einer weißen Fahne, die sie bei sich trugen.
Und schließlich ist da ein Bild eines kleinen rothaarigen Jungen, Teil einer Bildstrecke, die Aljazeera in November 2023 veröffentlichte – nicht Ariel Bibas ist darauf zu sehen, sondern Ahmed aus Khan Younis in Südgaza. Während die israelische Regierung die Bibas-Kinder hintan stellte, tat die Hamas mit den Kindern unter ihrer Herrschaft im Gazastreifen das Gleiche. Auch sie ließ sich fünfzehn Monate lang nicht zu einem Deal bewegen, setzte sie dem Krieg aus. Auch an der Hamas könnte der derzeitige Geiseldeal wieder scheitern.
Alle, die in den vergangenen fünfzehn Monaten in Israel und dem Gazastreifen Entscheidungen getroffen haben, haben versagt. Und so kommen wohl statt zwei sicherlich gezeichneten, aber lebendigen Kindern mit ihrer Mutter drei Leichen in Israel an.
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