Streik in polnischen Internierungslagern: „Sie behandeln uns wie Tiere“

Menschen, die vor dem Ukrainekrieg nach Polen fliehen, können sich dort frei bewegen. Andere Geflüchtete sitzen dort in Internierungslagern fest.

Im Vordergrund gehen zwei Grenzbeamte an einem Stacheldrahtzaun entlang. Im Hintergrund folgt ihnen ein Militärfahrzeug

Die Situation an der Grenze zu Belarus ist durch den Ukrainekrieg in Vergessenheit geraten Foto: Piotr Molecki/imago

Am Freitag vor Pfingsten kamen 22.300 Menschen aus der Ukraine nach Polen, flüchtend vor dem russischen Angriff. Seit der begann, registrierte Polen 3,82 Millionen Einreisen von Ukrainer:innen. Sie dürfen sich frei bewegen und arbeiten, Freiwillige und der Staat bieten Unterkunft. Per Smartphone können die Ankommenden eine Starthilfe des UN-Flüchtlingswerks von monatlich umgerechnet 544 Euro für eine vierköpfige Familie beantragen.

Das ist nicht für alle so. Ebenfalls am Samstag meldete der polnische Grenzschutz 14 „Versuche von Grenzübertritten“ aus dem Nachbarstaat Belarus, Menschen aus Afrika und Asien. Sie werden in der Regel für viele Monate in eines von landesweit rund zehn polnischen Internierungslagern gebracht. Die Ungleichbehandlung könnte schärfer kaum sein.

„Sie behandeln uns wie Tiere“, sagt der Iraner Milad am Telefon im Gespräch mit der taz. Seit Monaten sitzt er im Internierungslager von Lesznowola, rund 50 Kilometer südlich von Warschau. Anfang Mai sind hier 23 Männer in Hungerstreik getreten. Am Montag, 35 Tage später, verweigern noch 10 von ihnen – drei Kur­d:in­nen aus der Türkei, sieben aus dem Irak – die Nahrungsaufnahme. Sie protestieren gegen die Unterbringungsbedingungen und fordern ihre Freilassung. Seit sieben Monaten sind sie im Lager, sie kamen im vergangenen Herbst über Belarus. Milad ist ihr Sprecher.

Seit dem vergangenen Herbst sind die Lager mit rund 2.000 Menschen völlig überbelegt. Immer wieder traten Insassen deshalb in Hungerstreik, zuletzt gehäuft. Von einer „Welle“ sprach Ende Mai das polnische Magazin OKO.press, das Kontakt zu Streikenden in vier der Lager hält: Przemyśl, Wędrzyn, Krosno Odrzańskie und Lesznowola. Hilfsorganisationen wie das NGO-Netzwerk Grupa Granica warnen, dass die Streikenden mittlerweile in Lebensgefahr seien.

Zwei Quadratmeter Mindestplatzbedarf pro Person

Das mit europäischen Mitteln mitfinanzierte Lager in Lesznowola war ursprünglich für 73 Männer ausgelegt. Doch weil ab September 2021 plötzlich mehr Menschen kamen, senkten die polnischen Behörden den formalen Mindestplatzbedarf von drei auf zwei Quadratmeter pro Person ab. Der Europarat verlangt vier Quadratmeter „persönlichen Lebensraum“ in Gefängnissen. In Lesznowola gibt es seither offiziell 192 Plätze.

In Zweierzellen wohnen nun bis zu sechs Männer. Es gebe „keine Freiheit“, die Wachen würden „zu allem, was wir wollen, Nein sagen“, sagt Milad. Als er herkam, wog er 85 Kilogramm, jetzt seien es noch 65. „Dabei esse ich.“ Doch die Zeit im Lager setze allen zu. „Die Leute kamen für ein besseres Leben hierher. Und jetzt ist ihr Leben im Gefängnis.“ Niemand wisse, wie es weitergehe, keinem werde gesagt, wann über die Asylanträge entschieden sei oder wann und ob man freikomme.

Die Streikenden hätten erwogen, auch das Trinken einzustellen, sich auf Anraten von Hilfsorganisationen aber doch dagegen entschieden. Zwangsernährung gebe es nicht, berichtet Milad. „Die Wachen tun gar nichts, denen ist das egal. Sie sagen: Wenn ihr nichts esst, dann sterbt ihr eben.“ Die Männer seien mittlerweile sehr geschwächt.

Ein Streikender wurde in der Nacht von vergangenem Dienstag auf Mittwoch in die Notaufnahme des Krankenhauses in Grójec gebracht. Über seinen Zustand hätten die anderen Streikenden nichts erfahren, sagt ­Milad. Auch NGOs und der grüne Abgeordnete Tomasz Aniśko berichten, auf Anfrage keine Informationen über den Zustand des Mannes bekommen zu haben.

Keine Smartphones und keine Besuche für Geflüchtete

Den Insassen der Lager werden Smartphones abgenommen. Handys ohne Kamera dürfen sie behalten oder sich schicken lassen. Milad bekam eines von einer polnischen Hilfsorganisation. Besuchen dürfen die Hel­fe­r:in­nen die Menschen in den Lagern in aller Regel nicht, Pakete zu schicken ist hingegen gestattet. So kann Milad Kontakt mit seiner Familie im Iran halten – und Informationen über den Streik weitergeben.

Asyl­an­trag­stel­le­r:in­nen können in Polen für zunächst bis zu sechs Monate interniert werden. Von dieser Regelung machen die Behörden fast durchweg Gebrauch. Wenn das Asylverfahren bis dahin nicht entschieden ist, kann eine Verlängerung per richterlichem Beschluss angeordnet werden. Auch im Fall einer Ablehnung kann die Internierung bis zu einer möglichen Abschiebung verlängert werden.

Als Russland die Ukrai­ne überfiel, saßen alle Streikenden von Lesznowola bereits im Lager. Über die Ereignisse sind sie dennoch informiert: Im Gemeinschaftsraum gibt es einen Fernseher, wenn auch „nur mit zwei polnischen Programmen“, sagt Milad. Hinzu kommt eine Handvoll Computer, die sich rund 200 Menschen teilen müssen. Zudem, so Milad, seien viele Seiten blockiert.

Doch der spärliche Zugang zu Informationen reicht, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Polen in den vergangenen drei Monaten mit den ankommenden Ukrai­ne­r:in­nen umgegangen ist. „Was ist der Unterschied zwischen ihnen und uns?“, fragt Milad. „Warum verdienen wir nicht dieselbe Behandlung? Was ist die Rechtfertigung dafür? Das fragen sich hier alle.“

Durch die Behandlung der Wärter „entmenschlicht“

Bis zur Mitte des vergangenen Jahres war Polen asylmäßig praktisch ein weißer Fleck auf der Landkarte. 2020 stellten gerade mal 1.490 Menschen dort einen Asylantrag. 92 Prozent wurden abgelehnt. Die Quote dürfte derzeit ähnlich liegen. Wer gegen eine Ablehnung Berufung einlegt, muss sich auf weitere sechs Monate in Haft einstellen.

Amnesty International veröffentlichte Mitte April einen auf Telefoninterviews basierenden Bericht über die Situation in den polnischen Lagern. Befragte aus Lesznowola gaben dabei an, sich durch die Behandlung der Wärter „entmenschlicht“ zu fühlen.

Das Personal spreche die Gefangenen nur mit Fallnummern anstatt mit Namen an und verhänge „übermäßige Strafen, einschließlich Isolationshaft, für einfache Bitten, wie etwa um ein Handtuch oder mehr Essen“, so der Amnesty-Report. „Fast alle Befragten berichteten von durchweg respektlosem und verbal beleidigendem Verhalten, rassistischen Äußerungen und anderen Praktiken, die auf psychische Misshandlung hindeuteten.“

Milad hält sich am Telefon mit Äußerungen über die Wachen zurück. „Manche sind gut, manche nicht. Ich mache den Männern persönlich keinen Vorwurf“, sagt er. „Sie tun, was ihnen befohlen wurde.“

Suizidversuche und unzureichende Versorgung

Der grüne Sejm-Abgeordnete Tomasz Aniśko hat beantragt, unabhängigen Psychologen Zugang zum Lager von Lesznowola zu gewähren, um mit den Streikenden zu sprechen. Ende Mai lehnte der Grenzschutz dies ab. Die Insassen würden im Lager „optimale“ medizinische und psychologische Betreuung erhalten. Das NGO-Netzwerk Grupa Granica aber berichtet von Suizidversuchen unter den Gefangenen und einer völlig unzureichenden Versorgung.

Ende Mai sei ein Syrer aus dem Lager Lesznowola entlassen worden. Der Mann habe „trotz ständiger Hüftschmerzen, sichtbarer Probleme beim Gehen und wiederholter Bitten um Hilfe abgesehen von starken Schmerzmitteln keine angemessene medizinische Hilfe erhalten“; so die Grupa Granica. Nach der Entlassung habe eine MRT-Untersuchung ergeben, dass er an Hüftfrakturen und Knochen­nekrose litt – eine Folge der Gewalt der Grenzschützer, so die Grupa Granica.

Die Lage an der Grenze zu Belarus geriet wegen des Ukrainekonflikts aus dem Blick, weniger dramatisch wurde sie nicht. Der „Ausnahmezustand“ in dem Grenzstreifen soll wohl bis Ende des Jahres verlängert werden. Die Folge: Beobachter und Hilfsorganisationen dürfen das Gebiet nicht betreten. Erst am Samstag wurde die Leiche einer 50-jährigen Syrerin auf dem Grenzstreifen gefunden, die zuvor von den polnischen Behörden zurückgeschoben worden war. Seit dem vergangene Herbst starben Dutzende Flüchtlinge völlig entkräftet in den Wäldern.

Der polnische Grenzschutz berichtet völlig ungerührt, dass er praktisch permanent Menschen nach Belarus zurückschiebt. Dabei hat erst am 27. Mai das Woiwodschafts-Verwaltungsgericht in Warschau erneut entschieden, dass Pushbacks – in diesem Fall eines Jemeniten und eines Irakis im vergangenen November – illegal sind. Polen setzt indes darauf, dass die Grenze künftig gar nicht mehr überschreitbar ist: Die ersten Abschnitte des 400 Kilometer langen Zauns an der Grenze zu Belarus sind fertiggestellt.

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