Spahns Rasterpsychotherapie: Vorstoß vor dem Aus
Die Idee des Gesundheitsministers, psychotherapeutische Leistungen stärker zu normen, läuft wohl ins Leere. Grundlegende Probleme aber bleiben.
Schon lange plant das Gesundheitsministerium das umfassende Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG). Es soll in der kommenden Woche beschlossen werden. Doch erst vor wenigen Wochen reichte der Gesundheitsminister zusätzliche Änderungsanträge ein. Oppositionspolitiker*innen kritisieren dieses Vorgehen, da sie so „in letzter Minute ohne öffentliche Anhörung in dieses eingefügt“ würden, wie es Silvia Gabelmann von der Linken gegenüber der taz ausdrückt.
Einer dieser Änderungsanträge beschäftigt sich mit der Psychotherapie. Diese solle zukünftig „bedarfsgerecht und schweregradorientiert“ organisiert werden. Hinter dieser für Laien harmlos wirkenden Formulierung „verstecke sich jedoch eine Beschneidung der bisherigen Psychotherapie-Leistungen“, erklärt die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV). Die Verbände der Psychotherapeut*innen lehnen den Vorstoß daher als unnötigen Eingriff in die Entscheidungshoheit der Behandelnden mit Verweis auf bestehende Kontrollinstanzen geschlossen ab. Bedarfsgerecht und schweregradorientiert sei die Behandlung schon längst.
Kirsten Kappert-Gonther, Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss, schließt da an und wirft Spahn „ein tiefes Misstrauen gegenüber den behandelnden Psychotherapeut*innen“ vor. Denn der aktuelle Vorstoß ist nicht der erste Versuch des Gesundheitsministers, die Entscheidungskompetenz der Behandelnden zu beschneiden.
Gesellschaftliche Stigmatisierung und bürokratische Hürden
Bereits 2018 sollte der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen neu strukturiert werden. Damals sollte der Therapie eine weitere Instanz der Beurteilung vorgelagert werden. Eine Petition mit über 200.000 Unterschriften stand damals an der Spitze der öffentlichen Entrüstung – und Spahn musste sein Vorhaben Anfang 2019 zurückziehen.
Damals wie heute werden die Reformen der Psychotherapie mit den langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz begründet. Von denen kann Uwe Hauck aus eigener Erfahrung berichten. Vor einem Suizidversuch musste er ein Jahr warten, bis er einen Therapieplatz fand. Als er dann mit der Behandlung anfangen konnte, war es eigentlich schon zu spät: „Kurze Zeit später habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich glaube heute, eine frühere Therapie hätte das verhindern können.“ Seitdem arbeitet er als Autor und Aktivist für die Anerkennung und Versorgung psychischer Erkrankungen.
Für ihn ist das größte Problem, dass sich viele wegen ihrer psychischen Erkrankungen nicht therapieren ließen. In Deutschland sind jährlich etwa 28 Prozent der Bevölkerung von psychischen Erkrankungen betroffen, aber nur 10 Prozent werden behandelt. Die Gründe dafür lägen vor allem in der gesellschaftlichen Stigmatisierung und in den bürokratischen Hürden.
Zwar würde die öffentliche Wahrnehmung zunehmend sensibilisiert, doch im privaten Bereich seien die Fortschritte noch geringer. Sein langfristiges Ziel ist es, „dass psychische Krankheiten irgendwann im Alltag wie jede andere Krankheit behandelt werden und es ganz normal ist zu sagen: Ich habe Depressionen.“ Da sei der aktuelle Vorstoß ein deutlicher Schritt in die falsche Richtung.
Christine Kirchhoff, Professorin für Psychoanalyse
Die geplante Änderung wird als ‚Rasterpsychotherapie‘ bezeichnet. Nicht die individuellen Bedürfnisse und Probleme der Patient*innen wären hier entscheidend, sondern in welches Raster sie fallen, in welche Schublade sie gesteckt werden. Jedes Raster wäre eine klar definierte Diagnose und ginge mit einer genauen Behandlungsdauer einher. Dabei ist völlig klar, dass jede*r eine ganz individuelle Psyche hat.
In der taz erklärt Christine Kirchhoff, Professorin für Psychoanalyse in Berlin, daher, wie die therapeutische Praxis damit umgeht. „Nicht selten steht am Beginn einer Behandlung eine Diagnose, die später erweitert, verändert oder verworfen wird. Das erfordert Vertrauen und Vertrauen erfordert Zeit.“ Die Absurdität einer nach Rastern festgelegten Stundenzahl beschreibt auch Uwe Hauck bildlich: „Ein Arzt hört auch nicht mitten in der Operation am Herzen auf, weil die Zeit abgelaufen ist.“
Unterstützung bekommt das Gesundheitsministerium öffentlich nur von den Krankenkassen. Laut Neues Deutschland begrüßen sie die vorgeschlagene Regelung, die zu einer schnelleren Vergabe neuer Therapieplätze führen würde. Diese Argumentation läuft also auf eine kurzfristige Kosteneinsparung durch verkürzte Therapien hinaus.
Eine Logik, die für Christine Kirchhoff im Kontext einer „möglichst weitgehenden Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung“ steht. Diese Ökonomisierung ginge auf Kosten der Patient*innen, deren psychische Gesundheit darunter leide. Das sei selbst ökonomisch wenig sinnvoll, denn langfristige Erkrankungen führen unter anderem auch zu Arbeitsausfällen.
Unter dem Hashtag #RasterPsychotherapie haben Betroffene wie Therapierende jetzt ihren Ärger deutlich ausgedrückt. Um gegen die drohende Rasterpsychotherapie zu protestieren, initiierte Uwe Hauck eine Petition und erhielt eine überwältigende Unterstützung.
Unter anderem rufen die Verbänden der Psychotherapeut*innen und der Deutschen Depressionsliga dazu auf, die Petition zu unterschreiben. Auch Prominente wie Nora Tschirner oder Torsten Sträter, die öffentlich mit ihrer Depression umgehen, unterstützen die Petition. Diese hat in nur zwei Wochen – wie schon vor 2 Jahren – fast 200.000 Unterschriften gesammelt und – ebenfalls wie vor 2 Jahren – nun zum Ende der Spahn'schen Reformpläne beigetragen.
Grundlegende Probleme bleiben ungelöst
Denn neben den Grünen und der Linken verwehrt auch die SPD als Regierungspartei ihre Zustimmung zum Änderungsantrag. Sabine Dittmar, Gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, erklärt gegenüber der taz, dass der Änderungsantrag von Spahn mit ihrer Partei weder inhaltlich diskutiert noch abgestimmt worden wäre. Sie betont: „Wir halten ihn nicht für zielführend im Sinne der besseren Versorgung psychisch kranker Patientinnen und Patienten und lehnen diesen Vorstoß daher ab.“
Da das Vorhaben nicht ohne die SPD durchgesetzt werden kann, heißt es jetzt, das Ministerium ziehe den Antrag zur Rasterpsychotherapie zurück. Offiziell wollte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums das der taz jedoch noch nicht bestätigen und verwies lediglich darauf, dass sich momentan „die Diskussion auf andere Themen“ konzentriere.
Die Reaktionen auf das schnelle Ende der Rasterpsychotherapie sind von Erleichterung geprägt. Die grundlegenden Probleme der Versorgung bleiben allerdings ungelöst. So fordert der Vorsitzende der DPtV angesichts der Pandemie eine „schnelle und unbürokratische Hilfe für psychisch Erkrankte“. Auch Sylvia Gabelmann von der Linken begrüßt das Ergebnis, fordert aber auch: „Psychische Gesundheit muss einerseits durch eine umfassendere und vielfältigere psychotherapeutische Versorgung, andererseits durch präventive Maßnahmen in der Berufs- und Lebenswelt der Menschen gefördert werden.“
Was also bleibt von dem Streit um die Psychotherapie? Zum einen die Erkenntnis, dass auch sie zunehmend von der Ökonomisierung des Gesundheitssektors geprägt ist und so weiter unter Druck gerät, kosteneffizienter nach wirtschaftlichen Kriterien geführt zu werden. Zum anderen, dass der Weg zu einer Gesellschaft, die Betroffene psychischer Erkrankungen anerkennt und ihnen die individuell notwendige Behandlung gewährt, noch ein weiter ist. Uwe Hauck ist ebenfalls vorsichtig optimistisch, blickt aber schon wieder nach vorne: Gemeinsam mit der Depressionsliga arbeitet er daran, langfristig ein Gegengewicht zur Ökonomisierung der Psychotherapie zu installieren.
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