Hilfe bei psychischen Erkrankungen: Unüberbrückbare Zeit
Wer einen Therapieplatz braucht, muss lange warten. Im Koalitionsvertrag wird Besserung angekündigt. Bisher bleibt es aber nur ein Versprechen.
Psychische Erkrankungen aus der Tabuzone holen: ein Ziel, das die Ampel in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat. Während es bei der Regierung zu diesem Thema seither eher ruhig geworden ist, sprechen immer mehr Personen aus dem öffentlichen Leben über ihre Erkrankungen. Komiker Alexander Bojcan – bekannt als Kurt Krömer – und die Schauspielerin Nora Tschirner stehen exemplarisch für viele Menschen. Und auch wenn es wünschenswert wäre, diesen Schritt 2022 nicht mehr mutig nennen zu müssen, ist es genau das: mutig.
Denn die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen ist noch immer ein großes Problem. „Mir ist jetzt egal, ob sich jemand darüber das Maul zerreißt. Ob das jemand als Schwäche auslegt“, schreibt Mattheus Berg in einem Thread auf Twitter. Der 21-Jährige hat seinen Geburtstag am Montag zum Anlass genommen, seine Depressionen mit mehr als 10.000 Follower*innen zu teilen. Berg ist Social-Media-Mitarbeiter der SPD im Bundestag.
SPD-Kollege und Gesundheitsminister Karl Lauterbach bedankte sich noch am selben Abend auf Twitter für Bergs Mut und nutzte die Gelegenheit, um deutlich zu machen, wie gut es um die gesundheitliche Versorgung psychisch Erkrankter in Deutschland steht: „Es gibt sehr gute Behandlungen und für die allermeisten eine sehr gute, erreichbare Lebensqualität.“
Keine Frage, dass es sehr gute Therapeut*innen gibt und eine Therapie die Lebensqualität verbessern kann. Doch ohne Zugang zu ihr hilft sie herzlich wenig. Es scheint, als hätte der Gesundheitsminister in seiner Aussage glatt vergessen, warum sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag für eine Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung und eine Verbesserung der ambulanten Versorgung ausgesprochen hat: Weil es nicht gut um sie steht.
Lange Wartezeiten auf Therapieplätze
Laut dem Gesundheitsministerium leidet fast jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens an einer „behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung“. Im ersten Coronajahr 2020 waren sie die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren. Die Pandemie hat die Erkrankungen deutlich ansteigen lassen. Und dennoch sind die Wartezeiten auf einen Therapieplatz lang. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat sich 2019 insgesamt 300.000 Versichertendaten angeschaut: Rund 40 Prozent der Patient*innen mussten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung warten.
Den Erkrankten fehlt es meistens nicht an Mut, sondern an Zuversicht
Die Wartezeiten auf Therapieplätze sind nicht nur lang und unüberschaubar, sondern auch unüberbrückbar. In akuten Fällen braucht es akute Hilfe. Der Vergleich mit dem gebrochenen Bein wird einer der besten bleiben: Ist etwas kaputt, muss es umgehend behandelt werden. Egal ob Knochen oder Psyche. Auch Berg selbst antwortet auf Lauterbachs Tweet: „Wofür ich außerdem dankbar wäre, wäre eine angemessene therapeutische Versorgung auch für Kassenpatienten. Die bürokratische Hemmschwelle und die lange Wartezeit, um Hilfe zu bekommen, fühlen sich lähmend an.“
Es sollte Aufgabe der Politik sein, gegen diese Machtlosigkeit anzugehen. Wie das nicht geht, zeigte vergangenes Jahr Jens Spahn. Der damalige Gesundheitsminister wollte eine Art Rastertherapie einführen, um eine Diagnose bereits vorab an eine bestimmte Anzahl von Behandlungsstunden zu binden. Der Vorschlag, der die Bürokratisierung verstärkt hätte, konnte sich nicht durchsetzen. Die Rastertherapie hätte es Therapeut*innen verwehrt, individuell über die Länge der Behandlung zu entscheiden.
Dieser Rückblick zeigt: Das Vorhaben der Ampel erkennt die Probleme – anders als der Vorschlag Spahns – an. Nun geht es um die schnelle Umsetzung. Die aber hat offenbar weder begonnen noch ist sie absehbar: Auf Anfrage der taz konnte das Bundesgesundheitsministerium keinen konkreten Zeitplan für die geplanten Verbesserungen nennen. Offen zu seiner psychischen Krankheit zu stehen, ist mutig. Doch den Erkrankten fehlt es meistens nicht an Mut, sondern an Zuversicht. Und für diese Zuversicht braucht es schnelle Therapiemöglichkeiten.
Leser*innenkommentare
Andreas Böhm
Leserbrief:
Der Vergleich mit dem gebrochenen Bein ist unglücklich und führt in die Irre. Psychische Störungen kommen nicht plötzlich. Die Metapher vom gebrochenen Bein führt zu einer Medikalisierung jeder persönlichen Krise. Das ist weder nötig noch hilfreich. Im Gegenteil.
Außerdem sollte, wie bei anderen Behandlungen auch, darauf hingewiesen werden, dass mit jeder Behandlung Risiken verbunden sind, dass Psychotherapie schaden kann.
larasu
Man muss hier etwas unterscheiden zwischen Großstadt und ländlicher Gegend. In der Großstadt gibt es schon genug Therapeut*innen, aber zu wenige mit GKV Zulassung. Das lässt sich zwar im Einzelfall umgehen, erfordert aber so viel Aufwand, das jemand mit akuter psychiatrischer Problematik unweigerlich scheitert. Auf dem Land gibt es dann häufig schlicht niemand. Da lässt sich schwerer was machen.
Wald und Flur
In unserem und den angrenzenden Landkreisen beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz 2-3 Monate. In der Hochsaison auch mal ein wenig länger. Es handelt sich dabei um eine viele Sitzungen umfassende Behandlung.
Während die Wartezeit auf einen (einzigen) Facharzttermin (Kardiologe etc.) MIT Überweisung und gegebener Dringlichkeit bis zu einem halben Jahr und mehr beträgt.
Wir haben an allen Ecken ein Riesenproblem im Gesundheitssystem.
Gunnar Grannis
Was ja besonders schlimm ist, ist dass es im Gegensatz zum gebrochenen Bein um so schwieriger wird Therapie, oder auch Reha Plätze zu bekommen um so schwerer jemand erkrankt ist.
44733 (Profil gelöscht)
Gast
"Bei einem gebrochenen Bein ist schnelle Hilfe gesichert" gilt schon lange nicht mehr: Mit Wadenbeinbruch erst auf Arzttermin gewartet, dann auf Radiologentermin, dann wieder auf Arzttermin.
Gerald Stolten
Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang die massive Verschlechterung der stationären Versorgung durch die 2015 scharfgeschalteten PEPP (Pauschalisiertes Entgeldsystem für Psychosomatik und Psychiatrie)-Vereinbarungen.
Mit diesen wurde das "Erfolgsmodell" der Fallpauschalen, trotz vieler warnender Stimmen, auf diesen sensiblen Bereich ausgeweitet.
Durch ein degressives Entgeldsystem werden die Kliniken gezwungen, PatientINNen vorzeitig vor die Tür zu setzen.
Die Aufenthaltsdauern haben sich dadurch faktisch halbiert.
-Ich nenne das ein sparpolitisches passives Euthanasieprogramm !
Ajuga
"Auf Anfrage der taz konnte das Bundesgesundheitsministerium keinen konkreten Zeitplan für die geplanten Verbesserungen nennen."
Wie denn auch? Auch hier: 16 Jahre lang alles unter den Teppich gekehrt, alldieweil der psychische und psychosomatische Krankenstand durch die Decke ging.
(Strenggenommen wäre die erste Maßnahme die Änderungen bei Transferleistungen ab 1.1.2023. Die lösen das Problem zwar nicht, aber eine DER Hauptquellen für psychische Erkrankungen in der BRD wird damit reduziert. Das bringt zwar nicht viel, aber mehr als nichts. Die beste Gesundheitspolitik ist Präventionspolitik, und bei psychischen Erkrankungen ist idR die beste Präventionsmöglichkeit über die Sozialpolitik.)
Ingo Bernable
Zumal eine bedarfsgerechte Versorgung ja nicht nur im Interesse der Betroffenen wäre, sondern auch makroökonomisch sinnvoll weil die endlos lange Warterei auf eine Behandlung allzu oft eben auch zu einer Verschlimmerung oder gar Chronifizierung führt die dann wiederum Krankschreibungen und Frühverrentungen bedeuten.