Soziale Gerechtigkeit in den USA: Demokratie in Gefahr
Ein Jahr ist Biden im Amt. Die Midterms geben Grund zur Sorge. Und die Sozialpolitik lässt auf sich warten.
J oe Biden, der 46. Präsident der USA, begann seine Amtszeit mit einer Überraschung. „Trickle-down Economics hat noch nie funktioniert. Es ist an der Zeit, die Wirtschaft wachsen zu lassen, und zwar für die unteren und mittleren Einkommensschichten.“ In seinen Jahrzehnten in der US-Politik fiel der Demokrat aus Delaware wirklich nicht als Progressiver auf. Im Gegenteil.
Nun fordert er, „dass die amerikanischen Unternehmen und das reichste 1 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner anfangen, ihren gerechten Anteil zu zahlen“. Unter dem Beifall seiner Parteifreundinnen und -freunde begrub er in einer Rede vor dem US-Kongress die Idee des „Trickle-down“, also des Durchsickerns des Wohlstands der Reichsten zur normalen Bevölkerung.
Die Theorie besagt, dass das ganz von allein passierte, wenn der Staat sich raushält und die Steuern für große Einkommen und Vermögen senkt. Ronald Reagan spitzte das vor vierzig Jahren auf die Formel zu, die Regierung sei „nicht die Lösung unserer Probleme, die Regierung ist das Problem“. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass seit den 1940er Jahren ein ganz anderer Konsens herrschte.
Auf Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal aufbauend, erweiterten sowohl Demokraten als auch Republikaner schrittweise die Sozialversicherungs- und Krankenversicherungssysteme und erhöhten den Mindestlohn. Mit Reagan war damit Schluss. Seine Politik der Deregulierung und Privatisierung fand auch in Europa Nachahmer.
war zwischen 2009 und 2021 Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Er ist Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.
Bidens Kehrtwende erklärt sich auch aus dem Zustand des Landes. Wenige Tage bevor er das Präsidentschaftsamt antrat, forderte sein Vorgänger eine Menschenmenge in Washington auf, zum Kapitol zu ziehen: „Wenn ihr nicht wie wild kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben.“ Ein präzedenzloser Angriff auf die Demokratie.
Bidens Popularität schwindet
Kurz nach dem Schock schien es, als würde sich die Republikanische Partei besinnen. Die Fraktionsvorsitzenden in Senat und Repräsentantenhaus wandten sich von ihrem Noch-Präsidenten ab, stimmten dann aber doch gegen dessen Amtsenthebung und gegen die Untersuchung der Ereignisse. Die New York Times bezeichnete die Republikaner vor wenigen Tagen als „autoritäre Bewegung“.
Der Abgeordnete Jamie Raskin ging weiter und nannte sie eine „religiöse und politische Sekte, die von einem einzigen Mann kontrolliert wird“. In diesem Jahr wird in den USA wieder gewählt. Möglicherweise siegt die autoritäre, republikanische Sekte. Bei Politik, Medien und der transatlantischen Thinktank-Welt hier in Deutschland herrscht merkwürdige Zurückhaltung. Bereits nach der Wahl 2016 überwog die Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen. Kam es doch.
Als Trump 2020 kundtat, dass er eine Abwahl nicht anerkennen würde, weil sie ja nur durch Betrug zustande kommen könne, forderte ich dazu auf, dass Deutschland seine Neutralität zwischen den beiden Kandidaten aufgeben müsse. Aber nicht mal die Grünen unterstützten das. Von der Bundesregierung ganz zu schweigen. Natürlich fällt es schwer, undemokratische Entwicklungen ausgerechnet bei denen zu kritisieren, die als Teil der Alliierten Deutschland von der Nazi-Diktatur befreit haben.
Neutralität verbietet sich
Aber angesichts dessen, was dort geschieht, dürfen wir nicht länger neutral bleiben! Wer die Ergebnisse demokratischer Wahlen nicht respektiert, darf nicht behandelt werden wie eine normale Oppositionspartei. Der Kampf um die Demokratie in den USA geht auch uns etwas an. Wir müssen aus der Zuschauerrolle herauskommen.
Die Demokratie ist bedroht. Sie muss verteidigt werden. Aber viele Menschen in den USA und anderswo fühlen sich dabei nicht angesprochen. Sie haben andere Sorgen. Es ist nämlich nichts durchgesickert. Das Aufstiegsversprechen wurde gebrochen. Die Mittelschicht schrumpft seit Jahrzehnten. Zugleich wachsen die Vermögen der Reichsten immer schneller. Menschen, die sich vergessen fühlen, sind anfällig für jene, die Wut und Hass anfeuern.
Wer das „Soziale“ vergisst, der wird auch die „Marktwirtschaft“ nicht retten. Wenn hingegen das Versprechen, es werde unseren Kindern besser gehen als uns selbst, wieder erfüllt wird, dann wird sie auch verteidigt. Sicher: Biden ist kein Sozialist. Wie schon Franklin D. Roosevelt will er den Kapitalismus vor sich selbst schützen. Deshalb kämpft er für die Ausweitung der Gesundheitsversorgung und Bildung.
Und für eine Finanzierung durch höhere Steuern für Milliardäre und Konzerne. Spüren die Menschen bis zum Herbst Verbesserungen, können die Demokraten noch gewinnen. Zugleich befinden sich die USA und die anderen parlamentarischen Demokratien auf globaler Ebene im Wettbewerb mit autoritären Staaten. Dabei geht es nicht nur um die Regierungsform und Freiheitsrechte. Wer „liefert“, der hat die besseren Karten.
In der Glitzerwelt von Dubai gibt es kaum Rufe, die absolutistische Monarchie dort durch eine parlamentarische Demokratie abzulösen. Welches System gewinnt, ist offen. Deshalb ist es an der Zeit, den transatlantischen Dialog thematisch zu erweitern. Statt vor allem über Militärausgaben, Russland und China zu reden, gehört auch hier die soziale Frage ganz oben auf die Tagesordnung. Die globale Mindestbesteuerung ist ein guter Anfang.
Warum nicht auch über gemeinsame bessere Standards für Arbeitsbedingungen, Gesundheitsversorgung, Bildungsfinanzierung diskutieren? Weltweit sollten demokratische Staaten Freiheit, aber eben auch ein gutes Leben für alle garantieren. Aufstiegschancen, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und freie Wahlen – dafür lohnt es sich einzutreten. Der Neoliberalismus hat die Demokratie gegen ihre Feinde von innen und außen geschwächt.
Resilienz gegen Autoritarismus bedeutet, hier einen Schlussstrich zu ziehen und zu zeigen, dass Demokratie und soziale Gerechtigkeit zusammengehören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen