Skrupellosigkeit in der Politik: Moralische Schlüsse sind zulässig
Der Appell an die geteilte Welt wird von rechten Kulturkämpfern als Moralismus abgetan. Angesichts von Amtsmissbrauch und Korruption ist Moral aber notwendig.
V on den vielen Argumenten, warum es vermutlich keinen Gott gibt, finde ich das mit der Apfelsinenkiste besonders gut. Der Philosoph Bertrand Russell hat es geprägt und es geht so: Die Idee von einem Gott, der ausgleichende Gerechtigkeit schafft, ist ungefähr so schlüssig, wie wenn ich beim Öffnen einer Apfelsinenkiste sehe, dass die oberste Lage vergammelt ist, und dennoch annehme, dass die unteren Lagen wohl in Ordnung seien.
An diesem Gleichnis gefällt mir die freundliche Aufforderung, angesichts von Schimmel und Ungenießbarkeit sich nicht in Wunschvorstellungen (ein weiser, höherer Plan, eine gütlich fügende Hand) zu flüchten, sondern doch bitte Logik oder mindestens Lebenserfahrung walten zu lassen. Hinter Fäulnis steckt selten schönste, beste Ordnung. Sondern vermutlich ebenfalls Fäulnis. Darin steckt auch eine Ermunterung: Moralische Schlüsse sind zulässig, trau sie dir zu.
Womit ich bei Jens Spahns Maskendeals angekommen wäre. Gegen ihn wird sich in der Union vermutlich erst etwas regen, wenn die Bild-Zeitung einsteigt, die das aber nicht tun wird, weil sie (noch) zu seinen Buddys zählt. Solange bloß Opposition und seriöse Medien alle Hinweise auf Amtsmissbrauch als Hinweise auf Amtsmissbrauch werten, dient dies bei CDU und CSU eher der Selbstvergewisserung: Wir sind so mächtig, dass wir sogar diesen Skandal aussitzen – und die Souveränität, in der wir das machen, festigt unsere Macht sogar noch. Es ist Skrupellosigkeit als Regierungsform.
Manche sind nun alt genug, sich an Franz Josef Strauß zu erinnern, und wissen, dass in Sachen Freunderlbewirtschaftung die alte Bundesrepublik nicht besser war. Heute werden immerhin auch Frauen begünstigt, sofern sie Tochter-von-jemand sind: Andrea Tandler, Tochter des früheren bayerischen Finanzministers Gerold Tandler (CSU), hat mit rund 50 Millionen Euro in der Masken-Sache einen ordentlichen Schnitt gemacht.
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Für Beobachterinnen stellt sich angesichts des Fortgangs der Maskenaffäre eine vertraute Frage: Wie viel Moral sollte ich zur Beurteilung der Sachlage anwenden? Linke haben gelernt, dass Moral bei der Beschreibung ungerechter Verhältnisse oft genug eher im Wege steht als zu helfen. Wer den Kapitalismus beschreiben will, hält sich besser nicht mit Benimmfragen auf, sondern übt die kühle Analyse. Es sind eher Konservative, die zum Beispiel Umverteilungsforderungen gern mit der Beschwörung moralischer Werte abwehren.
Doch ist etwa im Kampf ums eigene Selbstverständnis, den die Trump-GegnerInnen in den USA führen – „Trump: Wie konnte das passieren?“ –, die Moral als Kategorie zurückgekehrt. Wie kann es sein, dass halb Amerika Trump nicht moralisch abstoßend findet?, fragte kürzlich The Atlantic, und antwortete mit einem Moralphilosophen, der erklärt: Wenn Individualismus Ziel und Zweck einer Gesellschaft ist, muss sich niemand wundern, dass das blanke „Ich will“ zur herrschenden Norm wird – und Donald Trump zum Vorbild.
Entsprechend verspotten rechte Kulturkämpfer die alte Geschichte von der gemeinsam geteilten Welt samt Rücksicht und Gegenseitigkeit und alldem auch als „Moralismus“. Ein kluger Politikwissenschaftler beschrieb die Masche in der Frankfurter Rundschau jüngst als „Moralismuskeule“: Der Moralismusvorwurf soll jede Forderung nach Klimaschutz, Gleichberechtigung, Verantwortungsübernahme usw. entmächtigen, nennt sie hysterisch und vielleicht sogar boshaft.
Die Apfelsinenkiste ist aber offen, und es sieht darin nicht gut aus. Korruption stinkt. Moral gehört in die Politik, und womöglich wird es Zeit, moralische Urteile wieder zu pflegen und etwas ernster zu nehmen.
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