Sicherheitskonferenz-Chef über Ukraine: „Auf Putin ist kein Verlass“
Christoph Heusgen leitet die am Freitag beginnende Münchner Sicherheitskonferenz. Und fordert vorab die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine.
taz: Herr Heusgen, Sie waren 12 Jahre lang Angela Merkels außenpolitischer Berater. Welche Fehler hat Deutschland in der Russlandpolitik gemacht?
Christoph Heusgen: Ich scheue mich, das Wort Fehler zu benutzen. Man muss den größeren Zusammenhang sehen. Unser Verhältnis zu Russland war geprägt durch den Zweiten Weltkrieg. Deutschland war verantwortlich für den Tod von 20 Millionen Menschen auf dem Territorium der Sowjetunion. Und wir waren dankbar gegenüber Gorbatschow, der die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat. Schuld und Dankbarkeit waren der Hintergrund vieler Entscheidungen.
Der 67-Jährige war von 2005 bis 2017 außenpolitischer Berater von der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und danach deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen (UN). Derzeit leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz. Gerade erschien sein neues Buch „Führung und Verantwortung – Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt“ im Siedler Verlag.
Sie und Merkel waren also blind aus historischem Bewusstsein?
Nicht blind, aber wir waren beeinflusst von historischem Bewusstsein. Unser Fehler war, die dramatische Zäsur 2012, den zweiten Amtsantritt Putins als Präsident, unterschätzt zu haben. Putin war nach 2012 ein anderer. Die Opposition wurde kujoniert, NGOs wurden verboten, die Medienfreiheit eingeschränkt. Das war Putins Antwort auf die Demonstrationen in Russland und die Arabellion, die gezeigt hatte, dass Regierungen gestürzt werden können. Von dort scheint zum Überfall auf die Ukraine am 24. Februar im Nachhinein eine gerade Linie zu führen. Aber auch da muss man Corona und die Tatsache, dass Putin zwei Jahre keinen Gesprächspartner außerhalb Russlands hatte, in Rechnung stellen.
Schuld und Sühne klingen nobel. Es ging doch um Geschäfte und billiges Gas.
Das war die gleiche Logik. Die Ostpolitik von Willy Brandt ging einher mit verbesserten Wirtschaftsbeziehungen und dem Erdgasröhrengeschäft, an das später Nord Stream anknüpfte. Das Mantra hieß „Wandel durch Handel“. Das war Teil der Versöhnungspolitik.
Hätte Deutschland diesen Krieg verhindern können?
Schwer zu sagen. Wir sind mit Putin immer wieder zu Lösungen gekommen, siehe die Minsker Abkommen. Da ist es Hollande und Merkel gelungen, den Vormarsch der russischen Truppen im Donbass aufzuhalten. Ich frage mich, ob es ohne Corona möglich gewesen wäre, Putin klarzumachen, welche Folgen ein Angriff auf die Ukraine hat. Der Krieg ist für Russland ja kein Erfolg, er wirft Russland ökonomisch um Jahrzehnte zurück.
2008 wollten die USA die Ukraine in die Nato aufnehmen. Merkel hat das verhindert. War das ein Fehler?
Die Aufnahme Georgiens und der Ukraine war 2008 auch in der US-Regierung hoch umstritten. Die Ukraine war 2008 nicht bereit für eine Aufnahme in die Nato. Der damalige Präsident Juschtschenko hatte sich mit seiner Premierministerin Timoschenko total überworfen. Umfragen zeigten, dass über die Hälfte der Ukrainer gegen den Beitritt war. Deshalb kam ein Nato-Beitritt aus unserer Sicht damals nicht infrage.
Damals war es falsch, aber heute wäre es richtig?
Nein, solange die Ukraine im Krieg mit Russland ist, ist eine Aufnahme in die Nato ausgeschlossen. Das würde automatisch zu einem Krieg der Nato gegen Russland führen. Bundeskanzler Scholz hat dies zu Recht ausgeschlossen. Aber die Frage der Nato-Mitgliedschaft wird sich stellen, wenn es zu einem Waffenstillstand und zu einem Friedensvertrag kommt. Die Ukraine wird zu Recht darauf hinweisen, dass Russland sich nicht an das Budapester Memorandum 1994 gehalten hat, nicht an den ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrag, nicht an das Minsker Abkommen. Die Vereinbarungen mit Russland waren das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben waren. Auf Putin ist kein Verlass. Deswegen wird Kiew Sicherheitsgarantien verlangen.
Und das bedeutet?
Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: die Nato-Aufnahme. Zweitens: Sicherheitsgarantien einzelner Nato-Staaten. Drittens: Die Ukraine derart mit Waffen hochzurüsten, dass jeder weitere Angriff sehr riskant wäre.
Und die USA sind der zentrale Spieler?
Ja. Die Ukraine wird keinen Waffenstillstand unterschreiben ohne Teilnahme der USA. Berlin tut militärisch viel für Kiew – liefert aber nur ein Zehntel von dem, was die USA liefern. Ohne sie gibt es keine glaubwürdige Sicherheitsgarantie gegenüber Russland.
Ist überhaupt vorstellbar, dass Putin eine De-facto- oder gar De-jure-Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato akzeptieren würde?
Derzeit nicht. Ich finde es richtig, dass Scholz mit Putin telefoniert. Putins Botschaften sind aber unverändert. Er erkennt die Ukraine als Staat nicht an und will eine demilitarisierte Ukraine. Das ist für die Ukraine unakzeptabel. Die besteht zu Recht auf die Wiederherstellung der territorialen Integrität ihres Landes.
Gibt es Chancen für Verhandlungen?
Es gibt 15 Millionen Vertriebene und Zehntausende von Toten. Angesichts des unermesslichen menschlichen Leids sollte man nichts unversucht lassen. Friedensverhandlungen wird es aber erst geben können, wenn Putin verstanden hat, dass er sein Kriegsziel, die Unterwerfung der Ukraine, nicht erreichen kann. Und wenn sich Kiew sagt: Weitere Gebiete zurückzuerobern, kostet zu viele Opfer. Das sind die beiden Voraussetzungen.
Das kann noch sehr lange dauern.
Ja, wir sollten aber auch sehen, dass zwischen Moskau und Kiew auch etwas funktioniert. Beide Parteien haben sich auf einen Gefangenenaustausch verständigt und in der Türkei mit dem UN-Generalsekretär auf die Getreidelieferungen geeinigt. Man kann hoffen, dass auch kleinere Einigungen auf einen regionalen humanitären Waffenstillstand möglich sein werden. Aber Friedensverhandlungen halte ich derzeit für unrealistisch.
Der brasilianische Präsident Lula hat Verhandlungen mit China und Brasilien vorgeschlagen. Kann das ein Weg sein?
Brasilien und China sind im Brics-Bündnis mit Russland liiert. Indien hat sich im Sicherheitsrat bei der Verurteilung Russlands enthalten. Der russische Außenminister Lawrow wurde warmherzig in Südafrika empfangen, auch ein Teil von Brics. Die Brics-Länder sind in gewissem Sinne parteiisch. Bei Verhandlungen müsste daher auch mindestens ein Nato-Staat dabei sein.
Putin versucht sich im Globalen Süden als antiwestlicher Antiimperialist zu inszenieren. Hat der Westen dieses Phänomen ausreichend begriffen?
Diese Frage ist wichtig. In Europa ist klar, wer Täter, wer Opfer ist. Ich habe aber als deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen gesehen, dass viele auf der Welt anders denken. Es gab schon vor dem Krieg Russlands einen harten Wettbewerb der Narrative. Viele setzen sich für die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die regelbasierte Ordnung ein. Andere pochen auf eine nationale Souveränität, der alles andere, auch die Menschenrechte untergeordnet werden. Viele stellen den Ukrainekrieg als Verlängerung des Konflikts zwischen Ost und West dar und nehmen eine neutrale Haltung ein. Hier ist es wichtig, dass wir dagegenhalten. Es geht nicht um die Fortsetzung des Ost-West-Konflikts, sondern um einen massiven Anschlag auf die internationale regelbasierte Ordnung. Deutschland muss sich als viertstärkste Wirtschaftsnation der Welt mit hoher Glaubwürdigkeit viel stärker im Globalen Süden für unser Narrativ einsetzen – die regelbasierte Ordnung, gebaut auf der UN-Charta. Bundeskanzler Scholz hat in Argentinien und Brasilien merken müssen, dass wir in der Defensive sind. Deutschland muss sich viel stärker im Globalen Süden engagieren.
Gehört dazu nicht mehr Selbstkritik des Westens? In Ihrem Buch „Führung und Verantwortung“ widmen Sie Fehlern des Westens, wie dem Irakkrieg der USA, nur eine Seite …
Dann haben Sie das Buch nur halb gelesen. Ich zeige durchaus, dass der Westen gegen die von ihm selbst propagierte regelbasierte Ordnung regelmäßig verstoßen hat. Ich kritisiere, dass die USA unter Trump beim Umzug ihrer Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem oder bei der Anerkennung der israelischen Souveränität über die Golanhöhen internationales Recht verletzt haben.
Welche Rolle soll Deutschland künftig im Ukraine-Konflikt spielen?
Weiterhin die Ukraine humanitär und wirtschaftlich unterstützen und ihr die Waffen liefern, die sie braucht, um sich zu verteidigen und russisch besetzte Gebiete zurückzuerobern. Erst dann wird ein Waffenstillstand möglich sein. Gerade Deutschland sollte Kiew keine Ziele vorschreiben, sondern unterstützen und in enger Abstimmung mit den Partnern dem geschundenen Land zur Seite stehen.
Am Anfang des Krieges hat die Ukraine eine Flugverbotszone gefordert. Das hat die Nato abgelehnt. Sich den Wünschen der Ukraine zu unterwerfen, kann also hochriskant sein …
Die Flugverbotszone hätten die Ukrainer nicht selbst durchsetzen können, sondern nur mithilfe der Nato. Wenn ein Nato-Tornado oder Eurofighter ein russisches Flugzeug abschießt, wären wir damit Kriegspartei geworden. Das war völlig ausgeschlossen. Etwas anderes ist die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine. Die halte ich für völkerrechtlich unproblematisch, weil sie keine direkte Involvierung der Nato in den Krieg bedeutet.
Verschwimmt bei Kampfflugzeugen nicht die Grenze zur Kriegsteilnahme? Westliche Jets wie die F-16 müssen ja auf Nato-Gebiet gewartet werden und von dort zum Kampfeinsatz in die Ukraine geflogen werden.
Das passiert mit Panzern und Panzerhaubitzen doch auch. Die werden in der Slowakei repariert. Völkerrechtlich können wir der Ukraine Kriegsmaterial liefern, ohne Kriegspartei zu werden.
Kampfflugzeuge, die im Westen gewartet werden und auf russischem Gebiet operieren, können aus russischer Perspektive als Bedrohung gesehen werden …
Kampfflugzeuge würden nur unter der gleichen Bedingung geliefert werden wie Panzer – dass die Ukraine sie nicht auf russischem Territorium einsetzt. Und Selenski hält sich an Abmachungen.
Das Pentagon hat im März 2022 Nein zu Kampfflugzeugen gesagt, weil das Eskalationsrisiko zu groß sei. Das wäre für die Russen eine rote Linie.
So hat die Bundesregierung auch lange im Hinblick auf Kampfpanzer argumentiert. Herr Peskow, Putins Sprecher, hat bei jeder Lieferung von Waffen erklärt, damit sei nun die rote Linie überschritten. Wir sollten unsere Unterstützung der Ukraine nicht von den künstlich gesetzten roten Linien des Kreml abhängig machen, sondern einen anderen Fokus wählen. Wir müssen verhindern, dass Putin militärisch erfolgreich ist. Denn seine Pläne enden nicht mit diesem Krieg. In der Republik Moldau gibt es verständliche Ängste vor einem russischen Angriff. Sprechen Sie mit den politischen Repräsentanten der baltischen Staaten. Die fürchten, dass ihnen ein Angriff droht, wenn Putin in der Ukraine nicht gestoppt wird. Deshalb müssen wir alles Nötige tun, um Putins Erfolg in der Ukraine zu verhindern.
Halten Sie einen Angriff auf Nato-Staaten im Baltikum für eine historisch verständliche Angst – oder für ein realistisches Szenario?
Ich habe schon im Herbst 2021 für Waffenlieferungen an Kiew plädiert und mich bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022 mit Frau Baerbock darüber gestritten. Sie war total dagegen. Am 20. Februar 2022 war ich der Meinung, dass Putin angesichts der Geschlossenheit des Westens die Ukraine nicht überfallen wird. Das war ein Irrtum. Ich maße mir nun nicht an, der estnischen Premierministerin Kaja Kallas zu erzählen, dass sie nur von Ängsten aus der Vergangenheit geleitet sei. Das sollten wir uns nicht anmaßen. Nicht nachdem die meisten Deutschen im Februar 2022 mit ihren Szenarien falsch lagen. Und nicht nachdem Deutschland den Rat der Polen, Esten, Litauer, Letten und Amerikaner bei Nord Stream in den Wind geschlagen hat. Da verbietet sich jede Besserwisserei.
Sie haben anfangs gesagt, dass der deutsche Blick auf Russland durch Schuldbewusstsein getrübt war. Wiederholt sich das nun gegenüber osteuropäischen Ländern – und Deutschland überkompensiert ein Schuldgefühl?
Nein! Deutschland hat 2022 seit Kriegsbeginn im Februar für 25 Milliarden Euro Öl und Gas in Russland gekauft! Von Überkompensieren kann keine Rede sein. Wir sind immer noch dabei abzubauen, was wir falsch gemacht haben.
Haben Sie deshalb Lawrow nicht zur Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen?
2022 wurden die Russen eingeladen – und sind nicht gekommen. Wir haben uns diese Entscheidung nun nicht leicht gemacht. Die Münchner Sicherheitskonferenz bietet allen ein Forum, die den friedlichen Dialog suchen. Ich kenne Lawrow gut genug, um zu wissen, was möglich ist. Wir würden zur Bühne reiner russischer Propaganda. Das ist nicht unsere Aufgabe. Es gibt derzeit keinerlei Ansätze von Verhandlungsbereitschaft in Moskau.
Schauen Sie sich die Gegendemos an?
Es sei jedem überlassen, an Demos teilzunehmen und seine Meinung kundzutun, auch das unterscheidet uns von Russland. Aber ich fürchte, mein Terminplan während der Konferenz hat keine Lücken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“