Rekrutierung im Krieg gegen Russland: Von der Straße weg
Viele ukrainische Männer wollen sich nicht als Soldaten einziehen lassen. Auf Telegram-Kanälen wird vor Razzien der Rekrutierungsbehörden gewarnt.
Ein ganz normaler Morgen in der nordwestukrainischen Stadt Luzk: Autofahrer stehen im Stau, aber nicht wegen Kontrollpunkten, wie sie in den ersten Kriegstagen an Kreuzungen entstanden waren. Stattdessen müssen sich Fahrer und Passagiere den Razzien der ukrainischen Militärverwaltungsbehörde (TZK) unterziehen. Die Autoinsassen haben ihre Dokumente vorzulegen: Sind sie registriert, wurden ihre Daten aktualisiert, sind sie zur Fahndung ausgeschrieben oder sind sie aktuell vom Dienst an der Waffe befreit?
Laut dem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Alexander Litwinenko, wurden von Kriegsbeginn bis Ende Oktober diesen Jahres mehr als eine Millionen Personen in der Ukraine eingezogen. Doch im dritten Jahr des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Zahl derjenigen zurückgegangen, die bereit sind, in die Schützengräben zu gehen.
Dennoch erfordert der Krieg immer neue Mobilisierungen. „Unsere Einheit kämpft seit sechs Monaten ohne Rotation“, berichtete etwa Swjatoslaw Lesjuk, stellvertretender Bataillonskommandeur der 42. Brigade, bereits im Sommer 2023. „Seit mehr als einem Jahr gibt es an der Front eine Situation, in der zwei oder drei Personen auf einer Position sind, wo eigentlich acht sein sollten“ – so argumentiert der Abgeordnete und Militärangehörige Roman Kostenko für radikale Maßnahmen wie die Herabsetzung des Wehrpflichtalters. Jetzt wird von der Straße weg rekrutiert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was in Luzk passiert, geschieht auch in vielen anderen Städten. Das Militär prüft gemeinsam mit der Polizei die Dokumente der Passanten. Für diejenigen, die gesetzliche Anforderungen missachtet haben, endet die Verkehrskontrolle meist damit, dass sie ärztlich untersucht und auf den Truppenübungsplatz geschickt werden. Nach zwei Monaten militärischer Ausbildung geht der zukünftige Kämpfer zu seiner Einheit. „Wenn du in meine Gegend kommst, dann gehen wir einen Kaffee trinken. Aber es ist besser, zu mir nach Hause zu kommen, dort ist es sicherer“ – solche Gespräche kommen in Luzk derzeit häufiger vor. Manche Männer wagen es nicht mehr, das Haus zu verlassen, um nicht der TZK in die Hände zu fallen.
500.000 zusätzliche Soldaten hatte Walerij Saluschnyj, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, bereits Anfang 2024 gefordert. Doch woher die personellen Ressourcen kommen sollten, blieb den ganzen Winter über unklar. So lange debattierten Parlament und Regierung über das Mobilisierungsreformgesetz. Keine Partei wollte die Verantwortung für die unpopuläre Entscheidung übernehmen. Indes drohte die Wirtschaft zusammenzubrechen. Im April unterzeichnete Selenskyj schließlich das Gesetz, am 18. Mai trat es in Kraft.
Manche kündigen fiktiv den Job und erhalten ihren Lohn illegal
Die wichtigste Änderung: Männer sind seitdem verpflichtet, ihre Daten beim TZK aktualisieren zu lassen, per Smartphone oder vor Ort. Meistens ging es dabei um den Wohnort. Mit Beginn des Winters haben mehr als fünf Millionen Männer ihre Daten aktualisieren lassen.
Studenten und Lehrer, Eltern von mindestens drei Kindern, Angehörige von Toten, Gefangenen und Vermissten sowie junge Männer unter 25 Jahren werden derzeit nicht mehr eingezogen. Auch Männer, die in Versorgungs-, Transport- und Verteidigungsunternehmen arbeiten, können sich vom Dienst befreien lassen. Die Befreiung vom Dienst in der Armee läuft ebenfalls über das Smartphone. Alle anderen Registrierten erhalten seit September Post von der Armee: ihre Vorladung.
Wer keinen offiziellen Grund hat, sich nicht mobilisieren zu lassen, sucht vielfach nach illegalen Wegen. Die Festnahme von Männern an der Grenze zur Republik Moldau, zu Rumänien, Ungarn und der Slowakei ist an der Tagesordnung. Weit verbreitet ist es, über den Fluss Theiß in der Region Transkarpatien zu schwimmen. Grenzschutzbeamte schätzen, dass bei der Überquerung im Zeitraum 2023 bis 2024 in der Theiß mehr als 100 Männer starben. Das sind nur die identifizierten Fälle.
Zudem haben nicht alle Männer ihre Daten aktualisieren lassen. Viele tauchten unter. Manchmal kündigen sie sogar fiktiv den Job und erhalten ihren Lohn illegal. Auf Telegram-Kanälen wird vor Razzien von TZK-Vertretern gewarnt. Die Betreiber der Kanäle sammeln von ihren Abonnenten Informationen und geben bekannt, wo gerade Patrouillen anwesend sind. Sicherheitsdienste berichten von Zeit zu Zeit über die Festnahme von Betreibern. Sie werfen ihnen vor, das legitime Vorgehen der Militärverwaltungsbehörde in Kriegszeiten zu behindern.
Massenhaft werden in den ukrainischen sozialen Netzwerken Videos aufgerufen, die Passanten bei der Überprüfung von Militärdokumenten aufgenommen hatten. Häufig zeigen sie, wie Männer, die sich den Behörden widersetzen, in Militärfahrzeuge gezwungen werden. Im Sommer kam es in der gesamten Ukraine zu Protesten gegen die Mobilisierung. Das Militär reagierte darauf empfindlich. „Danken Sie der Armee, dass Sie in Ihrer Stadt ukrainische Militäruniformen und nicht die russische Trikolore sehen“, erklärte David Dyachok, ein Soldat der 10. Gebirgssturmbrigade.
Es fehlen Ausbilder für zukünftige Kämpfer
Eine andere Art, der Armee zu entgehen, ist Bestechung. Die Korruption bei der Feststellung der Untauglichkeit hat Präsident Selenskyj so erzürnt, dass er eine Überarbeitung des Systems angeordnet hat. Medizinische und soziale Expertenkommissionen planen, das System zu digitalisieren, um Subjektivität bei der Arbeit möglichst klein zu halten.
Es ist nicht nur die unmittelbare Angst vor dem Tod, die Ukrainer von der Mobilisierung abhält. Hinzu kommt die Ungewissheit der Arbeitsbedingungen, eine mangelnde Ausbildung sowie die Wahrscheinlichkeit, einen „schlechten“ Kommandeur zu bekommen. Das sind die Ergebnisse einer Umfrage des ukrainischen Marktforschungsinstituts Info Sapiens vom vergangenen Mai.
Demnach scheint ein schlechter Vorgesetzter die Männer mehr zu verängstigen als eine mögliche Gefangenschaft, wohl auch, weil die Anzahl der Verluste nicht in die Bewertung der Kommandeure eingeht. „Es ist ungerecht, wenn ein Offizier dafür bestraft wird, dass ein Soldat einen Tag zu spät aus dem Urlaub kommt, ihm aber nichts passiert, wenn seine Truppe während eines Angriffs übermäßige Verluste erlitten hat“, sagt ein Unteroffizier der 100. Brigade.
Und während immer mehr Männer mobilisiert werden, fehlen Ausbilder für zukünftige Kämpfer. „Unsere neuen Rekruten lernen in einer Woche an der Front oft mehr als in einem Monat Ausbildung. Manchmal besteht das ganze Training darin, fünf Schüsse abzufeuern. Ausnahme ist, wenn Rekruten in Europa ausgebildet werden, dort gibt es gute Fachleute“, sagt Kommandeur Swjatoslaw Lesjuk.
Darüber hinaus haben die Menschen Angst vor der Mobilisierung, weil sie nicht wissen, welche Position ihnen zugewiesen wird und welche Arbeit sie leisten werden. Die Soldaten, die die Ukraine bereits verteidigen, raten denjenigen, die nicht im Militärdienst sind, sich mit der Armee vertraut zu machen. „Wir müssen verstehen, dass der Krieg weitergeht“, sagt Lesjuk. Um zu gewinnen, muss sich jeder Bürger dieses Staates anstrengen.“
Seit mehr als einem Jahr debattiert das Parlament auch über ein Gesetz zur Befreiung vom Armeedienst aus wirtschaftlichen Gründen: So kann der Truppe entgehen, wer hohe Steuern zahlt. Allerdings haben sich die Abgeordneten noch nicht auf feste Beträge geeinigt und auch nicht darauf, wie angebracht es überhaupt ist, dass Besserverdiener sich legal vom Dienst freikaufen können.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts