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Provokation auf dem TempelbergSpiel mit dem Feuer

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

Kaum eine Woche im Amt, besucht Israels radikaler Minister Ben-Gvir den umstrittenen Tempelberg. Eine Eskalation nimmt er damit billigend in Kauf.

Besuchte den Tempelberg: Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für Nationale Sicherheit Foto: Maya Alleruzzo/ap

W er noch Hoffnung hatte, dass sich der radikale Siedlerführer Itamar Ben-Gvir als Minister zahmer geben würde, musste enttäuscht werden. Der wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung mehrfach verurteilte neue Chef im Ministerium für nationale Sicherheit setzt auf Eskalation: Nichts konnte diese Haltung klarer demonstrieren als der Besuch auf dem Tempelberg knapp eine Woche nach Amtsantritt.

Natürlich ist sich Ben-Gvir der Brisanz des Tempelbergs bewusst. Im September 2000 entzündete sich die zweite Intifada, als der damalige Oppositionsführers Ariel Scharon in Begleitung eines riesigen Sicherheitsaufgebots den Tempelberg besuchte. Und auch für den Krieg im Mai 2020 spielte der Tempelberg eine zentrale Rolle. Schon damals war Ben-Gvir an der Eskalation beteiligt.

Regierungschef Benjamin Netanjahu gilt nun als der Moderate dieser Regierung. Dass er Ben-Gvir nicht von seinem Besuch abgehalten hat, zeigt, wie wenig Netanjahu seine ultrarechten Koalitionspartner derzeit bremsen kann oder will. In den wenigen Tagen seit der Vereidigung der Regierung hat der ohnehin rechte Regierungsdiskurs einen weiteren großen Sprung nach weit rechts außen gemacht.

Die erste Klausel der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung schreibt das „exklusive Recht auf alle Teile des Landes“ fest – inklusive der Gebiete „Judäa und Samaria“. Judäa und Samaria sind die von der israelischen Rechten verwendeten biblischen Bezeichnungen für das palästinensische West­jordan­land.

Bahn frei für die Annexion

Am vergangenen Freitag forderte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof auf, sich mit dem rechtlichen Status der Besatzung zu befassen. Netanjahu kommentierte unmittelbar, dass das jüdische Volk kein „Besatzer in seinem eigenen Land“ sein kann. Selbst für ein feigenblattartiges Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung ist damit kein Platz mehr. Diskursiv wäre der Weg für eine Annexion des Westjordanlandes oder wenigstens Teilen vom palästinensischen Gebiet geebnet.

Die aktuelle Lage ist denkbar fragil. Das vergangene Jahr 2022 war das blutigste seit der zweiten Intifada. Die palästinensische Autonomiebehörde steht möglicherweise kurz vor dem Zusammenbruch. Dazu kommen Sofortmaßnahmen der neuen Regierung, wie die angekündigte Zwangsräumung von über 1.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Massafer Yatta, südlich von Hebron im Westjordanland.

Sorge, dass eine unkontrollierte Horde von Rechtsextremen mit ihrer Expansionspolitik die Lunte zu einem Pulverfass anzünden, ist durchaus angebracht.

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Judith Poppe
Auslandsredakteurin
Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.
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15 Kommentare

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  • Lange habe auch ich die Beschlüsse der UN für richtungweisend gehalten. Doch seit Russen, Amerikaner und jetzt auch Chinesen jeweils Veto einlegen, wenn etwas gegen die eigenen Interessen geht, lassen zweifeln. In Foren bin ich darauf hingewiesen worden, dass muslimische Länder eine Mehrheit in der Generalversammlung haben. Bei Entscheidungen, die Israel betreffen stimmt man jeweils gemeinsam ab. Es geht nicht um Gerechtigkeit oder Ausgleich, sondern aus Prinzip gegen Israel.

    Was hat Itamar Ben-Gvir nun schreckliches getan? Er war auf dem Tempelberg. Zudem war er dort zu einer Zeit, wo allgemein gestattet ist. Doch die merkwürdige jordanischen Waqf-Stiftung macht eine Zusatzbedingung. Nur Muslime dürfen dort beten. Das widerspricht zwar klar der Religionsfreiheit gemäß UN, soll aber zeigen, wer das Sagen hat. Wäre Ben-Gvir der einzige, den das stört, wäre das eine große Provokation. Doch er ist nicht gewählt worden obwohl man damit rechnen konnte, sondern offensichtliche gerade deshalb. Vielleicht ist es an der Zeit, die Regeln der Waqf zu überdenken.

    • @mdarge:

      Der Tempelberg ist Privatgelände des Waqf. So wie jede Kirche Privatgelände ihrer Religionsgemeinschaft ist und jede Synagoge auch. Ich denke, dass die Kirchengemeinden auch etwas dagegen haben, wenn in ihren Kirchen muslimische oder jüdische Gebete gesprochen werden. Noch dazu, wenn dies mit dem Ziel geschieht, der Kirchengemeinde ihr Eigentum abzusprechen.

      • @Francesco:

        Der Tempelberg wird nur von der Waqf verwaltet. Falls diese Organisation das nicht zufriedenstellend ausführt, kann auch eine andere Organisation damit betraut werden.



        Zudem handelt es sich um Gelände unter offenem Himmel. Tatsächlich können im Rahmen des interreligiösen Dialogs auch muslimische oder jüdische Gebete in Kirchen gesprochen werden.



        Man kann Gebete auf dem Tempelberg verbieten. Doch praktikabel ist das nicht. Solch ein Verbot provoziert Gewalt, die Konfrontation wird unnötig befeuert. Früher gab es das nicht.

    • @mdarge:

      Wiki- Wissen: de.wikipedia.org/w...r_Bev%C3%B6lkerung







      48 Staaten der UN haben eine muslimische Bevölkerungsmehrheit (über 50%) und 7 weitere noch einen muslimischen Bevölkerungsanteil zw. 30 u unter 50% (darunter Äthiopien u Nordmazedonien). In der ersten Gruppe sind auch nicht alle antiisraelisch sondern arbeiten bestens mit Israel zusammen (Aserbaidschan z.B, von den Golfstaaten u Marokko kann man das auch nicht pauschal behaupten, von Albanien u den Ex-Sowjetrepubliken sicher auch nicht) und der Kosovo und Palästina - sind noch nicht einmal vollgültige Mitglieder sondern sind nur Beobachter u in Unterorganisationen vertreten. Also müssen wir noch eine ganze Reihe abziehen. 193 Staaten sind UN- Mitglied, da können Sie sich ja selbst ausrechnen, das es eine muslimische und damit angeblich vorprogrammierte antiisraelische Mehrheit von der Sie sprechen nicht gibt. Vetos gibt es nur im Sicherheitsrat und gerade dort haben Amerika oder Europa fast immer zu Gunsten der Interessen Israels Veto eingelegt.

      Ein rechtsradikaler wie Ben Gvir, als der er auch in Israel betrachtet wurde und wird, der erklärtermaßen am liebsten den Tempel an Stelle der Moscheen wieder errichten möchte, einem Unterstützer auch des bewaffneten Siedlerterrors, der vorbestraft ist aufgrund eigener Aktivitäten in diesem Bereich, ist kein normaler Gläubiger, der auf den Tempelberg zum beten geht. Und die Waqf genauso wie jeder andere logisch denkende Mensch, kann den Besuch Ben Gvirs nur als Provokation auffassen. Für Religionsfreiheit tritt dieser Mann ganz bestimmt nicht ein.

      • @ingrid werner:

        Es geht um keine absolute Mehrheit sondern um eine relative, die tatsächlich immer wieder Entscheidungen durchdrücken konnte. Es lässt jedenfalls an der Neutralität der UN zweifeln.

        Ben Gvir ist vor allem ein Jude, der aus dem arabischen Raum kommt. Seine Familie musste selber fliehen. Vor allem wurde er nie demokratisch sozialisiert. Er verhält sich ganz genauso wie die Araber in seinem Umfeld, nur wird das bei ihm anders gewertet.



        Viele denken, die Osmanen haben die Levante erober, die Osmanen sind wieder gegangen, die Briten haben die Levante erobert, die Briten sind wieder gegangen. Die Juden werden auch wieder gehen. Doch das ist ein Irrtum. Wie Gvir, der aus der Region stammt, haben auch andere dort ihre Wurzeln. Es gibt keinen Ort, wo sie hingehen könnten.

  • Eine Sanktion ist das geeignete Mittel, Verbrechen gegen das Völkerrecht zu ahnden.



    Russland wendet außerhalb seines Staatsgebietes in der Ukraine militärische Gewalt an. Begründen tut dies Russland u.a. damit, dass im Donbas unrecht d.d. Mehrheits-bevölkerung der Ukraine gegenüber russischstämmigen Menschen angetan wurde.



    Die Folge: Sanktionen gegen Russland und internationale Hilfe für den völkerrechtlich verletzten Staat Ukraine.

    Israel verletzt das Völkerecht nicht minder.



    Sanktionen? Fehlanzeige!



    Die Resolution der UNO-Vollversammlung vom Dezember 2022 wonach die Untersuchung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag über Menschenrechtsverletzungen angeordnet wurde, fiel mit 87 zu 24 Stimmen. Gegen die Resolution stimmten u.a. die USA und Deutschland, vertreten d.d. unsere Werte Außenministerin Analena Baerbock.

    Ich befürchte, dass die Regierung B. Netanjahu und somit Israel, egal was es tut, keine Sanktionen unseres Werte-Westen befürchten muss und uns so, zuverlässig der Heuchelei überführen wird. Alles was einen Doppelstandart bei der Anwendung der Menschenrechte und des Völkerrechts anzeigt, ist nichts anderes als Heuchelei über angebliche Werte.

  • Das war keine Dummheit, das war geplante Eskalation!

  • Ich hoffe mit der "unkontrollierte[n] Horde von Rechtsextremen" sind die Menschen gemeint, von denen man sich anscheinend sorgen muss, dass sie wegen des Besuchs eines Hügels anfangen, zu morden. Und nicht die Hügelbesucher selbst.

  • Traurig, traurig zu lesen.

  • Abstimmungs-Kakophonie der EU zur jüngsten UNO-Resolution über Israels Besatzungspolitik

    Zitat: „Sorge, dass eine unkontrollierte Horde von Rechtsextremen mit ihrer Expansionspolitik die Lunte zu einem Pulverfass anzünden, ist durchaus angebracht.“

    Diese Sorge scheint die deutsche Regierung nicht umzutreiben, wie ihr Abstimmungsverhalten zur erwähnten UNO-Resolution nahelegt, die die israelische West-Bank-Politik immerhin eine „Besatzung“ nennt: Zusammen mit einer Minderheit von 26 Staaten, gruppiert um die USA (darunter Großbritannien, Australien, Canada und Italien unter der Post-Faschistin Giorgia Meloni) hat Deutschland, unter gähnendem Schweigen der hiesigen Öffentlichkeit, dagegen gestimmt. Immerhin enthielten sich 53 Staaten, darunter Frankreich (de Gaulle läßt grüßen), Brasilien, Dänemark, Finnland, Japan, die Niederlande, Schweden, die Schweiz und bemerkenswerterweise die Ukraine, (wo man wohl wähnt, der Kreml könnte auf die Idee kommen, sich bei der sakralen Begründung seiner Ansprüche auf die heutige Ukraine auf das groß-israelische Narrativ der rechts-religiösen Bündnispartner Netanjahus zu berufen.) Eine Mehrheit von 87 der an der Abstimmung beteiligten Staaten (darunter Rußland und China) stimmten der Resolution zu. Auffällig ist die Kakophonie der EU in dieser Frage: Im Gegensatz zu Putins Annexionspolitik gegenüber der Ukraine scheint sich diejenige Netanjahus gegenüber Palästinas wohl weniger als Bindemittel zur Demonstration EUropäischen Gestaltungswillens auf der internationalen Bühne zu eignen. Von dem EU-Außenbeauftragten war jedenfalls dazu nichts zu vernehmen, geschweige denn von der Kommissarin. Aber wer weiß: Vielleicht existieren auch hierzu weichenstellende SMS, die die Weltöffentlichkeit dann in 50 Jahren zur Kenntnis nehmen darf.

    Danke jedenfalls an Judith Poppe für diesen Kommentar zu einer bedrohlichen Entwicklung, die in anderen Edel-Medien eher mit spitzen Fingern angefaßt wird aus Angst, sich dieselben daran zu verbrennen.

  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    Es gibt keine Rechtfertigung, auf den bloßen Besuch von wem auch immer mit Gewalt zu reagieren. Das sollte Konsens unter allen zivilisierten Menschen sein.

  • Sehr geehrte Frau Poppe, immerhin nennen Sie und nennt die Taz den Tempelberg noch "Tempelberg" und nicht wie z.B. der britische "Guardian" auch schon "Vorplatz der Al-Aksa-Moschee". Dafür vielen Dank, es wird immer weniger, das heute noch selbstverständlich wäre.



    Auf der anderen Seite erwarten und verlangen wir z.B. in Berlin und Köln von den verantwortlichen Politikern, sich an Brennpunkten der Stadt selbst zu zeigen und dem Abgleiten in völlig gesetzlose Zustände entgegenzutreten. Bei diesem Brennpunkt der Gewalt und der Übergriffe jedoch haben Sie den Status als no-go-zone schon als vollkommen normal akzeptiert und postulieren dessen Gültigkeit selbst für die Regierung und die Verantwortlichen für die innere Sicherheit.

    • @Axel Berger:

      Der Tempelberg trug vor 2000 Jahren einen jüdischen Tempel. Seit fast 1500 Jahren steht dort eine Moschee. Und was israelische Politiker betrifft: Der Tempelberg wurde 1967 von Israel im Rahmen des Sechstagekriegs miltiärisch besetzt. Er gehört völkerrechtlich nicht zu Israel.

    • @Axel Berger:

      Ich denke, man sollte sich schon darauf einigen können, dass die "No-Go"-Regeln für den Tempelberg voe allem der Rücksichtnahme dienen und DIESER Besuch, NICHT der Beruhigung der Gemüter galt. Das rechtfertigt keine gewaltsame Reaktion, aber das unschuldslammige "man wird doch wohl mal..." ist passiv-aggressive Provokation und sonst gar nichts.

      • @Normalo:

        Ich stimme Ihnen zu, muss aber auch feststellen, dass diese Form der passiv-aggressiven Provokation von uns als legitimes Mittel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung betrachtet wird.

        Sprich: Wir haben die klare Erwartungshaltung, dass die provozierte Partei das hinnimmt ohne gewalttätig zu werden. Wenn wir die Palästinenser ernst nehmen (was selbstverständlich sein sollte), dann sollte dies auch hier gelten